Was tun, wenn kriegerische Konflikte, Pandemie und die Mammutaufgaben Digitalisierung und Klimaschutz die Unternehmenspläne auf den Kopf stellen? In dieser Situation ist strategische Beratung gefragt wie nie. Wobei die Mandanten im Krisenmodus überzeugt werden müssen, warum sich diese lohnt. Zeit für ein Consulting, das Wachstum neu definiert: als perfekten Mix aus Purpose, Klimaschutz, Resilienz und Zahlen. Ein Essay von André Boße
Was die Consulting-Branche auf Wachstumskurs bringt, sind komplexe Marktumfelder, die trotz ihrer Herausforderungen den Unternehmen eine Reihe von Perspektiven bieten, ihrerseits zu wachsen. In solchen ökonomischen Szenarien entwickeln die Mandanten nicht nur einen hohen Beratungsbedarf, sie sind zudem willens und in der Lage, in die Beratung zu investieren. Wovon wiederum Consultants profitieren, wenn sich die mit Hilfe der Beratung erzielten Erfolge als nachhaltig erweisen: Wachstum baut auf Wachstum auf – so lautet das Erfolgsrezept der Branche.
Aufholeffekt nach Pandemie gestartet
Ob ein solches positives Beratungs-Umfeld im Jahr 2022 gegeben ist? Niemand kann das sagen. Die Sache ist höchstkompliziert, die Unsicherheiten zahlreich. Was feststeht: Nach der Coronakrise mit ihren erheblichen Einbrüchen ist die „Consultingbranche im Geschäftsjahr 2021 wieder gut durchgestartet“, wie es in der Pressemeldung des Branchenreports „Facts & Figures zum Beratungsmarkt 2022“ des Bundesverbands Deutscher Unternehmensberaters (BDU) heißt. Der Gesamtumsatz der beratenden Unternehmen stieg von 34,6 Milliarden Euro (2020) auf 38,1 Milliarden Euro; die Verluste des Corona-Pandemie-Jahres 2020 konnten dank eines „Nachhol-Effekts“ sowie eines „Marktwachstums von plus 10,3 Prozent aufgeholt werden“, wie es in der Mitteilung heißt. Zum Vergleich: Der Umsatz der gesamten deutschen Gastronomie-Branche in Deutschland war 2020 im Zuge der Pandemie auf knapp 45 Milliarden Euro gesunken. Was nun, im Ausklang der Pandemie, vielen Unternehmen und Beratungen gutgetan hätte, wäre eine Phase der relativen Ruhe. Doch die VUKA-Welt verhindert das – und zwar mit einer Wucht, die sich niemand hätte ausmalen können. Wenn man so will, beweist das VUKA-Prinzip gerade, welche Dynamik in ihm steckt.
VUKA, das steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, also für Doppeldeutigkeit. Diese vier Begriffe beschreiben sehr umfassend das, was der globalisierten Welt mit ihren Gesellschaften und Ökonomien gerade passiert.
VUKA-Welt zeigt, was in ihr steckt
VUKA, das steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, also für Doppeldeutigkeit. Diese vier Begriffe beschreiben sehr umfassend das, was der globalisierten Welt mit ihren Gesellschaften und Ökonomien gerade passiert. Selbst ohne „Sonderereignisse“ wie Pandemien oder dem russischen Angriffskrieg mit seinen entsetzlichen Folgen für die Menschen in der Ukraine würde das VUKA-Prinzip die globale Wirtschaft vor enorme Herausforderungen stellen. Diese zwei „Sonderereignisse“ potenzieren die Dynamik noch einmal, wobei wohl weitere solcher nicht vorhersehbaren Ereignisse folgen werden – darunter auch wieder welche, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können oder wollen. Das VUKA-Prinzip steht stellvertretend dafür, dass zu jeder Zeit etwas komplett Unvorhergesehenes geschehen kann – mit kaum fassbaren Auswirkungen auf Lieferketten, Auftragslagen, Businessbeziehungen, Geschäftsmodelle. Wobei es sich bei einem solchen Ereignis auch um ein Schiff handeln kann, dass quer im Suezkanal steckt und durch dieses Manöver den Puls des Welthandels für einige Wochen komplett aus dem Rhythmus bringt.
