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Gamification: Die Spiele sind eröffnet

Hierarchien waren einst dafür da, gute Entscheidungen zu treffen Das funktioniert heute nicht mehr. Zu komplex ist die Welt, zu diffus die Zukunft. Doch es gibt ein Mittel dagegen: Gamer wissen, dass man selbst komplizierte Probleme spielerisch lösen kann. BWLer setzen sich mit der Spieltheorie auseinander. Hier setzt das Playful Business an: Gamification-Methoden schaffen Know-how und erhöhen die Innovationskraft Dabei haben die Berufseinsteiger einen großen Vorteil: Sie spielen längst. Von André Boße

Dürfen wir vorstellen: Mr. Science, ein x-beliebiger junger Forscher im Bayer-Konzern. Wissbegierig ist dieser Mr. Science, und zwar nicht nur, was seinen Forschungsbereich betrifft. Die Figur möchte das gesamte Unternehmen kennenlernen, auch die Abteilungen, mit denen er unmittelbar nur selten etwas zu tun hat. Denn Mr. Science weiß: Ein Unternehmen ist ein komplexes Gebilde, in dem ein Zahnrad ins andere greift.

Also macht sich unser Forscher auf die Reise durch den Konzern und schaut vor allem in Abteilungen vorbei, in denen nicht geforscht wird, sondern andere wichtige Tätigkeiten übernommen werden. Da sind zum Beispiel die Bereiche Finanzen sowie internes und externes Accounting. Oder auch das Controlling und die Abteilung mit den Steuerexperten. Von den Spezialisten dort erhält Mr. Science verständliche Antworten auf seine Fragen und versucht, das neue Wissen sogleich anzuwenden. Schließlich will er unterwegs viele „Bayer Coins“ sammeln, um damit am Ende einen prächtigen virtuellen Unternehmenssitz zu errichten.

Gamification auch beim Controlling

„Module X“ nennt sich dieses Spiel, das Bayer seit einigen Jahren einsetzt. Es ist Teil der Gamification-Strategie des Konzerns, der in diesem Bereich eine Pionier-Rolle einnimmt: Das Unternehmensplanspiel „Bayer International Management Simulation (BIMS)“ wird schon seit mehr als einem Vierteljahr-hundert angeboten. „Mittlerweile setzen wir derartig gestaltete Trainings und Anwendungen zu unterschiedlichen Zwecken in zahlreichen Bereichen und Unternehmensfunktionen ein“, sagt Sebastian Kolberg, bei Bayer globaler Leiter des Bereichs Learning and Training.

So spielen junge Führungskräfte im Laufe des Coachings regelmäßig Computer- oder Brettplanspiele: „Die Mitarbeiter müssen in realistischen Spielszenarien Entscheidungen treffen, dadurch lernen sie spielerisch, welche Auswirkungen diese Entscheidungen haben“, erklärt Kolberg. Noch relativ neu ist, dass diese spielerischen Ansätze auch in Bereichen wie Finanzen, Controlling oder Compliance eingesetzt werden – also dort, wo es eher um harte Zahlen als um Strategien geht. Zahlen lassen bei der täglichen Arbeit nur selten Spielraum.

Mindful Leadership

Wenn Führung nicht mehr in festen Hierarchien funktioniert, wird sie durchaus anstrengender, weil sie sich im Idealfall immer wieder selbst auf den Prüfstand stellt. Leadership so zu leben, verlangt nach viel Selbstreflexion und Achtsamkeit für die Organisation des Netzwerks. Feind dieser Art von „Mindful Leadership“ ist jedoch der Stress: Jede Form von Druck führt dazu, dass wieder Hierarchien ins Spiel kommen und Emotionen die Vorherrschaft gewinnen. Die „Mindful Leadership Konferenz“ erforscht Wege und Methoden, um sich als Führungskraft die Achtsamkeit zu bewahren. Seit 2015 findet die Konferenz jährlich statt, in diesem Jahr stand sie unter dem Motto „Das Unerwartete managen“. Der Kongress 2019 wird gerade geplant und findet im März in Witten statt.
www.mindful-leadership-konferenz.de

