Wirtschaftsrecht war schon immer ein juristisches Gebiet im Wandel. Heute hat das Veränderungstempo weiter zugenommen. Die Digitalisierung treibt die Ökonomie an, politische und soziale Entwicklungen erhöhen die Dynamik weiter. Die Wirtschaftskanzleien reagieren mit Spezialisierungen – mit dem Ziel, alle Trends und Regulierungen im Blick zu haben. Daraus ergeben sich für junge Juristen spannende Aufgaben, zum Beispiel in der Arbeit mit Start-ups oder sich transformierenden Konzernen, im Kartell- oder Zollrecht. Von André Boße
Googelt man den Begriff Volatilität, schlägt die Suchmaschine direkt ein zweites Schlagwort vor: Wirtschaft. Der lateinische Begriff für Flüchtigkeit ist in diesen Zeiten also direkt an die Ökonomie gekoppelt. Die Wirtschaft verändert sich, unterliegt einer Vielzahl von Einflüssen. Und damit wandeln sich auch die Ansprüche, mit denen Unternehmen auf ihre juristischen Berater zukommen. Treiber für die Veränderungen sind die Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung oder demografischer Wandel. Diese Entwicklungen drehen nicht nur an den Stellschrauben der Wirtschaft, sondern definieren Technik und Geschäftsmodelle neu, was in vielen Fällen neue rechtliche Fragen aufwirft, mit denen sich die Wirtschaftskanzleien und ihre Mandanten beschäftigen.
Auf der anderen Seite gibt es politische, technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, die diese Trends unterstützen oder abbremsen. Dabei zeigt sich, dass Wirtschaftsanwälte gut beraten sind, neben dem juristischen Know-how auch das aktuelle Geschehen im Blick zu haben – und zwar weltweit. In der globalen Unternehmenswelt kann jede internationale Entwicklung das Geschäft eines deutschen Mandanten beeinflussen. Es entstehen neue Chancen oder Gefahren, die der Wirtschaftsjurist im Sinne seiner Mandanten auf dem Schirm haben muss.
Der karriereführer recht hat sich in deutschen Wirtschaftskanzleien umgehört und herausgefunden, welche neuen Themen sich durch die vielfältigen Veränderungen ergeben – und welche klassischen Rechtsbereiche an Bedeutung gewinnen, wenn auch unter anderen gesetzlichen Bedingungen. So viel vorweg: Für den Nachwuchs in den Wirtschaftskanzleien ergeben sich durch die Volatilität der Wirtschaft viele reizvolle Arbeitsgebiete.
Wettbewerbsrecht im digitalen Markt
Mit Blick auf das Kartellrecht in Zeiten der Digitalisierung steht mit der 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen eine Änderung bevor. „Das digitale Zeitalter stellt mit seinen rasanten technologischen Entwicklungen neue Herausforderungen an die Wettbewerbspolitik. Gerade internet- und datenbasierte Geschäftsmodelle können schneller zu einer Marktkonzentration führen“, formuliert die Bundesregierung zum Gesetzesvorhaben.
Wichtig auf diesen Märkten sei deshalb, Fusionen besser zu kontrollieren und vor Missbrauch von Marktmacht zu schützen. Der Gesetzesentwurf stelle klar, dass ein Markt im Sinne des Wettbewerbsrechts auch dann vorliegen kann, wenn zwischen den unmittelbar Beteiligten kein Geld fließt. Die Novelle enthält zudem einen Katalog neuer Kriterien, um die Marktstellung von Unternehmen besser zu beurteilen, die auf mehrseitigen Märkten oder in Netzwerken agieren. Quelle: https://goo.gl/2yAVvZ
Juristische Beratung von Start-ups
Als Anwalt den Mandanten duzen? Das Kostüm oder den Zweireiher mit Binder im Schrank lassen? Wer als Wirtschaftsanwalt mit Startup-Unternehmen arbeitet, bekommt es mit einer ganz anderen Kultur als in den Konzernen zu tun. Nicht selten sind die Mandanten ungefähr im gleichen Alter wie die Nachwuchsjuristen, die Stimmung ist locker. „Man darf allerdings nicht glauben, es würde weniger ernsthaft gearbeitet“, sagt Benjamin Ullrich, Assoziierter Partner bei der Wirtschaftskanzlei Flick Gocke Schaumburg in Berlin.
