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Sherlock Holmes und Tante Emma

Im Einsatz im Handel, bei Versicherungen und in der Wirtschaftsprüfung: Die generative KI schafft Möglichkeiten, Kosten zu sparen und Umsätze zu steigern. Zentral ist dabei, dass sie den Menschen nur dann ersetzt, wenn es um Routinearbeiten geht. Entscheidend für eine erfolgreiche Implementierung ist, dass Mensch und Maschine an den entscheidenden Schnittstellen optimal zusammenarbeiten – und sich bestmöglich ergänzen. Ein Essay von André Boße

Zwar übernimmt die generative KI bestimmte Jobs, aber in der Regel diejenigen, die als Routinearbeiten für menschliche Fachkräfte gelten.

Mit der Anwendung von Large Language Models (LLMs) macht die Künstliche Intelligenz den nächsten Schritt. Die Rede ist an dieser Stelle von generativer KI, die durch die richtigen Prompts vom Menschen in die Lage versetzt wird, eigene Inhalte zu erzeugen, also Texte, Bilder und Sprache. Interessant sind diese Entwicklungen für nahezu alle Bereiche, in denen Wirtschaftswissenschaftler*innen tätig sind. Und, um direkt eine Sorge zu nehmen, auch weiterhin tätig sein werden. Zwar übernimmt die generative KI bestimmte Jobs, aber in der Regel diejenigen, die als Routinearbeiten für menschliche Fachkräfte gelten.

Der Vorteil: Die KI erledigt diese Jobs so schnell und produktiv, dass sich die Menschen im Anschluss strategische Gedanken dazu machen können, wie sich danach Geschäftsprozesse optimieren lassen. Hinzu kommt, dass die generative KI niemals von sich aus tätig wird. Sie braucht den Menschen, damit dieser sie auf die richtige Fährte führt. Auf diese Art ergibt sich ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, im Idealfall finden beide an den Schnittstellen zu einem neuartigen Arbeitsverhältnis: Der Mensch ist der strategisch Denkende, der seine Empathie und sein Gespür für Kund*innen und Mandant*innen mitbringt. Die Maschine unterstützt ihn dabei, in dem sie Daten analysiert und aus diesen Schlussfolgerungen zieht, die den geschäftlichen Horizont erweitern.

Handel: Die Rückkehr von Tante Emma

Denkt man an eine Revolution, hat man das Bild vor Augen, dass sich alles in rasender Geschwindigkeit ändert. Mit Blick auf die Entwicklungen im Handel, angetrieben durch die generative KI, geht Achim Himmelreich, Global Head Consumer Engagement beim Beratungsunternehmen Capgemini, von einer anderen Art des Umsturzes aus: Die generative KI werde den Markt für Konsumgüter „nicht mit einer einzigen großen Lösung revolutionieren, sondern schrittweise mit vielen kleinen“, wird er im Report „Generative KI für den Handel“ von Capgemini zitiert. Anders gesagt: Die generative KI ist nicht einfach plötzlich da – und alle, die im Handel tätig sind, müssen sich danach richten. Es ist eher so, dass die Möglichkeiten der LLMs in beinahe allen Bereichen des Retails für neue Möglichkeiten sorgen.

Foto: AdobeStock/Grafi criver
Foto: AdobeStock/Grafi criver

LLMS: CHATGPT & CO.

Das derzeit bekannteste unter den Large Language Models (LLMs) ist ChatGPT, aktuell läuft die Fassung GPT-4. Dem Entwickler OpenAI war es gelungen, das Modell im November 2022 bereits sehr früh in der Breite einzuführen. Massenweise Nutzer*innen sammelten niedrigschwellige Erfahrungen mit diesem Modell und probierten es aus. Wobei man zu Hause am Rechner in der Regel nur an der Oberfläche dessen kratzt, was dieses LLM zu leisten vermag. LLM-Systeme gibt es aber auch von Google (PaLM 2) oder Meta (Llama 2). Das Fraunhofer Institut, das das Ziel verfolgt, generative KI-Modelle für die Wirtschaft nutzbar zu machen, definiert die LLMs als „leistungsstarke Modelle, die darauf ausgelegt sind, menschliche Sprache zu verstehen und zu generieren. Sie können Text analysieren und verstehen, kohärente Antworten generieren und sprachbezogene Aufgaben ausführen.“

Im Capgemini-Report definieren die Expert*innen ein Feld, in dem die generative KI das Verhältnis zwischen Retailer und Kund*innen neu definieren kann. Im Marketing sei es zum Beispiel möglich, Botschaften ohne großen Mehraufwand zu personalisieren – wobei es hier wichtig ist, „ethische und qualitätsbezogene Aspekte bei der Anwendung von Gen AI zu berücksichtigen“, wie es im Report heißt. Sprich: Die Menschen haben hohe Ansprüche, wenn sie von Handelsunternehmen kontaktiert werden. Marketing im Zeitalter der generativen KI zündet nur dann, wenn die Kund*innen erkennen, dass die Botschaft, die sie erreicht, ihrem Geschmack sowie ihren ethischen Haltungen und sozialen Realitäten entspricht.

Durch ihre Fähigkeit, mit Menschen menschenähnliche Kommunikation durchzuführen (also lösungsorientiert und mit der nötigen kommunikativen Flexibilität ausgestattet), werden LLMs zu einem wirkungsmächtigen Tool im Kundenservice. „Mithilfe von Chatbots ist der Kundenservice rund um die Uhr für Endverbraucher verfügbar“, heißt es im Capgemini- Report. „Auf Fragen und Reklamationen kann schneller und effizienter reagiert werden. Das erleichtert die Interaktion mit dem Kunden und erhöht zugleich langfristig ihre Zufriedenheit.“ Darüber hinaus werde personalisierte Beratung, egal ob als Text, Stimme oder virtueller Avatar, künftig zur Norm. Die Prognose der Retail-Expert*innen von Capgemini: „Tante Emma kommt also zurück – diesmal als künstliche und nicht als menschliche Intelligenz!“ Zudem unterstütze die generative KI dabei, neue Produkte zu entwickeln, wenn die generative KI Verkaufsdaten oder das Verbraucherfeedback analysiert und auf Basis dieser Informationen einen Bedarf formuliert.

Auch für interne Prozesse besitze die generative KI laut Report interessante Potenziale, gerade, was die Steigerung der Effizienz betreffe. „Der Einsatz von generativer KI ermöglicht das Vorhersagen des Bedarfs an Lagerbeständen, die Planung der Lieferwege und Senkung der Lagerkosten“, heißt es. Insgesamt könne die generative KI „den Handel an vielen Stellen effizienter machen – von der Werbung bis zum Checkout“, wird Ingrid Hochwind, Vice President Retail bei Capgemini, im Report zitiert. Wobei es eben nicht die Technik selbst ist, die diese Entwicklungen vorantreibt, sondern der ideenreiche Einsatz dieser Technik durch die Menschen. Hochwild: „Die Innovation wird schon bald nicht mehr an der generativen KI selbst liegen, sondern smart darauf aufsetzen.“

Versicherungen: Ungewissheit planbar machen

Versicherungen sind immer der Versuch, die Ungewissheit zu managen. Kann die generative KI dabei helfen, dieses Paradox aufzulösen? Giovanni Zuchelli, Global Leiter Insurance bei Bearing Point, schreibt in einem Meinungsbeitrag auf der Homepage der Management- und Technologieberatung zumindest von einer „planbaren Ungewissheit“. Dass es sich hierbei eben nicht um ein Paradoxon handelt, wissen Vielfahrer* innen bei der Deutschen Bahn, die genau das täglich machen – mit der Ungewissheit zu planen.

Was ist mit den Risiken, wenn generative KI im sensiblen Umfeld von Versicherungen angewendet wird?

Zurück zu den Versicherungen, in seinem Beitrag lässt Zuchelli nicht unerwähnt, dass der Einsatz von Systemen mit generativer KI auch neue Unsicherheiten ins Geschäft bringt, „etwa hinsichtlich neuer regulatorischer Herausforderungen und ethischer Aspekte im Zusammenhang mit der Datennutzung“. Nun könnte man denken, dass das Auferlegen neuer Ungewissheiten der Kernidee des Versicherungsgeschäfts widerspricht, indem es ja darum geht, das Risiko zu managen, sprich: Unsicherheiten zu verhindern. Doch glaubt der Experte: „Tatsächlich ist das Potenzial der generativen KI, interne Prozesse und Kundenerfahrungen drastisch zu verbessern, so groß, dass Versicherungen sich schlicht nicht leisten können, sie zu ignorieren.“

Foto: AdobeStock/Icons-Studio
Foto: AdobeStock/Icons-Studio

STUDIE: NUTZUNGSGRAD VON KI IN DEUTSCHEN UNTERNEHMEN

Ist KI weiterhin ein Zukunftsthema – oder längst in den Unternehmen angekommen? Das Beratungsunternehmen KPMG befragte für die 2024 veröffentlichte, internationale Studie „AI in financial reporting and audit: Navigating the new era“ 300 Unternehmen aus Deutschland. Die Befragung ergab, dass sich gegenwärtig rund „46 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland in der praktischen Planung und Testphase und 42 Prozent bereits in der aktiven Nutzung“ befinden. Für die kommenden Jahre planten drei von vier der befragten Unternehmen, in die aktive Nutzung überzugehen.

Dieses Potenzial besteht erstens darin, Kosten zu sparen und die Mitarbeitenden bestmöglich einzusetzen. So könne die generative KI „wiederkehrende, gleichförmige Aufgaben übernehmen und so die Beschäftigten entlasten – die sich in der Folge stärker auf wertschöpfende Tätigkeiten konzentrieren können“. Ein weiterer Punkt: „Chat-Bots sparen Zeit und Aufwand für die Recherche von dokumentiertem Wissen und helfen so, Effizienz und Produktivität zu verbessern.“

Doch die generative KI kann noch mehr: Giovanni Zuchelli glaubt an das Potenzial, mit ihrer Hilfe Umsätze zu steigern. „Mit generativer KI können Versicherungen ihre Produkte und Dienstleistungen stärker personalisieren und sich deutlich von ihren Wettbewerbern abheben“, formuliert er es in seinem Beitrag. Gleichzeitig verringerten eine verbesserte Risikobewertung sowie eine präzisere Betrugserkennung die Unsicherheiten. Und was ist mit den Risiken, wenn generative KI im sensiblen Umfeld von Versicherungen angewendet wird? Der Experte von Bearing Point plädiert dafür, proaktiv an das Thema heranzugehen. Um die Unsicherheiten in Bezug auf Governance, geistiges Eigentum, Datenschutz und Informationsqualität zu managen, sei es wichtig, dass Versicherungsunternehmen eine klare Strategie definieren: „Sie müssen die Schlüsselbereiche identifizieren, in denen generative KI einen Mehrwert schaffen kann, dann ihre Anstrengungen und Ressourcen auf diese Bereiche konzentrieren und die Auswirkungen messen.“

Wirtschaftsprüfung: Mit dem Gespür von Sherlock Holmes

Für Sebastian Stöckle, Partner beim Wirtschaftsprüfungsund Beratungsunternehmen KPMG, steht eines fest: Die generative KI wird die Arbeit von Wirtschaftsprüfer*innen verändern. Aber nicht nur das: Sie werde diese auch verbessern. Sein Optimismus ist deshalb angebracht, weil er mit den Erwartungen der Unternehmen korrespondiert, für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften im Einsatz sind. In einem Meinungsbeitrag auf der Homepage verweist Sebastian Stöckle auf eine KPMG-Studie, für die weltweit 1800 Führungskr.fte befragt wurden. Das zentrale Ergebnis der Befragung fasst der Experte so zusammen: „Mehr als die Hälfte der Unternehmen erhofft sich von der KI einen hohen oder sehr hohen Nutzen für die Finanzberichterstattung.“

Foto: AdobeStock/ Slowlifetrader
Foto: AdobeStock/ Slowlifetrader

Die Chancen stehen gut, dass die Wirtschaftsprüfer*innen diese Hoffnungen erfüllen können. So besitzt die Technologie die Fähigkeit, Prozesse zu automatisieren und die Datenanalyse deutlich zu beschleunigen. Die generative KI geht nun noch einen Schritt weiter, indem sie auf Basis des gigantischen Datenwissens, mit dem sie trainiert worden ist, eigene Inhalte erstellt. „So kann sie uns helfen, in verschiedensten Situationen schneller auf unser digitales Wissen über Buchhaltungs- und Prüfungsstandards, unsere eigenen Prüfungsmethoden und -vorgaben sowie globales digitalisiertes Wissen zuzugreifen“, schreibt Sebastian Stöckle.