Das ist aber nicht hinderlich für die Gamification-Idee. Sie zielt eher darauf ab, die verschiedenen Bereiche des Konzerns für alle Mitarbeiter greif- und erlebbar zu machen. „Mit unserem Ansatz wollen wir eine Verknüpfung zum Konzern und der täglichen Arbeit schaffen“, sagt Rainer Schiller, der im Bereich Learning and Training für die Trainings der Bayer Finance Academy verantwortlich ist. „Gleichzeitig setzen wir Anreize, sich in motivierender Lernumgebung mit den Inhalten zu beschäftigen und schnell Lernfortschritte zu erreichen.“
Zielgruppe für „Module X“ sind dabei also nicht nur junge Forscher, die die wirtschaftswissenschaftlichen Bereiche kennen lernen wollen: „Das Spiel eignet sich auch für Mitarbeiter, die ihren Wissensstand auffrischen wollen“, so Rainer Schiller. „Und gerade für Einsteiger bietet es sehr gute Möglichkeiten, sich mit unseren finanzwirtschaftlichen Begrifflichkeiten und wirtschaftlichen Zusammenhängen vertraut zu machen.“

Innovationsreichtum

Das Bayer-Beispiel zeigt: Viele Konzerne bauen ihre Gamification-Ansätze weiter aus. Games als Werkzeuge zur Fort- und Weiterbildung, zum Lernen und Ausprobieren einzusetzen, war kein kurzlebiger Trend. Das Konzept hat sich in vielen Unternehmen als wichtige Methode etabliert, um auf die Komplexität und Schnelllebigkeit der Geschäftswelt von heute zu reagieren. Entwickelt haben sich viele Gamification-Ansätze aus der Spieltheorie, wie sie auch im BWL-Studium behandelt wird. Für Tim Bruysten, Professor für Gamedesign an der Media design Hochschule Düsseldorf, sind Spieltheorie und Gamification zwei Seiten derselben Medaille. „Spieltheorie zeigt Szenarien, Möglichkeiten und Entscheidungen auf. Gamification eint die Mannschaft hinter den gemeinsamen Zielen“, so Bruysten.

Playful Business ist daher keine Management-Spielerei, sondern in vielen Fällen die beste Antwort, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden. Denn die Realitäten ändern sich heute so schnell, dass nicht mehr dichte Regelwerke den größten Lernerfolg bringen, sondern spielerische Ansätze, die Freiheit lassen. Ein Effekt dabei: Der Blick nach vorne macht wieder mehr Spaß. „Klar, die Zukunft ist ungewiss und immer weniger plan- und absehbar“, sagt der Trendforscher Harry Gatterer, „aber es bringt nichts, beim sehr wichtigen Thema der eigenen Zukunft oder der Zukunft des Unternehmens immer nur den Ernst in den Vordergrund zu stellen. Es darf auch mal etwas spielerisch zugehen.“

Freispiel im „Future Room“

Gatterer ist Geschäftsführer des Zukunftsinstituts, gerade ist sein Buch „Future Room“ erschienen, eine Anleitung zur Selbstdiagnose für Unternehmen, die sprachlich und optisch nicht wie ein klassisches Management-Werk daherkommt, sondern wie eine Spielanleitung. Die Aussage ist klar: Es soll Spaß machen, sich in diesem „Future Room“ aufzuhalten, wobei sich Gatterer damit einen virtuellen Freiraum vorstellt, in dem Manager und Führungskräfte die Zukunft in den Köpfen durchspielen können. „Vor allem die junge Generation spielt ja heute täglich und digital“, sagt er. „Durch Online- oder Smartphone-Games trainieren sie die Modi der Spiele täglich.“ Und es sei sinnvoll, diese Methoden auch in der Arbeitswelt aufzunehmen.

Doch hinter Playful Business steckt weitaus mehr, als nur den jungen Mitarbeitern und ihren Interessen entgegenzukommen. Für Harry Gatterer sind spielerische Ansätze der beste Weg, um die richtigen Entscheidungen für die Zukunft eines Unternehmens zu treffen. „Playfulness führt dazu, dass man lernt, mit höherer Komplexität umzugehen“, sagt er. Das ist wie bei einem guten Brettspiel: Eine bestimmte Spielsituation legt einen bestimmten Spielzug nahe, wobei dieser Zug damit nicht zur Regel wird – es kann gut sein, dass der Spieler beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation ganz anders reagiert.