„Junge Entrepreneure, die etwas bewegen wollen, segeln im positiven Sinne hart am Wind und stellen höchste Ansprüche an sich und ihr Team. Gerade weil sie jung und hungrig sind, wird in ihrem Umfeld intensiv und präzise gearbeitet, und das gilt auch für die Anwälte.“ Ein Vorteil der Arbeit mit diesen Mandanten ist, dass man sehr schnell in die Rolle des juristischen Beraters hineinwächst. „In einem Konzern trifft man auf viele Fachabteilungen mit festen Abläufen, zu tun hat man häufig nur mit der Rechtsabteilung. Bei einem Startup ist man als Anwalt Sparringspartner für verschiedenste Themen, oft auch kommerzielle“, sagt Benjamin Ullrich, dessen Kanzlei mit speziell dafür eingeteilten Teams ein großes Portfolio von Startups berät und für diese das Portal „foundersbox.vc“ aufgebaut hat.
Zwar stehen diese Mandate nicht für Transaktionen in Milliardenhöhe. „Häufig haben wir aber mit jungen Unternehmern zu tun, die eine hohe Wertschätzung für erstklassige Beratung mitbringen. Zum Beispiel, weil die Gründer früher selbst in der Beratung tätig waren, oder weil sie bei einem früheren Venture auf rechtliche Probleme gestoßen sind“, beschreibt Ullrich die Ausgangslage. „Die Mandanten wissen daher: Eine schlechte Beratung ist am Ende die teuerste Beratung, darum investieren sie auch in gute Anwälte.“
Was ein junger Anwalt bei der Startup-Beratung mitbringen sollte, ist Freude daran, schnell in der vorderen Reihe zu stehen. „Man muss sich früh eigene Entscheidungen zutrauen, auch wenn noch die Sicherheit fehlt“, sagt Benjamin Ullrich. Wer als Nachwuchskraft dagegen zunächst Teilaufgaben in einem größeren Team bearbeiten wolle, für den sei die Gründerszene nichts.
Digitale Transformation von Unternehmen
Die Kanzlei Kümmerlein Rechtsanwälte & Notare mit Sitz in Essen ist mit derzeit 50 Anwälten die größte Kanzlei des Ruhrgebietes. Zu ihren Mandanten zählen die großen Unternehmen und Konzerne der Region, die sich seit einigen Jahren mit radikalen Wandlungsprozessen beschäftigen, von der Internationalisierung bis hin zur Energiewende. Ein besonders herausforderndes Thema ist die digitale Transformation dieser Unternehmen, wobei mit Blick auf die Industrie die Vernetzung der technischen Anlagen ein bedeutsames Feld ist.
„Es ist absehbar, dass wir mittelfristig viel stärker integrierte Produktionsprozesse haben werden als heute“, sagt Dr. Michael Neupert, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Technikrecht. In Kombination mit der zunehmenden Automatisierung stehen die Unternehmen und ihre juristischen Berater vor der Herausforderung, die vertragliche Regelung sowie die Haftungsfrage für diese automatischen Prozesse zu klären. „Ich bin nicht sicher, ob sich die Wirtschaft schon klar darüber geworden ist, welche grundlegenden Gedanken man sich machen muss, um hier nicht später mühsam den technischen Entwicklungen juristisch hinterherzulaufen“, sagt Neupert.
Die Rolle des Anwaltes ist es, den Unternehmen bei der Verwirklichung der Chancen, die sich aus dem technischen Fortschritt ergeben, Rechtssicherheit zu garantieren. „Die Juristen müssen deshalb eng mit den operativen Abteilungen zusammenarbeiten“, fordert Neupert. Nur so lasse sich verhindern, dass die Anwälte nicht als „theoretisierende Bedenkenträger“ wahrgenommen und schlimmstenfalls gar nicht erst befragt werden. Zwar sei es wichtig, bei dieser Arbeit ein gewisses technisches Interesse mitzubringen, am wichtigsten blieben jedoch die juristischen Kompetenzen. Neupert: „Mit den technischen Aspekten kennen sich die Mandanten in aller Regel selbst gut aus. Gute Juristen sind gerade deshalb gute Juristen, weil sie in komplexen Sachverhalten abstrahierbare Muster erkennen.“
Kartellrecht mit direktem Draht nach Brüssel
Wenn sich Unternehmen im Brüsseler Büro der Wirtschaftskanzlei SZA Schilling, Zutt & Anschütz vorstellen, bringen sie in der Regel Expansionspläne mit oder stehen wegen Kartellabsprachen am Pranger. Der auf Kartellrecht spezialisierte Anwalt Silvio Cappellari stellt für seine Mandanten einen direkten Draht zur EU-Kommission her. Seine Aufgaben: Übernahmen ermöglichen, Bußgelder herunterhandeln, Prüfungen der Kommission möglichst vorteilhaft für seine Mandanten gestalten.
„Follow-On“-Klagen
Als „Follow-On“-Klagen bezeichnet man Schadensersatzklagen, die seitens kartellgeschädigter Unternehmen erhoben werden. