StartKöpfeTop-InterviewDer Vorausdenker Prof. Dr. Gunter Dueck im Interview

Der Vorausdenker Prof. Dr. Gunter Dueck im Interview

Deutschland ist gut darin, an Optimierungen zu arbeiten. Prof. Dr. Gunter Dueck, langjähriger Chief Technology Officer (CTO) bei IBM, heute Buchautor und Redner, reicht das nicht. Der promotivierte Mathematiker mit BWL-Background fordert von den Unternehmen einen mutigen Blick nach vorn, um die Zukunft zu gestalten statt nur die Gegenwart zu verwalten. Motor des Wandels könnte ausgerechnet die Krise sein: Im Interview nennt Gunter Dueck eine Reihe von Dingen, die aktuell massive Änderungen einleiten. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Gunter Dueck, Jahrgang 1951, studierte Mathematik und Betriebswirtschaft und promovierte 1977 an der Universität Bielefeld in Mathematik. Nach seiner Habilitation war er ab 1981 Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld, 1987 wechselte er an das Wissenschaftliche Zentrum der IBM in Heidelberg. Dort gründete er eine Arbeitsgruppe zur Lösung von industriellen Optimierungsproblemen und war maßgeblich am Aufbau des Data-Warehouse- Service-Geschäftes der IBM Deutschland beteiligt. Er arbeitete an der Strategie und der technologischen Ausrichtung der IBM mit und kümmerte sich um Cultural Change, bis zum August 2011 war er Chief Technology Officer (CTO) der IBM Deutschland. Derzeit ist er freischaffend als Autor, Business-Angel und Speaker tätig.

Herr Dueck, in Ihrem Buch kritisieren Sie, Deutschland baue immer weiter Deiche statt endlich neuer Schiffe. Ist diese Haltung historisch zu erklären?
Vor 50, 60 Jahren gab es Begeisterung ohne Ende! Da tauschten die Bauern begierig alle ihre Pferde gegen Traktoren aus – und niemand hatte ein Problem damit, dass dieser Wandel Arbeitskräfte ohne Ende freisetzte: Damals waren mehr als ein Drittel der Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt, heute sind es nur noch weniger als zwei Prozent. Es war aber so, dass die aufsteigenden Industrien wie die Autobranche oder der Straßenbau die Arbeitssuchenden aufsogen. Was man sich vergegenwärtigen sollte: Wir hatten damals in Deutschland einen Atomminister!

Der erste hieß: Franz-Josef Strauß.
Der Technologieglaube war also ungebrochen, oder eigentlich: zu groß. Dennoch, wir erarbeiteten das deutsche Wirtschaftswunder und waren stolz, überall der Musterschüler und mit „Made in Germany“ die Nummer eins zu sein. Das ist alles weg. Wir begegnen allem Neuen mit Argwohn – wenn auch zum Teil natürlich mit Recht. Wir fangen selbst nichts Neues an, lassen trotz sprudelnder Steuereinnahmen so ziemlich alle unsere Infrastrukturen verrotten, die wir früher vorbildlich aufgebaut haben. Wir sind dabei immer noch seltsam stolz, obwohl wir bei allen Ländervergleichen, vom Bildungsthema bis zum Internet, nur noch mittelmäßig abschneiden. Diesen Stolz scheinen wir einfach behalten zu wollen, ohne dafür etwas zu tun. Man träumt in der Vergangenheit und ignoriert die aufstrebenden Nationen. Es ist wie eine süßliche Müdigkeit. Mahnungen zum Aufbruch werden als unwillige Meckerei aufgenommen, niemand mag Umlernen – trotz des gleichzeitigen Gebrabbels über die Notwendigkeit eines lebenslangen Lernens. Es wäre ja schön, wenn Unternehmen zu lernenden Einheiten werden, aber soweit ist es noch lange nicht. Wir nehmen einfach die Realität nicht wahr, verkennen den Trend. Wenn sich ein Schüler von einer Sechs auf eine Drei hocharbeitet, ein anderer von einer Eins auf die Drei abfällt, dann bekommen beide im Zeugnis eine Drei. Wem aber gehört die Zukunft? Wir wissen es.

