Gen Z vs. Boomer?

23,5 Jahre – so alt sind im Schnitt die Erstabsolvent*innen von Hochschulen und Universitäten in Deutschland. 1999 lag der Schnitt noch bei 29 Jahren. Mittlerweile haben sich Schul- und Studienzeiten aber verkürzt, unter anderem aufgrund von G8 und der Bologna-Reform. Während Berufseinstieger*innen immer jünger sind, werden die Erwerbstätigen in Deutschland im Schnitt immer älter, bereits jetzt ist jede*r vierte Beschäftigte über 55 Jahre alt. Konflikte scheinen vorprogrammiert – doch wenn wir den Blick weg von den Risiken hin zu den Chancen einer altersdiversen Arbeitswelt legen, eröffnen sich ungeahnte Potenziale. In ihrem Gastbeitrag erklärt Dr. Irène Kilubi, wie das generationenübergreifende Miteinander im Arbeitsleben gelingt.

Zur Person

Dr. Irène Kilubi ist promovierte Wirtschaftsingenieurin, Unternehmensberaterin, Multi- Beirätin und Keynote Speakerin. Sie hat die Social-Impact-Initiative „JOINT GENERATIONS“ gegründet, mit der sie den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Generationen nachhaltig verbessern möchte. In ihrem Buch, das Ende Februar 2024 erschienen ist, zeigt sie, wie ein generationsübergreifendes Miteinander in Unternehmen und im sozialen Alltag gelingt.

Es fängt bei der Haltung an

Dass es am Arbeitsplatz von morgen verstärkt zu Konflikten kommt und kommen wird, liegt auf der Hand. Teamstruktur, Arbeitsweise und Dynamik fallen unter Mitarbeitenden zwischen Anfang 30 und Mitte 50 anders aus als unter Mitarbeitenden zwischen U20 und Ü60. Babyboomer mit mehreren Jahrzehnten Erfahrung bringen andere Fähigkeiten mit als Vertreter*innen der Generation Z. Wenn wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass die eigene Arbeitsweise immer die beste sei und wir offen sind für neue Erfahrungen und andere Perspektiven, ist ein großer Schritt gemacht.

Ängste ernst nehmen

Unbewusst teilen Alt und Jung oft eines: Ängste. Die Jungen, weil sie befürchten, von Älteren ausgebremst, bevormundet oder übergangen zu werden. Die Älteren, weil sie befürchten, dass die Jungen sie in puncto Technik links und rechts überholen oder sie in bestimmten Runden nicht mehr mitreden können. Der Groll, der sich in solchen Situationen anstaut, richtet sich dann meist gegen „die Anderen“ – die Jungen, die sich in einem neuen Revier breit machen oder die Alten, die das Feld nicht räumen wollen. Wenn wir uns aber vor Augen führen, dass Jung und Alt diese Ängste teilen, ändert sich unser Blickwinkel – wir erkennen, dass wir im selben Boot sitzen und nur durch gemeinsames Ruderschlagen vorankommen.

Klare Kommunikation

Erinnert sich noch jemand an das Wort „Bildschirmbräune“? Nein? Und doch war es mal Jugendwort des Jahres und meinte die „Blässe von Computerfreaks“. Was ich damit sagen will: Jede Generation kommuniziert in ihrem eigenen Slang und nutzt eigene Kommunikationsformen. Elementarer Erfolgsfaktor für generationenübergreifende Zusammenarbeit ist hier der Perspektivwechsel: Wenn ich mit anderen kommuniziere, muss ich meine Botschaften, das entsprechende Medium und die gewählten Wörter stets mit meinem Gegenüber abgleichen. Während wir an den Universitäten meist „unter uns“ sind, also in Peer-Groups im ähnlichen Alter, ändert sich das mit dem Berufswechsel gravierend. Die eigene Sprache zu reflektieren und anzupassen, ist deshalb ein zentraler Schlüssel zu einem besseren Miteinander der Generationen.
Cover KilubiIrène Kilubi: Du bist mehr als eine Zahl. Warum das Alter keine Rolle spielt. Murmann 2024. 25,00 Euro.

Ambivalenzen überwinden: Der Lernmodus muss ON sein

Wovon hängt es ab, ob eine Karriere gelingt, ob man erfolgreich ist? Nicht von Herkunft, Uni-Abschluss oder Glück, sagen Dorothea Assig und Dorothee Echter. Entscheidend sei vielmehr, was uns interessiert, was wir uns zutrauen und wie wir lernen. Der Lernmodus müsse immer ON sein, im Scheitern und im Erfolg. In ihrem Gastbeitrag erklären die beiden Beraterinnen, wie dies gelingen kann.

Karriere zu machen ist ein anspruchsvoller Prozess, störanfällig, nicht so lässig oder geradlinig, wie von Lifestyle- Karriere-Influencer*innen präsentiert. Orientierung bietet da nur Ihre Ambition: Wie Sie in der Welt stehen und sie verbessern möchten. Doch Achtung – Ihr Unterbewusstsein kann Sie leicht ausbremsen. Dort versammeln sich alle Mythen, die Sie je über Erfolg und Karrieren gehört haben: Du hast doch gar nicht die richtigen Beziehungen; sei doch zufrieden mit dem, was Du hast; du willst doch nicht zu einem dieser Egomanen an der Spitze werden; du wirst keine Zeit mehr haben für Familie und Freunde; willst Du wirklich mit Ellenbogen und Schleimerei nach oben kommen? So werden erfolgreiche Menschen gleichzeitig bewundert und abgewertet, der Weg an die Spitze scheint hart und unmoralisch, der Lohn zugleich märchen- und zweifelhaft.

Karriereambition und innere Karrierewiderstände

Wir nennen das „Karriereambivalenzen“. Sie behindern ganz besonders den Aufstieg von Menschen aus nicht karriereaffinen Familien. In diesen Haushalten gibt es keine Vorbilder, kein implizites Karrierewissen darüber, wie gute und glückliche Karrieren verlaufen, und auch keine expliziten Kenntnisse zum Erfolgs- Habitus. So können Karrieremythen den Aufstieg leicht verhindern. Implizites Karrierewissen ist in Familien vorhanden, in denen Personen eine große Verantwortung oder hohe Positionen innehaben oder auf ein erfülltes Lebenswerk blicken. Hier ist der Karriere- Habitus zuhause: Familien, in denen Gäste und Freund*innen ein- und ausgehen, die ebenfalls erfolgreich sind; die es verstehen, unkompliziert Nähe zu einflussreichen Persönlichkeiten herzustellen; die großartig und zuversichtlich über sich selbst und andere sprechen. Früher nannte man das „bürgerlich“, „Elite“ oder „Oberschicht“. Heute: „bildungsnah“. In karriereaffinen Familien erleben Kinder Karrieren, Aufstieg, Erfolg als etwas konsistent Positives. Explizites Karrierewissen wird weder in Universitäten, Unternehmen, Seminaren, Coachings und nur in sehr wenigen Büchern gelehrt. Wie kommen Sie daran, wenn Sie aus einer karrierefernen Familie stammen? Sie kultivieren Ihren Lernmodus, Sie betrachten erfolgreiche Menschen und ihren Weg neugierig und positiv, Sie unterstellen ihnen genauso positive Motive wie ihre eigenen. Karrierewissen und der Erfolgshabitus sind nicht angeboren, sondern erlernt. Das können Sie auch. Die Welt steht Ihnen offen!
Cover-Eines Tages...Assig + Echter sind Beraterinnen für Topmanager*innen und Organisationen. Ihre Erkenntnisse teilen sie in Vorträgen, Seminaren und Fachzeitschriften. In ihren Büchern haben sie ihr Wissen im Detail konzeptualisiert: • AMBITION. Wie große Karrieren gelingen (Campus Verlag) • FREIHEIT für Manager. Wie Kontrollwahn den Unternehmenserfolg verhindert (Campus Verlag) • Eines Tages werden sie sehen, wie gut ich bin!“ Wie Karrieremythen Ihren Erfolg blockieren und Sie dennoch weiterkommen (Ariston Verlag).