Darüber hinaus erhöhe generative KI die Prüfungssicherheit, in der Funktion als Superspürnase mit Sherlock Holmes-Qualitäten: Die Technik helfe dabei, „dolose Handlungen zu identifizieren, also Betrug, Unterschlagung oder Diebstahl von Vermögenswerten ebenso wie die Manipulation von Finanzdaten.“ Auch erkenne die KI sehr frühzeitig verdächtige Daten sowie erste Anzeichen von Betrug oder Korruption in Texten und E-Mails. Selbst bei der Identifizierung von Deepfakes werde die Technologie eine große Hilfe sein, also von gefälschten Nachrichten oder Videos, die betrügerische Transaktionen auslösen sollen.

Zudem gebe es das Potenzial, dass die generative KI aktiv Transaktionen oder Buchungen überwacht und Alarm schlägt, sobald sie Abweichungen erkennt. „Tatsächlich wünschen sich die von uns befragten Unternehmen sogar, dass ihre Wirtschaftsprüfer*innen prädiktive Analysen priorisieren“, nimmt Sebastian Stöckle Bezug auf die Studie. „Viele Unternehmen können sich sogar vorstellen, dass bei ihnen das ganze Jahr über Echtzeit-Audits durchgeführt werden.“

Was die generative KI auch in Zukunft nicht mitbringen wird, sind Individualität, Empathie und ein persönlicher Erfahrungsschatz.

Was die Wirtschaftsprüfer*innen selbst in dieser neuen KIWelt zu tun haben? Sebastian Stöckle geht nicht von Langeweile oder Jobverlust aus, im Gegenteil: „Die KI kann in der Wirtschaftsprüfung nur sinnvoll unterstützen, wenn wir als Prüfer*innen genau verstehen, wie sie funktioniert und auch ihre Ergebnisse zu jeder Zeit nachvollziehen können.“ Schließlich seien es die Menschen, die die Verantwortung übernehmen, „dass die KI ethische Grundsätze einhält und diskriminierungsfrei sowie rechtmäßig vorgeht“. Das wiederum setze voraus, dass die Wirtschaftsprüfer*innen ihr Wissen stetig erweitern: „Nicht zuletzt leiten wir mit unseren Kenntnissen in den Bereichen Rechnungslegung, Wirtschaftsprüfung und Industrie auch das Training der KI.“ Darüber hinaus seien die Prüfer*innen in einem zentralen Punkt unersetzbar: im zwischenmenschlichen Umgang. Stöckle: „Als Prüfer*innen ist es unsere Aufgabe, Vertrauen zu schaffen.“ Was die generative KI auch in Zukunft nicht mitbringen wird, sind Individualität, Empathie und ein persönlicher Erfahrungsschatz.

GENERATIVE KI IN DER STEUERBERATUNG

Foto: AdobeStock/Angger Dwi
Foto: AdobeStock/Angger Dwi

Heiko Preisser, Diplom-Ökonom und Steuerberater, macht in einem Meinungsbeitrag auf der Homepage der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner zurecht darauf aufmerksam, dass nicht jede technische Entwicklung, die als große Innovation verkauft wird, tatsächlich Auswirkungen auf das operative Geschäft seiner Branche habe. So sei die Blockchain vor wenigen Jahren ein riesiges Thema gewesen, habe aber „außer in Kryptowährungen bislang keine prominenten Anwendungsgebiete gefunden“, schreibt Preisser. Im Fall der generativen KI ist seine Prognose optimistischer, schließlich zeige sich bereits heute ein erkennbarer Nutzen, „beispielsweise beim Erstellen von grammatikalisch fehlerfreien Anschreiben oder beim Zusammenfassen oder Verschlagworten von Gerichtsurteilen“. Seine Prognose: Der Bedarf an generativer KI wird weiterwachsen, „da sie dem Fachkräftemangel in den Steuerabteilungen bzw. in der Steuerberatung entgegenwirkt.“

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