An der Börse sagt man: „The trend is your friend.“
Das ist die simple Mathematik des Wandels.

Sie beschreiben, wie das Management in Unternehmen den Menschen quasi „amputiert“, ihn also nicht für voll nimmt – obwohl genau das gewinnbringend wäre. Welche Denkschule steckt hinter diesem Ansatz?
Seit es Computer und besonders Software wie Excel oder SAP gibt, wird in den Unternehmen viel genauer nachgerechnet: Was bringt etwas, was nicht? Parallel haben die Betriebswirte die Ingenieure und Juristen aus den Vorständen gedrängt, wo sie mit ihren gelernten Methoden diese Berechnungen durchführen und dabei feststellten, dass es im Unternehmen ungeheure Ineffizienzen gibt, die man mit Einsparungen im großen Stil beseitigen kann. Das war der Triumph der Effizienzmanager!

Aber diese Manager waren mit ihrer Effizienzstrategie durchaus erfolgreich, oder?
Ja, und die Erfolge ließen sich für eine so lange Zeit ernten, dass man schließlich nur noch Effizienzmanagement betrieb und daher heute – um es sehr pauschal zu sagen – „nichts anderes mehr kann“. Das Unternehmerische ist verloren gegangen, auf Kosten einer ritualisierten Suche nach Effizienz.

Gibt es denn in Ihren Augen überhaupt noch Effizienzpotenzial?
Nein, es gibt nun nichts mehr einzusparen, außer man geht soweit, zu sagen: Wir verdichten die Arbeit bis zum Burnout, fordern unbezahlte Überstunden, weil jeder einen Beitrag leisten muss, steigern die Auslastung durch Leiharbeiter oder wälzen das Unternehmensrisiko auf Mitarbeiter und Staat ab. Was ich damit sagen will: Beim Effizienzmanagement wird heute nicht mehr nur überflüssiges Fett vom Unternehmen abgeschnitten – es blutet schon lange. Man geht ans Eingemachte, lässt die Infrastrukturen, aber auch die Mitarbeiter verlottern, was schließlich dazu führt, dass man den Mitarbeiter nicht mehr ehrt. Er ist nur noch: eine Ressource. In der Folge werden sie nicht genügend weitergebildet, schon gar nicht zukunftsfähig gemacht. Man stellt Leute ein, die genau nur das können, was sie für ihre Arbeit brauchen. Braucht man andere Fähigkeiten, stellt man eben andere Menschen ein.

Die digitale Zukunft erfordert ganz neue Mitarbeiter: selbstständig arbeitende innovative Fachkräfte, die in ganz neuen Branchen tätig sind.

Ist dieser Ansatz noch zeitgemäß?
Nein, denn die digitale Zukunft erfordert ganz neue Mitarbeiter: selbstständig arbeitende innovative Fachkräfte, die in ganz neuen Branchen tätig sind, wo sie an autonom fahrenden Autos arbeiten, an anderen Energieformen, an medizinischen Revolutionen.

Wird die Corona-Krise tatsächlich ein Treiber des Wandels sein, wie einige glauben?
Wir lernen, uns zu behelfen, wenn wir Abstand halten müssen. Viele der neuen Fähigkeiten, die wir dabei entwickeln, legen wir gleich wieder ab, manche aber werden bleiben: die Möglichkeit des Home-Office zum Beispiel, das Zahlen mit Karte oder das Einkaufen im Netz. Aktuell zum Beispiel hat Shopify, ein Portal für Online-Shops, sensationelle Umsatzsteigerungen vermeldet, diese Firma wird heute als Amazon von morgen gesehen. Wer im Home-Office arbeitet, verliert keine eineinhalb Stunden auf dem Weg zum Büro und zurück, fährt weniger Kilometer, was der Umwelt hilft, kann weiter weg vom Büro wohnen, weil man ja nicht mehr so oft dorthin muss, sitzt nicht mehr in so sehr vielen Meetings, benötigt dafür aber eine Infrastruktur zu Hause – was übrigens zur Frage führt, ob der Arbeitgeber die Miete für einen halben Raum bezahlen muss: Hallo Gewerkschaften, das ist euer Thema!