Blickpunkt: Pionierinnen

Sie kämpften in einer männlich dominierten Gesellschaft für ihre Überzeugungen, setzten sich an die Spitze der technischen und künstlerischen Innovation und prägten den Verlauf der Geschichte mit ihren Ideen. In unserer Pionierinnen-Reihe stellen wir Frauen vor, die mit ihrem Mut und ihrem Durchsetzungsvermögen den Weg zur Gleichberechtigung geebnet haben.

Lore Maria Peschel-Gutzeit (1932 – 2023) – Juristin und Kämpferin für Frauenrechte

Als „Wolf im Schafspelz“ habe Lore Peschel-Gutzeit sich selbst bezeichnet, schrieb Alice Schwarzer in ihrem Nachruf auf die Juristin, und kommentiert „Sie war mit ihrem Faible für klassische Kostüme und Schleifenblusen äußerlich eine hanseatische Lady, innerlich aber eine echte Radikale: gerecht, aufrichtig, unerschrocken.“ Peschel-Gutzeit wurde in Hamburg geboren, dort und in Freiburg studierte sie Jura. Nach dem Zweiten Staatsexamen arbeitete sie kurze Zeit als Anwältin, dann wurde sie zur Richterin am Hamburger Landgericht berufen. Über 30 Jahre war sie als Familienrichterin tätig. Sie war Vorsitzende des Juristinnenbundes und die erste Vorsitzende Richterin am Hanseatischen Oberlandesgericht. Ihr gesamtes Leben setzte sie sich für Gleichberechtigung und für Kinderrechte ein, so kämpfte sie für das gemeinsame elterliche Sorgerecht, erarbeitete im Rahmen der „PorNO-Kampagne“ der Zeitschrift Emma einen Gesetzentwurf gegen Pornografie, stritt für die Renten für pflegende Frauen und engagierte sich gegen die Prügelstrafe für Kinder. Als SPD-Mitglied war sie ab 1991 Justizsenatorin, erst in Hamburg, dann in Berlin und schließlich wieder in Hamburg. Das Gesetz, das ihren Namen trägt „Lex Peschel“, initiierte sie bereits 1968: Als alleinerziehende Mutter von drei Kindern schuf sie die rechtliche Grundlage dafür, dass Beamtinnen und Richterinnen mit Kindern in Teilzeit arbeiten und in Familienzeit gehen konnten – sie selbst nutzte diese Möglichkeit aber nicht.

Elisabeth Treskow (1898 – 1992) – Goldschmiedin und Gestalterin der Meisterschale

Bild: AdobeStock/bigmen AdobeStock/bgpsh/Eduard Martin
Bild: AdobeStock/bigmen AdobeStock/bgpsh/Eduard Martin
Sie war eine der ersten professionellen Goldschmiedinnen Deutschlands und schuf ein berühmtes Werk, das liebevoll auch „Salatschüssel“ genannt wird und Jahr für Jahr hart umkämpft und heiß begehrt wird: Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes. Elisabeth Treskow wurde 1898 in Bochum geboren und begann schon mit 16 Jahren mit der Arbeit an ersten Schmuckstücken. An der Folkwangschule in Essen studierte sie Malerei und besuchte die Metallklasse, dann absolvierte sie in München eine Ausbildung zur Goldschmiedin, richtete sich, wieder zurück in Essen, ein Atelier ein und legte ihre Meisterprüfung ab. Nach dem Krieg wurde sie an die Kölner Werkschulen berufen, dort leitete sie die Gold- und Silberschmiedeklassen. In den folgenden Jahren erhielt sie Aufträge erster Klasse: Sie restaurierte den Dreikönigenschrein im Kölner Dom, fertigte die Amtskette des Kölner Oberbürgermeisters und die besagte „Salatschüssel“. 1956 wurde sie zur Professorin an den Kölner Werkschulen ernannt.

Aretha Franklin (1942 – 2018) – Queen of Soul

Bild: AdobeStock/bigmen
Bild: AdobeStock/bigmen
Sie ist die erste Frau, die in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde und Gewinnerin von 18 Grammys sowie des Grammy Living Legends Award. „Ein Geschenk Gottes“ nannte Mary J. Blige sie. Doch von vorne. Aretha Franklin wurde 1942 in Memphis geboren, ihr Vater war Baptistenprediger. Durch die Kirche kam sie schon als Kind mit Musik in Berührung, sang im Chor und lernte Klavier spielen. 1956 erschien ihre erste Platte, ein Gospelalbum – und damit begann eine Karriere, die mehr als sechzig Jahre dauerte. „Respect“ war 1967 ein Nummer-Eins-Hit und wurde zur Hymne des schwarzen Befreiungskampfes und der Frauenbewegung. Mit ihren Songs wie „I say a little Prayer“ oder „(You make me feel like) a natural woman“ hielt sie lange den Rekord für die meisten Singles in den US-amerikanischen Charts, gehörte zu den Künstler*innen mit den meisten verkauften Tonträgern weltweit. Doch das Leben der erfolgreichen Künstlerin war auch von Tragödien geprägt: Aretha Franklin bekommt zwei ihrer vier Kinder bereits als Teenager, mit zwölf und vierzehn Jahren nach Vergewaltigungen. Lange kämpft sie mit Depressionen und Alkoholproblemen. Sie heiratet zweimal, in der ersten Ehe mit ihrem Manager Ted White wird sie Opfer von Gewalt. Mit 76 Jahren erliegt sie einer Krebserkrankung.

Jil Sander (*1943) – Modedesignerin

Maria Wiesner: Jil Sander. Eine Annäherung.Harper Collins 2023. 24 Euro
Maria Wiesner: Jil Sander. Eine Annäherung.
Harper Collins 2023. 24 Euro
Sie gilt als die „Queen of less“ und ist eine der wenigen deutschen Modedesigner*innen, die den internationalen Durchbruch geschafft haben: Heidemarie Jiline „Jil“ Sander. Geboren wurde sie 1943 – ihre Mutter war aus Hamburg aufs Land geflohen und brachte ihr Kind in einem Luftwaffenlazarett zur Welt. Einige Jahre später kommen sie zurück nach Hamburg, wo Jil aufwächst. Sie studiert Textilingenieurwesen in Krefeld, von dort aus geht es für sie in die weite Welt, nach Los Angeles und New York, wo sie als Moderedakteurin arbeitet. Zurück in Hamburg eröffnet Jil Sander mit erst 24 Jahren eine Boutique, in der sie später auch ihre eigene Kollektion anbietet. Mit puristischen Entwürfen, gefertigt aus hochwertigen Materialien, wird sie super erfolgreich. Sie expandiert international, bringt überaus erfolgreich Parfums auf den Markt, erweitert das Sortiment um Männermode. Als erste Frau der Modebranche bringt sie ihr Unternehmen 1989 an die Börse, zehn Jahre später verkauft sie es dann an Prada. Sie zieht sich aus dem Unternehmen zurück, übernimmt später aber noch zwei weitere Male den Chefinnensessel. Viele Jahre lang lebt Jil Sander mit ihrer Lebenspartnerin Angelica Mommsen zusammen, die 2014 stirbt. Heute lebt Sander in Berlin- Charlottenburg und auf Ibiza.

Chapeau! Kultur-, Buch- und Linktipps

Issa – eine beeindruckende Familiengeschichte

Cover IssaMirrianne Mahn verwebt die Schicksale von fünf Frauen miteinander, deren Leben mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen und doch über die Linien kolonialer Ausbeutung und Streben nach Selbstbestimmung verbunden sind. Das Buch wurde nominiert für den Debütpreis der lit.COLOGNE 2024. Die Autorin ist Woman of Color und engagiert sich als Aktivistin und Theatermacherin für Feminismus und gegen Diskriminierung und Rassismus. Das FOCUS Magazin zählte sie 2021 zu den 100 Frauen des Jahres. Mirrianne Mahn: Issa. Rowohlt 2024. 24,00 Euro. https://mirrianne-mahn.com

Anne Imhof in Bregenz

Foto: Kunsthaus Bregenz
Foto: Kunsthaus Bregenz
Das Kunsthaus Bregenz (Österreich) zeigt die deutsche Performance- und Medienkünstlerin Anne Imhof, eine der bedeutendsten Künstler*innen der Gegenwart. Die Ausstellung konzentriert sich auf Malerei und Skulptur, die den Kern ihrer künstlerischen Praxis bilden und von der Weiterentwicklung ihrer performativen Arbeit zeugen. 8. Juni bis 1. September 2024. www.kunsthaus-bregenz.at, www.anneimhof.com.