Strategische Beratung: ist gefragt, aber ein Investment
In der Theorie sorgen die Auswüchse des VUKA-Prinzips dafür, dass der Rat der Consultants mehr denn je gefragt ist. Die Unternehmen stehen heute vor der Aufgabe, sich für die Folgen dieser ungeahnten Dynamiken zu wappnen. Konkret: Für dramatisch steigende Energiekosten. Für Rohstoff- und Materialknappheit. Für wegbrechende Märkte. Für nicht mehr reibungslos funktionierende Lieferketten. Selbst das Szenario, dass für die Produktion in bestimmten Branchen die grundlegenden Dinge fehlen – nämlich Energie, Rohstoffe und Produkte der Zulieferer – ist nicht auszuschließen. Und das in einem Umfeld, in dem die digitale Transformation weiter an Bedeutung gewinnt sowie mit dem Klimaschutz eine Mammutaufgabe auf der Agenda steht, die danach verlangt, etablierte Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle komplett umzudenken. Was wäre in einem solchen Umfeld wichtiger als eine strategische Beratung? Ein Consulting, das den Unternehmen die Wendigkeit und Resilienz gibt, die nötig ist, um diese Situationen nicht nur zu meistern, sondern um an ihnen zu wachsen – und damit eine neue Art von resilientem Wachstum zu generieren?
Wer braucht Beratung?
Laut der aktuellen Studie „Managementberatung in Deutschland“ des Markt-Analyse- Unternehmens Lünendonk, erschienen Ende 2021, stammen die mit Abstand wichtigsten Kunden für Managementberatungsunternehmen aus zwei Branchen: der Automobilindustrie und den Banken. „Beide Branchen haben mit starkem Digitalisierungs-, Transformations- und Regulierungsdruck zu kämpfen“, heißt es in der Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie. Die Automobilbranche hat zudem besonders mit den Folgen des Krieges in der Ukraine zu tun. „Wir unterstützen ausdrücklich die Sanktionen der EU“, wird Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), in einem Statement zitiert. Betroffen davon seien aber auch die deutschen Unternehmen der Branche. „Wir erwarten empfindliche Effekte auf Liefer- und Logistikketten mit Rückwirkungen auf Fabriken in Deutschland und Europa aber auch andernorts. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Sanktionen nicht kurzfristig angelegt sind“, wird Müller zitiert. Zudem fällt für die Branche der Absatzmarkt Russland weg. Auch sei absehbar, dass es zu wwProblemen bei der Energieversorgung kommen werde.
Jedoch führt das VUKA-Prinzip eben auch dazu, dass für die Unternehmen Umsatzprognosen schwerer zu treffen und Investitions-Strategien schwerer zu entscheiden sind. Verschärft wird diese Unsicherheit noch dadurch, dass durch die Sanktionen im Zuge des Krieges in der Ukraine für nicht wenige Unternehmen der deutschen Wirtschaft Märkte und Lieferanten wegfallen. „Wir sehen im Moment, dass Kundenbranchen zum Teil schon sehr betroffen sind, beispielsweise Energieversorger, IT-Servicedienstleister, Holzproduzenten, Landwirtschaft oder Fahrzeugbau“, heißt es in der Pressemeldung zu der „Facts & Figures“-Studie des BDU. Und die Beratungsgesellschaft KPMG formuliert in einem Fachbeitrag auf der Unternehmenshomepage mit dem Titel „Orientierung und Empfehlungen für den Umgang mit dem Russland- Ukraine-Krieg“: „Unsere Kundenrückmeldungen zeigen, dass nahezu alle Unternehmen auf die ein oder andere Weise vom Ukraine-Krieg betroffen sind. Viele haben vor Kriegsbeginn direkt Waren mit Russland und der Ukraine ausgetauscht – oder über Lieferanten von dort bezogen. Entsprechend stark treiben die Unternehmen der Umsatzverlust mit Russland und die Preissteigerungen im Einkauf um. Übertroffen werden diese Herausforderungen noch vom komplexen Sanktions- Management.“