Bei IBM hatten wir diese Entwicklung bereits ab 2000. IBM hat die nötigen Büroflächen dramatisch verkleinert, was, wenn das alle Firmen tun? Was passiert dann mit den Immobilien? Sie sehen, eine vollständige Liste der Veränderungen würde diesen Rahmen sprengen. Was ich sagen will: Da beschleunigt sich etwas. Und indem sich nun viele Leute neu in die Digitalisierung begeben, bemerken sie, wie schlecht und ausbaufähig diese noch ist. Leute wie ich merken das gar nicht so sehr; ich habe noch DOS gekannt, kann reparieren und ohne Schmerzen SAP anwerfen. Durch die vielen Newbies jedoch kommt jetzt Schwung ins Digitale.

Wie kann es gelingen, aus diesem Schwung heraus neue Denkschulen zu etablieren – und zwar schnell, bevor es zu spät ist?
Früher wurde das Dilemma jeweils von der neuen jungen Generation gerettet, die neu dachte und die Alten per „Golden Handshake“ in den Vorruhestand geschickt hat. Diese Umwälzung vollzieht sich ja heute teilweise bei den Start-ups – es kann also funktionieren. Insgesamt ist die Lage aber wohl prekärer: Es gibt zu wenig Geld für einen üppigen Vorruhestand – denken Sie an die Effizienz –, vor allem aber gibt es zu wenige Junge und zu viele Alte. Ihre Frage macht mich traurig, besonders Ihr Zusatz „und zwar schnell“: Wir sind noch nicht einmal so weit, dass das Problem überhaupt angenommen wird. Danach geht es noch darum, ob es wirklich verstanden wird – und erst danach geht es zur Sache.

Das dauert.
Ja. Schneller geht es nur, wenn die Wand wehtut, vor die man gefahren ist. Aber auch dann stellt sich die Frage: Merkt man, warum es weh tat? Schauen Sie nur auf die Klimadiskussion: Wie lange müssen wir wohl noch das wärmste Jahr aller Zeiten erleben, bis etwas geschieht?

Die junge Generation gibt gerade bei diesem Thema dringliche Appelle. Reicht das?
Greta Thunberg bewegt etwas. Sie hat in gewisser Weise eine Art Führungsrolle übernommen. Egal, wie Sie zu ihr stehen: Solche Menschen braucht die Erde, braucht das Land! Deutschlands Wirtschaft hatte solche Leute, die Führung übernommen haben: Gottlieb Daimler, Robert Bosch, Werner Otto. Später dann Ferdinand Piëch, die SAP-Gründer, die Dasslers, Fresenius. Und heute?

Heute schon einen Prozess optimiert?

In seinem neuen Buch bricht Gunter Dueck mit der Vorstellung, beim Menschen 4.0, der im Umfeld der Industrie 4.0 tätig sei, handele es sich um ein kreatives und eigenverantwortliches Wesen: Dueck beschreibt eindringlich, warum Mitarbeiter (besonders in deutschen) Unternehmen weiterhin in einer Management-Routine aus methodischen Ritualen, Prozessoptimierungen und permanenten Kontrollen feststecken. Sein Credo: Wir Menschen sind längst robotisiert – und zwar von Systemen, die weder Ideen noch Neugier fördern. Nicht ohne Gründe verweist Dueck auf einen Song der Band Kraftwerk: „Wir sind die Roboter“. Gunter Dueck: Heute schon einen Prozess optimiert?: Das Management frisst seine Mitarbeiter. Campus 2020. 24,95 Euro.

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