Buchtipp: Transformation durch Gamification

Cover GamificationIn seinem Essential zeigt Unternehmer und Branchenkenner der Games-, Medien- und Entertainmentindustrie Dr. Lutz Anderie, inwieweit sich Unternehmensführung und Management durch Gamification, Digitalisierung und Industrie 4.0 verändern. Er geht auf die aktuellen Branchenentwicklungen im Bereich der Virtual, Augmented und Mixed Reality ein und analysiert, welchen Einfluss die Spieleindustrie auf andere Branchen nimmt.
Lutz Anderie: Gamification, Digitalisierung und Industrie 4.0. Transformation und Disruption verstehen und erfolgreich managen. In: Essentials. Gabler 2018. 9,99 Euro. (Amazon-Werbelink)

„Beim Spielen erscheint uns diese Optionenvielfalt normal, im Business treffen wir dagegen häufig noch auf feste Hierarchien“, sagt er. Diese starren Strukturen seien einst entstanden, um die Komplexität der damaligen Zukunft zu bändigen. „Es zeigt sich aber, dass diese Hierarchien immer seltener zu guten Entscheidungen für die Zukunft von heute führen. Daher müssen diese Strukturen geändert, also aufgelockert werden.“ Genau das gelingt dem Playful Business nach Meinung von Gatterer: „Es ist nicht nur befreiend, spielerischer zu handeln. Sondern es entspricht auch der Realität einer sich ständig ändernden Umwelt, in der heute die Unternehmen agieren müssen.“

Netzwerk schlägt Hierarchie

Mit dem Buch „Netzwerk schlägt Hierarchie“ bringen die beiden Autorinnen Christiane Brandes-Visbeck und Ines Gensinger diese Entwicklung auf den Punkt. „Wir sind nicht gegen Hierarchie“, sagt Gensinger, bei Microsoft Deutschland Head of Business and Consumer Communications. „Doch so mancher Großkonzern zeigt, dass Hierarchien nicht unbedingt zu schnellen Entscheidungen führen müssen.“ Außerdem werde in einem Netzwerk ja auch nicht alles basisdemokratisch entschieden. „Zwar ist es wichtig, vielfältige Meinungen einzubeziehen – doch auch in Netzwerken gibt es Knotenpunkte, an denen Entscheidungen getroffen werden und Verantwortlichkeiten bestehen.“ Wobei es für Führungskräfte wichtig ist, zu erkennen, dass sich die Bedeutung des Begriffs Wissen sehr geändert hat: „Bisher galt“, so Gensinger, „Wissen ist Macht. In der digitalisierten Welt jedoch teilen wir unser Wissen, lernen von Best Cases und miteinander im Team.“

Im Netzwerk spielt man also zusammen. Jemanden vom Wissen auszuschließen, bringt das ganze Team ins Hintertreffen. „In so einer Umgebung müssen Chefs ihren Wert anders als über ihren Zugang zu Wissen definieren“, sagt Ines Gensinger – und findet Analogien aus der Welt des Kochens: „Aus meiner Sicht ist nicht die Führungskraft der Chefkoch, sondern das gesamte Team. Die Führungs- und Unternehmenskultur ist dann das Rezept. Sie bildet den Rahmen, in dem die Teammitglieder zusammenarbeiten.“Dabei wisse jeder Hobbykoch, dass das exakte Befolgen des Rezepts genau genommen kein Kochen ist. „Die wahre Kunst ist es, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und die Zutaten so einzusetzen, dass sie voll zur Geltung kommen – und etwas Neues entsteht.“

Die Vielfalt der Zutaten sei wichtig – noch bedeutender sei aber ihr Zusammenspiel. Gensinger: „Für den Manager lautet die größte Herausforderung, ein gut funktionierendes, diverses Team zusammenzustellen und Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen jedes einzelne Mitglied das volle Potenzial entfalten kann.“ Das bedeute Verantwortung abzugeben – und damit immer auch Kontrolle. Doch die Microsoft-Top-Managerin ist fest davon überzeugt, dass nur so echte Innovation entstehen könne. „Und Innovationsreichtum ist das Gegenteil von Machtverlust.“

Data Scientist werden

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