Ganzheitliche Beratung ist gewünscht
An dieser Stelle wird das „A“ von VUKA besonders deutlich, also die Ambiguität: Neue Absatzmärke zu erschließen oder alternative Lieferketten aufzubauen, ist im Grunde eine Kernkompetenz des strategischen Consultings, also der Königsdisziplin der Unternehmensberatung. Da durch die Realität der Sanktionen, Knappheiten und wegen der steigenden Preise den Unternehmen jedoch schon jetzt Umsätze entgehen, wird sich in naher Zukunft zeigen, ob sie als Mandanten bereit sind, in diese Beratungsleistungen zu investieren. Die Consultants stehen hier vor der Aufgabe, den Unternehmen klarzumachen, warum es sich gerade jetzt lohnt, auf Beratung zu setzen. Erhalten sie das Mandat, müssen sie wiederum rasch beweisen, dass das Consulting die gewinnbringenden Versprechen einhält. Nur, wer in der Beratung in dieser – gefühlt – „permanenten Sondersituation“ nicht nach Schema F vorgeht, sondern speziell mit den Kunden an Lösungen arbeitet, wird in diesem komplexen Umfeld erfolgreich sein.
Wie sich das Consulting in der VUKA-Welt positionieren muss? Ganzheitlich. Die BDU-Zahlen zeigen, dass 80 Prozent der befragten Führungskräfte in den Unternehmen der Aussage zustimmen, „dass das Profil eines erfolgreichen Consultants zukünftig ein Mix aus Digitalisierungsskills, Industriewissen und sozialen und kommunikativen Kompetenzen sein wird.“ Bleibt damit kein Platz mehr für Ethik und Nachhaltigkeit? Doch! „71 Prozent stimmen der Aussage stark zu, dass Bewerbende und eigene Mitarbeiter eine Erwartungshaltung in Bezug auf Haltung und verantwortlichem Handeln haben, denen Consulting-Unternehmen gerecht werden müssen“, heißt es im BDU-Papier. Sprich: Die Berater*innen müssen sich intensiv mit Purpose und Nachhaltigkeitsstrategien ihrer Mandanten beschäftigen.
Wandel im Miteinander
Die Beratungsgesellschaft Accenture spricht in diesem Zusammenhang von der „Nachhaltigkeits-DNA“ von Unternehmen, die diese dazu befähige, höhere Gewinne als ihre Wettbewerber zu erzielen und eine langfristige positive Ver-änderung bewirke, wie es in der deutschen Zusammenfassung der englischsprachigen Studie „Shaping the Sustainable Organizsation“ heißt, die Accenture Ende 2021 in Kollaboration mit dem Weltwirtschaftsforum erstellt hat. Im Kern geht es darum, die Nachhaltigkeit des Handelns nicht länger danach zu bewerten, ob oberflächlich die Erwartungen der Menschen, die für das Unternehmen tätig sind, erfüllt werden. Diese Erwartungen seien nämlich mittlerweile so stark gestiegen, dass „grundlegende Verhaltensänderungen notwendig sind“, wie es in der deutschen Fassung der Studie heißt. Zu diesem Wandel komme es, wenn es gelingt, „ihn im gesamten Unternehmen zu verankern“.