Rekord für Raye

Nicht einen, nicht zwei, nein sechs Brit Awards gewann die britische Singer-Songwriterin Raye bei den Brit Awards – ein neuer Rekord. Die 26-jährige ist schon lange erfolgreich, schrieb unter anderem Songs für Beyoncé. Doch ein eigenes Album durfte sie nicht veröffentlichen obwohl sie jahrelang bei einem Label unter Vertrag war. 2021 wurde ihr sogar gekündigt. Jetzt, als unabhängige Künstlerin, hat sie abgeräumt- was für ein Triumph! Ihr Album „My 21st Century Blues“ ist bei allen Streamingdiensten verfügbar. www.instagram.com/raye

Connyversum im Buch

Cover ConnyConny folgen auf Instagram und bei TikTok mehr als 250.000 Personen. Die Kunstfigur schreckt nicht zurück vor dem Einsatz von Filtern und macht den alltäglichen Behördenwahnsinn sehr pointiert und lustig deutlich. Nun gibt’s das wahnsinnige Connyversum endlich als Buch. Conny from the block: Da bin ick nicht zuständig, Mausi. dtv 2023. 13,00 Euro Instagram und TikTok: @conny.fromtheblock

Geister der Arktis

 
Foto: © NDR/DOCLIGHTS GMBH/BLACK CORAL FILMS AB/Uli Kunz
Foto: © NDR/DOCLIGHTS GMBH/BLACK CORAL FILMS AB/Uli Kunz
Christina Karliczek ist preisgekrönte Kamerafrau mit Spezialisierung auf Unterwasseraufnahmen, außerdem zertifizierte Höhlen- und Eistaucherin. Nun hat sie sich auf eine Expedition in die eisigen Tiefen der Arktis begeben, wo eine faszinierende Dokumentation in zwei Teilen entstanden ist: „Geister der Arktis“. Im ersten Teil beschäftigt die Filmemacherin sich mit Eishaien, die mehrere hundert Jahre werden können – sie werden als „Methusalems der Meere“ bezeichnet. Im zweiten Teil geht sie auf die Spur der Narwale, die „Einhörner des Meeres“, die stark durch den Klimawandel bedroht sind. Eine beeindruckende Doku mit faszinierenden Bildern!

Maestras im ARP Museum

Bild: © Palacio Real de La Granja de San Ildefonso, Segovia, Patrimonio Nacional, Madrid, Foto: Mick Vincenz
Bild: © Palacio Real de La Granja de San Ildefonso, Segovia, Patrimonio Nacional, Madrid, Foto: Mick Vincenz
Noch bis zum 16. Juni zeigt das Arp Museum Bahnhof Rolandseck die Ausstellung Maestras. Malerinnen 1500–1900. Die umfassende Schau mit Arbeiten von 46 Malerinnen aus bedeutenden europäischen Museen und Privatsammlungen wird in Kooperation mit dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid präsentiert. Das Spektrum reicht von mittelalterlichen Buchmalerinnen aus Nonnenklöstern über Künstlerinnen der Barockzeit, die in der väterlichen Werkstatt lernten, bis hin zu den Wegbereiterinnen der Moderne, die früh für ihren gleichberechtigten Platz einstanden. Das direkt am Rhein gelegene Museum ist mit seiner spektakulären Architektur ohnehin einen Besuch wert, auch unabhängig von dieser empfehlenswerten Ausstellung. www.arpmuseum.org

Claudia Andujar: Mit der Kamera durch den Regenwald

Foto: Henning Rogge / Deichtorhallen Hamburg
Foto: Henning Rogge / Deichtorhallen Hamburg
Ein Dokumentarfilm und eine Ausstellung begeben sich auf die Spuren der Künstlerin und Aktivistin Claudia Andujar, einer der renommiertesten Fotografinnen der Welt. Die 1931 in der Schweiz geborene Künstlerin lebt in Brasilien und fotografiert seit den 1970er-Jahren die Yanomami, eine indigene Volksgruppe. Sie dokumentiert mit ihren Fotos die Zerstörung des Regenwaldes und setzt sich intensiv für den Schutz der Natur und die Erhaltung des Lebensraums der dort lebenden Völker ein. Der Film, für den die mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnete Regisseurin Heidi Specogna Regie geführt hat, zeigt nicht nur das Leben und Werk von Claudia Andujar, sondern auch eine junge, selbstbewusste und aktivistische Generation von Yanomami. 88 Minuten, im Kino ab 9. Mai 2024. Die Deichtorhallen Hamburg zeigen im PHOXXI noch bis zum 11. August 2024 eine Auswahl der wichtigsten Werke Claudia Andujars. www.deichtorhallen.de

Die Schattenmacherin

Cover SchattenmacherinKeine Männer mehr – eine mysteriöse Seuche hat sie dahingerafft. Dank künstlicher Fortpflanzung ist die Menschheit nicht ausgestorben, doch das Leben der Frauen ist bestimmt von sengender Hitze. Sie leben in überdachten Städten, das Wasser ist rationiert. Dies ist das Setting des Debütromans von Lilly Gollackner, Journalistin, Autorin und Mediencoach aus Wien. Die Dystopie spielt im Jahr 2068. Nach mehreren Jahren Präsidentschaft möchte die Machthaberin der Welt ihr Amt an eine jüngere Nachfolgerin weitergeben. Es entspannt sich ein Generationenkonflikt zwischen den Frauen um Ressourcen, Macht und Identität, der beide vor schicksalhafte Entscheidungen stellt. Lilly Gollackner: Die Schattenmacherin. Kremayr & Scheriau 2024. 24,00 Euro

Die Lohnlücke schließen

18 Prozent – immer noch. 18 Prozent weniger verdienen Frauen im Vergleich zu Männern im Schnitt. Der sogenannte Gender Pay Gap ist in den letzten 20 Jahren kaum kleiner geworden. Wie kommt diese enorme Lohnlücke zustande – und wie verhandelt man ein gutes Gehalt? Von Kerstin Neurohr

Nicola Fuchs-Schündeln, Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität Frankfurt hat einen Beitrag geschrieben zum Jubiläum des Vereins für Socialpolitik, der größten Vereinigung von Ökonom*innen im deutschsprachigen Raum. „Warum sind Löhne und Einkommen immer noch vom Geschlecht abhängig?“, fragt sie. Die Antwort in vier Schlagworten: Es liegt an Arbeitsstunden, dem Ehegattensplitting, an der Berufswahl sowie an Normen.

Weitere Infos

Equal Pay Day Journal zur Kampagne 2024, downloaden als PDF   Studie „Warum sind Löhne und Einkommen immer noch vom Geschlecht abhängig?“ von Nicola Fuchs-Schündeln
Die Zahlen sind erschreckend: Frauen verdienen in Deutschland 28 % weniger als Männer. Das liegt auch daran, dass sie weniger arbeiten als Männer, nämlich im Schnitt 31,3 Wochenstunden (bei Männern sind es 39,8 Stunden). Daneben spielen die niedrigeren Stundenlöhne von Frauen eine wichtige Rolle, sie liegen im Schnitt 18 % unter denen von Männern. Auch Vollzeit arbeitende Frauen verdienen immer noch 13 % weniger als Vollzeit arbeitende Männer. Selbst wenn man Frauen und Männer gleichen Alters, gleicher Ausbildung, im gleichen Beruf, mit gleichen Arbeitsstunden und mit gleicher Berufserfahrung vergleicht, bleibt eine Lohnlücke von 6 % bestehen. Es seien viele kleine Hürden, die zu dieser Lohnlücke führen, schreibt Prof. Fuchs- Schündeln. Eine davon: Frauen treten in Gehaltsverhandlungen weniger fordernd auf als Männer – wobei, das ist wichtig, der Gender Pay Gap ein strukturelles Problem ist und keinesfalls dem individuellen Verhalten von Frauen geschuldet ist. Geschickt zu verhandeln ist sicherlich richtig und wichtig, daher drei Tipps für Gehaltsverhandlungen: Standards kennen Welche Gehälter sind in der Branche üblich, was verdienen andere Personen mit vergleichbarer Qualifikation? Das zu wissen ist die Basis. Nicht zu wenig fordern Frauen gehen mit niedrigeren Lohnforderungen in Gehaltsverhandlungen – hier gilt der Ausspruch von Kirsten Boie: „Der größte Fehler der Frauen ist ihr Mangel an Größenwahn.“ (s. Buchtipp Seite 26/27). Also trauen sie sich und fordern lieber mehr als weniger! Beharrlich bleiben Sie verhandeln den Wert ihrer Arbeit – nicht ihren Wert als Mensch. Sie gewinnen, wenn Sie die Sache weder zu persönlich noch zu emotional nehmen. Schließlich sind sie keine Bittstellerin. Werden ihre Forderungen nicht erfüllt, vereinbaren Sie Ziele und weitere Gespräche. Bleiben Sie dran!

Das letzte Wort hat: Janet Winkler, Gründerin der Karriere-Plattform bunton

Janet Winkler ist Co-Gründerin und Geschäftsführerin von bunton, einem Start-up, das eine KI-basierte Karriere-Plattform für Frauen in Führungspositionen und in Aufsichtsräten aufbaut. Ihr Ziel: Frauen in Führungspositionen bringen! Dass das dringend nötig ist, hat Janet Winkler in ihrer Laufbahn als Finanzexpertin, Beraterin und Geschäftsführerin immer wieder erlebt. Die Fragen stellte Kerstin Neurohr

Frau Winkler, Sie haben die Community-Plattform bunton gegründet – was ist die Idee dahinter? Das ist eine KI-basierte Karriere-Plattform für weibliche Führungskräfte und Aufsichtsräte. Ihr Hauptziel ist es, die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen zu thematisieren und mehr Frauen in Leitungsfunktionen in Unternehmen zu bringen. Die Plattform bietet Frauen einen sicheren, anonymen Raum, um sich Unternehmen vorzustellen, die aktiv nach einer Diversifizierung ihres Managements streben und adressiert gezielt die Bedürfnisse und Anforderungen weiblicher Führungskräfte. bunton ist „von Grund auf KI-basiert“ – was heißt das, welche Vorteile sind damit verbunden? Die KI spielt eine entscheidende Rolle in jeder Phase des Bewerbungsprozesses und basiert auf umfangreichen Datenanalysen und Research, um eine maßgeschneiderte Unterstützung zu bieten. Unter anderem berät die KI Unternehmen bei der Gestaltung von Stellenbeschreibungen, die Frauen ansprechen. Sie schlägt den Kandidatinnen gezielt Unternehmen vor, die ihren Bedürfnissen und Präferenzen entsprechen. Durch die Analyse von harten und weichen Faktoren kann KI besonders passende Vorschläge für Unternehmen und Kandidatinnen machen, also das bestmögliche Matching erreichen. Wird eine Kandidatin ausgewählt, gibt die KI Empfehlungen für die Rolle, Verantwortung und den Weiterbildungsbedarf. Und bei Nichtauswahl bietet die KI datenbasiertes Feedback an beide Seiten, um Leistungs- und Verbesserungspotenziale für die Zukunft aufzuzeigen. Die geschlechtliche Identität ist nur eine von vielen Dimensionen von Diversity. Wie divers waren bzw. sind Ihre Arbeitsumfelder? Ich hatte das Privileg, in ganz unterschiedlichen Teams zu arbeiten. Mein aktuelles Arbeitsumfeld bei bunton ist besonders divers – sei es in Bezug auf Geschlecht, kulturellen Hintergrund, religiöse Überzeugungen oder geografische Herkunft der Teammitglieder, die an verschiedenen Standorten arbeiten. Zusätzlich bereichern Altersunterschiede das Team, unsere jüngste Mitarbeiterin ist in den Zwanzigern, die älteste Beirätin in den Sechzigern. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Dynamik und der Fülle an Ideen, die ein diverses Team mit sich bringt. Natürlich erfordert eine derartige Vielfalt auch Mut und die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, da unterschiedliche Charaktere auch unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, die es wert zu schätzen und miteinander zu verbinden gilt. Sie haben BWL studiert, waren erfolgreich im Consulting tätig – was hat sie dazu bewogen, zu gründen? Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen und habe als Erste in meiner Familie einen Hochschulabschluss erlangt. Bereits während meiner Schulzeit hatte ich den Traum vom Unternehmertum und sammelte erste Erfahrungen mit Jobs und Gründungsprojekten während meiner Ausbildung und meines Studiums. Dennoch entschied ich mich zunächst für eine Anstellung in einem Beratungsunternehmen. Es bereitete mir Freude, die Karriereleiter emporzusteigen, weshalb ich länger blieb als ursprünglich geplant – aber der Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit überwog. 2015 gründete ich zunächst eine Beratungsgesellschaft, 2020 lernte ich dann meinen heutigen Geschäftspartner Debjit D. Chaudhuri kennen und gründete mit ihm bunton.

Linktipp

www.bunton.de
Schließlich: Welchen Tipp geben Sie Hochschul-Absolventinnen mit? Es ist außerordentlich wichtig, bereits während des Studiums ein starkes berufliches Netzwerk aufzubauen. Die Kommilitonen, mit denen man während des Studiums interagiert, könnten in Zukunft in Führungspositionen sein und dadurch wertvolle berufliche Kontakte bieten, von denen am Ende alle Beteiligten profitieren können.

karriereführer recht 1.2024 – Erfolgsfaktor generative KI: Mehr Effizienz und neue Geschäftsfelder

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Cover karriereführer recht 1-2024 Erfolgsfaktor generative KI

Erfolgsfaktor generative KI: Mehr Effizienz und neue Geschäftsfelder

„Unternehmen verdreifachen Investitionen in generative KI“, titelte die FAZ im Januar unter Berufung auf eine Studie von Glean, einem auf innovative Suchtechnologien spezialisierten Hightechunternehmen. Tatsächlich ist das Tempo rasant, in dem sich die KI-Technologien entwickeln. Damit Schritt zu halten wird über den Erfolg von Unternehmen entscheiden.

Fachautorin Suzanne McGee prognostiziert daher in dem Branchen- und Finanzportal LexisNexis: „KI wird die Anwälte nicht ersetzen, aber Anwälte, die KI nutzen, werden Anwälte ersetzen, die das nicht tun.“ Wie die Kanzleiwelt mit den Herausforderungen generativer KI umgeht, beleuchten wir im Top-Thema dieser Ausgabe.

Generation Generativ

Die künstliche Intelligenz macht den entscheidenden Schritt. Sie ist generativ, erzeugt also Texte, Kontexte, Modelle und vieles mehr. Für Kanzleien wird die Technologie damit zum Co-Piloten. Kanzleien, die KI klug und weitsichtig einsetzen, arbeiten effizienter, finden neue Geschäftsmodelle, binden Mandanten und bauen Fachwissen aus. Einfach loslegen sollte man aber nicht: Der Kurs muss stimmen und der Komplexität des Themas gerecht werden. Ein Essay von André Boße

Künstliche Intelligenz ist zum Dauerthema geworden. Aus einer Technik für die Zukunft ist eine Technologie geworden, die bereits für sehr viele Menschen im Alltag erlebbar ist. KI schreibt Texte und übersetzt sie. Sie erschafft Bilder oder manipuliert Fotos. Sie erkennt menschliche Stimmen oder macht sie nach. Die Rede ist an dieser Stelle von der generativen KI, also einer Technik, die neue Inhalte erzeugt: Texte, Computercodes, Videos, Prozesse, Strukturen. Was die generative KI erschafft, kann lustig oder verstörend sein. Beinahe täglich gehen neue Geschichten aus der KI-Welt durch die Medien. Was hier wichtiger ist: Die generative KI kann hilfreich sein und zu einer hohen Effizienz beitragen. Und das ist für Kanzleien hochinteressant. Denn Hilfe zu mehr Effizienz können sie alle gebrauchen.
Dass generative KI in den Kanzleien eine Rolle spielen wird, daran zweifelt kaum jemand in der Branche.

Start in den USA, Deutschland zögerlich

Dass generative KI in den Kanzleien eine Rolle spielen wird, daran zweifelt kaum jemand in der Branche. In der Recherche für diese Texte zeigte sich jedoch, dass in Deutschland viele Akteure aktuell recht vorsichtig erste Schritte gehen. Man nähere sich dem Thema an, hieß es bei Anfragen, noch sei aber nichts spruchreif. In den USA ist man schon ein Stück weiter, was Studien und Meinungsbeiträge von amerikanischen Autorinnen und Autoren belegen. „In der juristischen Welt beispielsweise untersuchen Anwaltskanzleien und andere das Potenzial der KI schon seit langem – und nutzen es für praktische und manchmal bahnbrechende Zwecke“, schreibt etwa die Fachjournalistin Suzanne McGee in einem Fachbeitrag für das Branchen- und Finanzportal LexisNexis.
Foto: AdobeStock/SkyLine
Foto: AdobeStock/SkyLine

Generative KI im Rechtswesen ist Wachstumsmarkt

Laut einer Meldung des Digital-News-Portals Tech Market Reports prognostizieren Finanzexpert*innen, dass der globale Markt für generative KI im Rechtswesen bis 2032 voraussichtlich eine Marktgröße von etwa 675,1 Millionen Dollar erreichen wird. 2022 lag das Volumen bei 49,8 Millionen. Die prognostizierte durchschnittliche jährliche Wachstumsrate für den Zeitraum von 2023 bis 2032 beträgt damit 30,7 Prozent. Vorangetrieben werde der Markt durch den Einsatz von KI in den Kanzleien, den zunehmenden Bedarf an Automatisierung von Rechtsprozessen sowie die steigende Nachfrage nach personalisierten Rechtsdienstleistungen. Die Region Nordamerika werde dabei voraussichtlich der größte Markt für generative KI im Rechtswesen sein; hier gebe es bereits eine große Zahl von Kanzleien und Rechtstechnologieunternehmen, die generative KI-Lösungen einsetzen. Europa wird hier auch als wichtiger Markt benannt, muss aber aufpassen, das Wachstum nicht zu verpassen.
Grundlage für ihre Überlegungen ist eine Umfrage, deren Ergebnisse LexisNexis im August 2023 veröffentlicht hat. Danach sagt etwa die Hälfte aller Anwälte, dass generative KI-Tools die Rechtspraxis erheblich verändern werden; fast alle glauben, dass sie zumindest einen gewissen Einfluss haben werden (92 Prozent). 77 Prozent sind der Meinung, dass generative KITools die Effizienz von Anwälten, Rechtsanwaltsgehilfen oder Rechtsreferendaren steigern werden; 63 Prozent glauben auch, dass generative KI die Art und Weise, wie Recht gelehrt und studiert wird, verändern wird.

Experimente und neue Funktionen

Klar sei, dass dieser Wandel nicht auf Knopfdruck passiere. Suzanne McGee ist der Auffassung, dass sich die Branche aktuell in einer Phase der ersten Experimente befinde. „Wobei riesige globale Partnerschaften die Lernkurve schnell nach oben schieben“, wie sie schreibt. Für ihren Beitrag sprach die Journalistin mit der Juristin Danielle Benecke, die in der Wirtschaftskanzlei Baker McKenzie im Jahr 2021 eine Position mit völlig neuer Funktion übernahm: Sie leitet seitdem den Bereich Machine Learning – also ein Ansatz für KIInnovationen im Rechtsbereich. „Wir arbeiten hier an der Frage, wie maschinelles Lernen und andere Arten von KI mit unserem Fachwissen kombiniert werden können, um neue Dienstleistungen zu schaffen“, wird Danielle Benecke in dem Beitrag zitiert. Ihr Team untersucht also, wie sich in der Kanzlei generative KI und maschinelles Lernen auf den strategischen Entscheidungsprozess anwenden lassen. Baker McKenzie habe dafür kritische Aufgaben untersucht, die für Anwältinnen und Anwälte mit herkömmlichen Recherchetools nur mit enormem Zeitaufwand zu bewältigen wären. Ein Dauerbrenner für die Mandanten von Baker McKenzie sei es zum Beispiel, globale Handelssanktionen zu verstehen und die damit verbundenen Risiken zu identifizieren. Mit Hilfe einer generativen KI und Data Science untersucht die Kanzlei die Lieferketten der Mandanten, analysiert die ihnen bereitgestellten Daten sowie Daten aus öffentlichen Quellen. Das Ziel? „Risiken zu identifizieren – in großem Umfang und schnell“, wird Danielle Benecke zitiert. Und das funktioniere, denn: „Wenn man das in großem Maßstab macht, entdeckt man Dinge, die Menschen allein vielleicht nicht erkennen würden.“ Genau hier ergibt sich aber auch ein Problem – eines, das die Fachautorin Suzanne McGee als „Kinderkrankheiten einer Technik, die noch in den Kinderschuhen steckt“ bezeichnet. So besitze generative KI die „unglückliche Angewohnheit, Dinge zu erfinden“. Oder anders gesagt: Statt zuzugeben, sie habe keine Ahnung, füllt sie ihre Wissenslücken mit Eigenkreationen – oder auch: Halluzinationen. Nun sind falsche Inhalte im Rechtsbereich fatal, weshalb es laut Suzanne McGee einen großen Bedarf an „zuverlässigen Werkzeugen“ gebe, „die auf die sehr spezifischen Anforderungen von Anwälten zugeschnitten sind“. An diesen werde aber gearbeitet, und sind sie verfügbar, werde die generative KI den nächsten Schritt gehen. Wo der Weg enden wird? Suzanne McGees Prognose: „KI wird die Anwälte nicht ersetzen, aber Anwälte, die KI nutzen, werden Anwälte ersetzen, die das nicht tun.“

Mehr Empathie wagen

Die verstärkte Konzentration auf das Zuhören und das Verstehen der Ziele der Klienten und Gegenparteien wird es Anwälten ermöglichen, Probleme, Ziele und Muster zu erkennen und somit ein Urteilsvermögen zu entwickeln.
Worauf es konkret in den Kanzleien ankommt, formulieren die US-Juristen Michael A. Gerstenzang und David Stiepleman in einem Meinungsbeitrag für das Business- und Legal-News- Portal Bloomberg Law. Ausgehend von der Frage, wofür Anwälte in einer KI-Kanzleiwelt benötigt werden, schlagen die beiden Autoren ein Umdenken bei den Skills vor. Ihre bemerkenswerte Forderung: Mehr Empathie wagen. „Generative KI kann den Anwälten Arbeit abnehmen und ihnen Zeit zum Nachdenken schenken, aber das ist nur wertvoll, wenn der Mensch auch weiß, worüber er nachdenken soll.“ Das nötige Gedankenfutter lieferten zum Beispiel die Mandanten: „Die verstärkte Konzentration auf das Zuhören und das Verstehen der Ziele der Klienten und Gegenparteien wird es Anwälten ermöglichen, Probleme, Ziele und Muster zu erkennen und somit ein Urteilsvermögen zu entwickeln.“ Alles dies führt zu einem neuen Wissen, die sich wiederholenden Arbeiten könne man derweil dem KI-Kopiloten überlassen.

Vier Felder für Wachstum

In welchen Bereichen generative KI den Kanzleien neue Geschäftsfelder eröffnen kann, zeigt ein Beitrag des nordamerikanischen Legal-Tech- und Digital-Nachrichtendiensts Thomson Reuters aus dem Herbst 2023. Die Autorinnen und Autoren nennen vier Felder:
  • Erstens die Kapazität, ausgehend von der Kalkulation: Wenn die KI Routineaufgaben übernimmt, bleibt mehr Zeit für die strategische Geschäftsentwicklung.
  • Zweitens die Reaktionsfähigkeit: KI biete die Chance, schneller auf Mandantenanfragen zu reagieren, Kundendaten zu analysieren und via Cross-Selling weitere Rechtsdienstleistungen anzubieten.
  • Drittens die Erstellung von Inhalten im Sinne hochwertiger Inhalte für Blogs, Soziale Medien oder andere Plattformen.
  • Viertens die Analyse des Marktes und der Wettbewerber, um Nachfragelücken und neue Geschäftschancen zu identifizieren.
Wie aber ist der Stand in Deutschland? Antworten auf unsere Fragen gab es von SKW Schwarz. Die Kanzlei betreibt vier Standorte in Deutschland, tätig sind dort rund 130 Anwältinnen und Anwälte. Fokusthemen sind juristische Fragen, die sich für Unternehmen aus der digitalen Transformation ergeben. SKW Schwarz arbeitet zu KI-Themen mit den Mandanten. Wie aber werden die Möglichkeiten der Zukunftstechnik im Alltag der Kanzlei genutzt? „Wir setzen generative KI zur Erstellung von rechtlichen und sonstigen Dokumenten ein und erzielen damit bisweilen schon deutliche Effizienzsteigerungen“, sagt Stefan C. Schicker, Partner bei SKW Schwarz. Bei der Recherche und Analyse von Rechtsmaterialien verbesserten KI-gestützte Tools die Genauigkeit und Geschwindigkeit. Mit einigen Anbietern befinde sich die Kanzlei darüber hinaus in Testphasen, geprüft werde zum Beispiel der Einsatz im Wissensmanagement:
Foto: AdobeStock/SkyLine
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Generative KI in Rechtsabteilungen der Unternehmen

In vielen Unternehmen finden KI-Lösungen Einzug. Die Rechtsabteilungen sollten hier nicht hintenanstehen, ist der Rat in einem Report von Deloitte.Legal mit dem Titel „Generative AI: A guide for corporate legal departments“. Die Autor*innen nennen hier eine Reihe von Anwendungen, stets gekoppelt an die Frage, was das für die menschliche Arbeit bedeutet: Wie hoch wäre der Aufwand für den Menschen, die Aufgabe ohne KI zu übernehmen – und wie hoch ist der menschliche Aufwand, der erforderlich ist, die Arbeit der KI zu überprüfen? Beispiele für den Einsatz von generativer KI in Rechtsabteilungen sind laut Deloitte-Report die Analyse von Falldaten bei Rechtsstreitigkeiten oder kommerziellen Vertragsabschlüssen, aber auch die Nutzung der Rechenleistungen bei M&A-Projekten und detaillierten Due- Diligence-Prüfungen. Auch im Wettbewerbs- und Kartellrecht sowie bei der Compliance könne die generative KI schnell und aktuell Regelungen und Rechtsordnungen analysieren, um mögliche Verstöße schnell und zuverlässig anzuzeigen.
„Interne Dokumentation, Auswertungen und semantische Suchen von beispielsweise Vertragsklauseln innerhalb der Kanzlei können KI-gestützt ablaufen, um das eigene Wissen effizient zu verwerten“, sagt Stefan C. Schicker. Eine weitere Möglichkeit sieht er im Bereich der Herstellung von Vertragsklauseln: „Wir testen KI für vorausschauende Analysen, für automatisierte Compliance-Checks und in der risikobasierten Beratung.“ Das hat Folgen für das Geschäftsmodell der Kanzlei: „Perspektivisch werden sich in der Mandatsarbeit vermehrt Möglichkeiten ergeben, rechtliche Produkte im Rahmen von alternativen Vergütungsmodellen anzubieten“, sagt Stefan C. Schicker, für den klar ist: „Für Kanzleien ergeben sich durch Investitionen in KI-Technik auch neue wirtschaftliche Chancen.“

Risiken analysieren und reduzieren

Neue Chancen bedeuten in der Regel auch neue Risiken. Dies ist bei der Einführung von generativer KI in die Kanzleiarbeit nicht anders: „Mit der KI sind rechtliche Unsicherheiten sowie komplexe Haftungs- und Ethikfragen verbunden“, sagt Stefan C. Schicker. „Besondere Vorsicht ist geboten im Hinblick auf Datenschutz und die Wahrung von Mandatsgeheimnissen, da Fehlinterpretationen oder Sicherheitslücken in KI-Systemen zu Vertrauensverlust und zu Haftungsansprüchen führen könnten“, warnt er. Eine zunehmende Abhängigkeit von Technologie erhöhe zudem Risiken bei Systemausfällen oder fehlerhaften KI-Entscheidungen. Klar ist: Wer als Talent in den Kanzleien die Nutzung der generativen KI voranbringen will, braucht dafür spezielles Know-how. „Wichtig sind ein technisches Grundverständnis und grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise von KISystemen“, sagt Stefan C. Schicker. Er erwartet zudem eine steigende Spezialisierung in KI-relevanten Rechtsgebieten, zum Beispiel dem IT-Recht, Datenschutzrecht oder Urheberrecht sowie auch bei Haftungsfragen. „Interdisziplinäre Zusammenarbeit, das heißt, die Fähigkeit zur effektiven Zusammenarbeit mit Technikern und Wirtschaftsexperten, wird ebenfalls zunehmend wichtiger. Sie hilft beim Entwickeln von neuen Geschäftsmodellen und wirtschaftlichen Zusammenhängen.“ Kontinuierliche Weiterbildung sei dabei heute ohnehin unerlässlich. „Wegen der rasanten Entwicklung in der KI-Branche ist ein ständiger Marktüberblick erforderlich“, betont Stefan C. Schicker. Das Schöne ist: Auch bei dieser Marktanalyse kann die generative KI helfen – nicht die einzige Win-win-Situation beim Einsatz einer neuen Technologie, die das Potenzial besitzt, eine neue Ära der Arbeit in Kanzleien zu prägen.
 

Urheberrecht und generative KI

Foto: AdobeStock/SkyLine
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Angenommen, ein Mensch entwickelt eine generative KI, die in der Lage ist, ein eigenes Kunstwerk zu erzeugen – und dies auch tut. Darf der Entwickler der Maschine dafür seine Urheberrechte geltend machen? In den USA kam es im Sommer 2023 zu diesem Fall, berichtet wird über ihn im Blog der Kanzlei CMS, wo Dr. Maximilian Vonthien über diesen Fall schreibt. Das U.S. Copyright Office lehnte die Urheberschaft des KI-Entwicklers mit der Begründung ab, das Kunstwerk sei nicht von einem Menschen geschaffen worden. Kategorisch ausgeschlossen, dass eine solche Urheberschaft möglich sei, hat es aber nicht. Vielmehr komme es im Einzelfall darauf an, wie sehr die Erzeugung vom Menschen beeinflusst oder vorgegeben worden sei. „Bei der Frage, wann eine Urheberschaft eines Menschen an einem KI-generierten Erzeugnis angenommen werden kann, betritt man rechtliches Neuland“, schreibt Dr. Maximilian Vonthien in dem Blog. Was auch heißt: Es wird in naher Zukunft zu interessanten Urteilen kommen; wer als Juristin oder Jurist in diesem Bereich unterwegs ist, sollte die Nachrichtenund Urteilslage im Auge behalten.

Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung generativer KI

Von den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten generativer KI können für die juristische Arbeit etwa die Formulierung und Überarbeitung von Texten, Recherchen oder die Erschließung großer Datenmengen von Bedeutung sein, künftig möglicherweise auch das Beantworten konkreter Fragen oder Falllösungen. Aber ist ein solcher Einsatz von KI überhaupt problemlos möglich und zulässig? Antworten auf diese Frage gibt Professor Dr. Renate Schaub in diesem Gastbeitrag.

Zur Person

Prof. Dr. Renate Schaub, LL.M. (Univ. Bristol) ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung , Handels- und Wirtschaftsrecht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bürgerliches Recht (insbesondere Haftungsrecht, Vertragsrecht), Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Wirtschaftsrecht (insbesondere Lauterkeitsrecht, Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht). Dabei liegt ein besonderer Fokus auf den Verbindungen zwischen diesen Rechtsgebieten, den internationalen Aspekten des Wirtschaftsrechts sowie auf den Wechselwirkungen der genannten Rechtsgebiete mit Technisierung und Digitalisierung.
Eigentlich sollte dieser Text mit zwei prägnanten Zitaten von ChatGPT und Bard beginnen, in denen beschrieben wird, wie KI juristische Arbeit verändern, ja geradezu revolutionieren kann. Aber da ich nicht genau weiß, wie die Formulierungen zustande gekommen sind, verzichte ich auf die Zitate und bin so gleich mitten im Thema. Neben den Möglichkeiten einer Nutzung generativer KI gilt es nämlich, auch deren Grenzen – wie etwa eine unklare urheberrechtliche Situation – im Blick zu behalten.

Grenzen der Nutzung von KI

Ausdrückliche Vorgaben zur Nutzung von KI bestehen bisher kaum, aber Grenzen der Nutzung von KI können sich aus bestehenden gesetzlichen Regelungen, Verträgen oder Pflichten zum Schutz der Rechtsgüter Dritter ergeben. So muss etwa bei Vorschriften zur eigenständigen Anfertigung von Prüfungsarbeiten ermittelt werden, ob KI genutzt werden darf und ob gegebenenfalls darüber aufzuklären ist. Entsprechendes gilt bei der Erfüllung vertraglicher Leistungspflichten, bei denen zudem Verpflichtungen zur höchstpersönlichen Leistung den Einsatz von KI einschränken können. Solange der Einsatz von KI noch nicht bei Gesetzgebung und Vertragsgestaltung berücksichtigt ist, besteht hier noch viel Auslegungsspielraum und damit Rechtsunsicherheit. Darüber hinaus ist zu beachten, dass durch die Nutzung von KI keine fremden Rechtsgüter geschädigt werden dürfen. Das kann z. B. beim Einsatz von KI in der Rechtsberatung von Bedeutung sein, wenn eine ungünstige Empfehlung generiert und anschließend weitergegeben wird. Auch die Regeln des Datenschutzrechts sind selbstverständlich bei Eingaben in KI-Systeme zu beachten. Unklar ist die urheberrechtliche Situation bei KI-generierten Texten: Bei den derzeitigen Systemen ist die Entstehung der Texte vielfach nicht nachvollziehbar und da die Trainingsdaten der KI auch urheberrechtlich geschützte Werke umfassen können, ist es nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse auch urheberrechtsverletzende Elemente enthalten.

Die Strategie: Besonnenheit und Zurückhaltung

Bei so vielen offenen Fragen ist die beste Strategie jedenfalls derzeit noch eine zurückhaltende und besonnene Verwendung von KI. Dass technische Systeme und damit auch KI nicht unfehlbar sind, dürfte allgemein bekannt sein – die Ergebnisse können unvollständig oder falsch (manchmal auch von der KI erfunden) sein. Daher ist beim Einsatz von KI zum Generieren von Texten – wenn man sie dafür überhaupt verwenden will und darf – größte Vorsicht geboten, weil die erzielten Ergebnisse nicht zwingend korrekt sein müssen und zudem die Quellen häufig unklar sind. Unerlässlich ist es, sich vorher über die Funktionsweise des genutzten Systems zu informieren und die Ergebnisse zu kontrollieren. Sinnvoller kann der Einsatz von KI zur Textkorrektur und Stilverbesserung sein. Hier bestehen weniger urheberrechtliche Bedenken, aber die Letztverantwortung für Verständlichkeit und inhaltliche Richtigkeit bleibt auch hier bei den Nutzenden. Bei Recherchen und bei der Verarbeitung großer Datenmengen kann KI sicherlich helfen, aber auch hier muss jedenfalls eine Kontrolle erfolgen. Zudem sollte beim Einsatz generativer KI immer gefragt werden, ob dieser gegenüber anderen (z. B. Prüfenden oder Vertragspartnern) offenzulegen ist. Fazit: KI kann bislang vielleicht an manchen Stellen die Arbeit erleichtern, aber eigenständiges Denken und Entscheiden nicht ersetzen.

Der virtuelle Gerichtssaal

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Während der Corona- Pandemie kamen viele Menschen zum ersten Mal in Kontakt mit virtuellen Besprechungen. Doch Onlinemeetings bieten auch außerhalb von Pandemiezeiten Vorteile, denn lange Reisezeiten können vermieden werden. Klassische Onlinetermine haben allerdings noch Schwächen, an deren Behebung nun in einer internationalen Forschungskooperation gearbeitet wird. Einblicke in die Forschungsergebnisse bietet Dr. Volker Settgast in seinem Gastbeitrag.

Zur Person Dr. Volker Settgast schloss 2005 sein Informatikstudium an der Technischen Universität Braunschweig ab und promovierte 2013 an der Technischen Universität Graz. Seit Juli 2009 ist er im Geschäftsbereich Visual Computing in Graz für die Fraunhofer Austria Research GmbH tätig, wo er als Senior Researcher zum Thema Virtual und Augmented Reality forscht.
Gerichte in Kanada und Australien machen bereits von virtuellen Verhandlungen Gebrauch. Kein Wunder – sind dort die Anreisezeiten und Wege unter Umständen besonders lang und stehen in keiner günstigen Relation zur Dauer mancher Verhandlung. Doch auch in anderen Ländern ist der Trend zu beobachten. Im Forschungsprojekt „Virtual Court“, das von Fraunhofer Austria geleitet wird und an dem auch internationale Partner wie die Western Sidney University, das Department of Earth & Planetary Sciences der Harvard University und das Cyberjustice Laboratory der Université de Montréal beteiligt sind, wollen wir nun sicherstellen, dass einerseits die Technik in jedem Fall problemlos funktioniert und dass andererseits Schwächen von klassischen Onlinekonferenzen behoben werden. Einer der Nachteile klassischer Videokonferenzen ist ein ermüdender Effekt, der von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beschrieben wird. Der Grund für diese Ermüdung liegt mit großer Wahrscheinlichkeit am fehlenden Blickkontakt, denn in einem gewöhnlichen Zoom-Meeting scheinen alle Blicke an einem vorbeizugehen. Das direkte Ansprechen einer Person ist erschwert, die zwischenmenschliche Komponente fehlt. Unser Ziel ist, dass eine Person in dem von uns entwickelten virtuellen Gerichtssaal ganz selbstverständlich erkennen kann, wenn sich ihr eine andere zuwendet und Augenkontakt herstellt. In der ersten Projektphase experimentierten wir dafür mit einem Set-up aus mehreren Webcams und Monitoren. Das hat sich aber als nicht praktikabel erwiesen, denn im Normalfall verfügt eine Person nur über eine einzige Webcam und einen Monitor. Auch die Menge der zu übertragenden Daten hat dabei ein Problem dargestellt.
Bild: Fraunhofer Austria
Bild: Fraunhofer Austria
Die Lösung: Digitale Avatare repräsentieren die Personen in einer virtuellen Umgebung, die Gerichtsverhandlung wird komplett in den virtuellen Raum übertragen und findet nicht mehr zu Hause vor dem Monitor statt. Die Software, die das ermöglichen soll, ist derzeit in Entwicklung. Erste Tests haben bereits stattgefunden. Vor dem Start der Verhandlung im virtuellen Gerichtssaal wird den Beteiligten die für sie entsprechende Rollenspezifikation wie Richter, Verteidiger, Zeuge oder Angeklagter zugewiesen. Eine Webcam nimmt das Gesicht auf. Mimik und Augenbewegungen der Verhandelnden werden auf die Avatare übertragen. Die mittels Eyetracking erfasste Blickrichtung wird in eine Kopfbewegung des Avatars umgesetzt – ein direkter Blickkontakt zwischen den Gesprächspartnern wird simuliert. Die Übertragung eines Videobildes entfällt bei diesem System. Lediglich der Audiostream und die aus dem Eyetracking und der Mimikerkennung resultierenden Daten werden übertragen. Der zu transferierende Datenstrom ist daher reduziert und stellt für niemanden mehr ein Hindernis dar. Im nächsten Schritt sollen die Hände der Teilnehmenden und ihre Gesten ebenfalls erfasst und durch den Avatar dargestellt werden. Geplant ist auch, die virtuellen Gerichtssäle länderspezifisch anzupassen. Über Ratschläge und Kooperationsangebote aus der Welt der Juristinnen und Juristen in Österreich oder Deutschland würden wir uns daher besonders freuen.
Bild: Fraunhofer Austria
Bild: Fraunhofer Austria

Reallabore – Innovationsförderung durch Regulierung?

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Die Entwicklung von Innovationen stößt – wegen ihrer Neuartigkeit – immer wieder auf rechtliche Herausforderungen. Dies überrascht nicht, denn Innovationen können gerade dort wirken, wo die bestehenden Regeln zwar greifen, aber nicht die besonderen und neuen Umstände der Innovation abbilden. Dies kann zur Folge haben, dass eine Innovationsentwicklung nicht abgeschlossen werden kann oder aufgrund von Rechtsunsicherheit nicht (weiter-)verfolgt wird. Reallabore knüpfen hier an und können Innovationen fördern. Wie, erklärt Rechtsanwältin Dr. Theresa Bachmann.