Perspektive Unternehmensberatung 2022
Das Handbuch „Perspektive Unternehmensberatung 2022: Case Studies, Branchenüberblick und Erfahrungsberichte zum Einstieg ins Consulting“ bietet dem Nachwuchs einen ersten Überblick über Themen und Fragen der Beratung. Das Buch beinhaltet eine Reihe von Case- Studies und widmet sich den Fragen: Welche Beratungsbereiche und Player gibt es? Mit welchen Einstiegsgehältern kann man rechnen? Was sollte man bei der Bewerbung beachten? Wie bereitet man sich am besten auf das Auswahlverfahren und die Case Studies vor? Das Buch ist sowohl in gedruckter Form als auch als E-Book erhältlich. Perspektive Unternehmensberatung 2022: Case Studies, Branchenüberblick und Erfahrungsberichte zum Einstieg ins Consulting. e-fellows.net 2021, 19,90 Euro
Erster Schritt auf diesem Weg: Ein Unternehmen muss gegen den Irrglauben ankämpfen, Gewinn und Purpose stünden im Widerspruch zueinander. Wobei immer mehr Unternehmen verstehen, „dass nachhaltiges Wirtschaften nicht im Widerspruch zu finanziellem Erfolg stehen muss und auch erst die Grundlage für ‚Purpose‘ bildet“, wie Alexander Holst, Managing Director Accenture Strategy, Sustainability, in der Zusammenfassung zitiert wird. „In der nächsten Dekade geht es daher nun darum, die selbst gesetzten Nachhaltigkeits- Ziele kraftvoll umzusetzen und auch – falls notwendig – nachzujustieren.“ Woran sich diese Nachhaltigkeits-DNA festmachen lässt? Accenture nennt in der englischen Original- Studie drei Kernaspekte: „Human connections“, also starke und auf gemeinsames Handeln basierende Beziehungen zu den Menschen, die zu einer Wertschätzung im gesamten Ökosystem des Unternehmens führen. „Collective intelligence“, also spezielle Entscheidungs-Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Bedürfnisse, Wünsche und Stärken der Menschen zum Tragen kommen. „Accountability at all levels“, sprich eine ganzheitliche Verhaltensänderung auf allen Ebenen, die dazu führt, dass die kommende Generation an Führungskräften diesen Wandel bereits in ihrer Leadership- DNA hat.
Angebliche softe Themen retten harte Bilanz
Dieses Wissen ist die Grundlage dafür, dass sich die Mandanten erstens durch die Phasen der Unsicherheiten navigieren und zweitens einen Wachstumskurs finden, der nachhaltig ist. Gefragt ist eine Strategie, die die VUKA-Welt weder verdrängt noch zu bekämpfen versucht (was sowieso sinnlos wäre), sondern die diese Unsicherheiten einpreist und dennoch weiterhin auf Wachstum bauen kann – jedoch auf ein nachhaltiges Wachstum, das nicht allein auf Umsätze und Gewinne blickt (was in der VUKA-Welt für Enttäuschungen sorgen kann), sondern Aspekte wie Purpose, Klimabilanz und Resilienz genau so ernst nimmt. Diese früher als „soft“ bezeichneten Themen sind es, die ab morgen die „harten“ Bilanzen retten. Aufgabe der Consultants ist es, diesen Wandel zu vermitteln und den Unternehmen bei der Umsetzung zu helfen. Das klingt nach einer echten Herausforderung – und ist daher wie gemacht für eine junge Consultinggeneration, die Lust darauf hat, die neue Richtung einer nachhaltig wachsenden Unternehmenswelt in komplexen ökonomischen Umfeldern mitzubestimmen.
Survivalguide für unseren Planeten
1972 erschütterte ein Buch die Fortschrittsgläubigkeit der Welt: „Die Grenzen des Wachstums“. Der erste Bericht an den Club of Rome gilt seither als die einflussreichste Publikation zur drohenden Überlastung unseres Planeten. Zum 50-jährigen Jubiläum blicken renommierte Wissenschaftler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rockström abermals in die Zukunft – und legen ein Genesungsprogramm für unsere krisengeschüttelte Welt vor. Um den trägen „Tanker Erde“ von seinem zerstörerischen Kurs abzubringen, verbinden sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit innovativen Ideen für eine andere Wirtschaft. Der aktuelle Bericht an den Club of Rome liefert eine politische Gebrauchsanweisung für die wesentlichen Handlungsfelder, in denen mit vergleichbar kleinen Weichenstellungen große Veränderungen erreicht werden können. Club of Rome (Hrsg.): Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“. Oekom 2022. 25,00 Euro.