Zur Person

Dr. Theresa Bachmann ist Rechtsanwältin bei Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB in Berlin und berät in diversen Bereichen des öffentlichen Wirtschaftsrechts und Außenwirtschaftsrechts. Sie begleitet Unternehmen und Akteure der öffentlichen Hand bei regulatorischen Fragen im Zusammenhang mit Rechtsänderungen, Innovationen und komplexen Infrastrukturvorhaben und vertritt diese in Verwaltungs(gerichts)verfahren. Ihre außenwirtschaftsrechtlichen Schwerpunkte liegen in der Beratung von Unternehmen im Bereich des Sanktions-, Exportkontroll- und Zollrechts sowie in der Investitionskontrolle.
Nach der Definition des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sind Reallabore Testräume für Innovation und Regulierung, in denen nicht nur eine innovationsbezogene Erprobung stattfinden kann, sondern gerade auch eine Erprobung der einschlägigen oder benötigten Regulierung (siehe https:// www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation- und-regulierung.html). Was aber genau ist unter solchen Testräumen zu verstehen und wie wirken sie sich in rechtlicher Hinsicht aus? Und kann eine Regulierung – der Erprobung im Reallabor als solcher oder die regulatorische Verankerung von Reallaboren – auch innovationsfördernd wirken?

Was ist ein Reallabor?

Der Begriff „Reallabor“ lässt an einen physischen Raum, eben ein Labor, denken. Und in der Tat ist diese Assoziation nicht fehl am Platz, auch wenn es sich bei einem Reallabor um ein Labor im übertragenen Sinne handelt, in dem neue Technologien, Produkte und Geschäftsmodelle in der Praxis unter realen Bedingungen erprobt werden können. Die Erprobung im Reallabor findet also gerade nicht in einem gesonderten Raum statt, sondern im Realbetrieb. Prominentes Beispiel hierfür ist der Einsatz innovativer Verkehrsmittel zur Personenbeförderung, deren Anwendung sich noch in der Erprobungsphase befindet, diese aber zu Erprobungszwecken bereits im öffentlichen Straßenverkehr eingesetzt und von der Allgemeinheit genutzt werden. Das Reallabor als Testraum für Innovation und Regulierung legt einen besonderen Fokus auf die Ausforschung der regulatorischen Bedingungen, die die Nutzung der Innovation auch zukünftig erfordern wird. In der Regel ist eine Erprobung im Reallabor dann notwendig, wenn der Einsatz der Innovation auf regulatorische Hindernisse stößt, beispielsweise einen fachgesetzlichen Genehmigungsvorbehalt, dessen Voraussetzung die Innovation gerade aufgrund ihrer Innovativität nicht erfüllen kann. Da Reallabore an die konkrete Innovation anknüpfen, sind sie von der jeweiligen Innovation und dem jeweiligen Erprobungsbedürfnis geprägt.

Was können Reallabore leisten?

Die Ausgestaltung eines Reallabors bestimmt auch das Leistungspotenzial, das dieses entfalten kann. Reallabore, die der Regulierung dienen, weisen jedoch oft einige Aspekte auf, die im Zusammenhang stehen mit gesetzgeberischem Tätigwerden oder Verwaltungshandeln. Gesetzgeberisches Handeln ist in der Regel dann vonnöten, wenn die Erprobung einer Innovation an regulatorischen Hindernissen scheitert. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Erprobung nach der bestehenden Rechtslage aufgrund ihrer Innovativität einem Verbot unterliegt. Gesetzgeberisches Mittel, solchen Verboten zu begegnen, sind insbesondere Experimentierklauseln. Experimentierklauseln wirken regelmäßig in dem für die Innovation anwendbaren Fachrecht. In den meisten Fällen schaffen sie Ausnahmetatbestände gerade zu Erprobungszwecken und ermöglichen so ein Abweichen vom bestehenden Rechtsrahmen (siehe z. B. § 2 Abs. 7 PBefG). Sie bieten aber auch Gelegenheit, den bestehenden Rechtsrahmen erprobungs- und innovationsbezogen weiterzuentwickeln. Experimentierklauseln stellen folglich eine Form der Regulierung dar, die gerade dazu dient, Innovationen zu ermöglichen und entsprechend innovationsfördernd wirkt. Verwaltungshandeln im Zusammenhang mit Reallaboren geht oftmals mit Experimentierklauseln einher, ist aber nicht zwangsläufig auf deren Anwendungsbereich beschränkt und kann sich auch aus bestehendem Verwaltungsverfahrensrecht ergeben. Abhängig vom Bestehen einschlägiger Ermächtigungsgrundlagen kann die Verwaltung mit oder ohne Regelungswirkung tätig werden. Denkbar sind beispielsweise der Erlass von Verwaltungsakten, mit denen Erprobungen genehmigt oder ein Nichteinschreiten zugesichert wird. Daneben kann die Verwaltung aber auch beispielsweise durch rein informatorisches Handeln eine Erprobung begleiten und auf diese Weise Rechtsunsicherheit entgegenwirken.

Welche Rolle spielen Reallabore im Rechtsrahmen und in der Innovationsförderung?

Reallabore als Testräume für Regulierung sind ein wichtiges Instrument, um den Rechtsrahmen innovationsfreundlicher zu gestalten. Gelingt dies, ebnen Reallabore den Weg zu einer innovationsfördernden Regulierung. Dabei ermöglichen sie zum einen die Entwicklung von Innovationen, so lange sich diese noch im Erprobungsstadium befinden. Sie bieten vor allem aber auch das Potenzial, wichtige Erkenntnisse über die erforderliche Regulierung von Innovationen im Regelbetrieb, also nach der Erprobungsphase, zu erlangen. Diese Erkenntnisse können – und sollten – in den regulären Regulierungsrahmen übertragen werden, um eine rechtssichere Etablierung der Innovationen zu gewährleisten.
Reallabore als Testräume für Regulierung sind ein wichtiges Instrument, um den Rechtsrahmen innovationsfreundlicher zu gestalten.
Beide Aspekte wirken in die Innovationslandschaft hinein: Für die Erprobungsphase bieten Reallabore einen Rahmen, der für Innovatorinnen und Innovatoren Rechtssicherheit bedeutet. Der Erkenntnisgewinn aus dem Reallabor, einhergehend mit einer nachgelagerten, dauerhaften Anpassung des Rechtsrahmens und die Ermöglichung des Regelbetriebs, schaffen wiederum einen der größten Innovationsanreize, nämlich die Aussicht, die Innovation über die Erprobungszeit hinaus zur Anwendung zu bringen. Vor diesem Hintergrund kommt Reallaboren, die insbesondere auch der Erprobung von Regulierung dienen, eine wichtige Rolle zur Innovationsförderung zu. Doch nicht nur die regulatorischen Erkenntnisse aus den einzelnen Reallaboren wirken innovationsfördernd. Auch die regulatorische Verankerung des Instruments „Reallabor“ dient der Innovationsförderung: Wenn das Instrument des Reallabors zu einem festen Bestandteil in der Regulierungslandschaft wird und Reallabore nach einem einheitlichen Grundkonzept und innovationsfreundlich ausgestaltet werden, dürfte dies zu einer größeren Aufmerksamkeit für die Möglichkeit der Erprobung im Reallabor führen. Vor allem könnte eine solche regulatorische Verankerung eines Grundkonzepts zu gesteigerter Rechtssicherheit dessen, was im Rahmen von Reallaboren möglich ist, führen. Dieser Aspekt der innovationsfördernden Regulierung ist geeignet, das Instrument Reallabor greifbarer und damit anwendungsfreundlicher zu machen. Die Bundesregierung hat die gesetzliche Verankerung von Reallaboren als Ziel im Koalitionsvertrag festgelegt (Koalitionsvertrag 2021, S. 33); das BMWK arbeitet aktuell an der Umsetzung eines Reallabore-Gesetzes (BMWK, 2021: Neue Räume, um Innovationen zur erproben – Konzept für ein Reallabore-Gesetz). Man darf also gespannt sein, wie die Bundesregierung das Potenzial zur Innovationsförderung durch Regulierung ausgestalten wird und wie sich ein Reallabore-Gesetz auf die Innovationslandschaft auswirken wird.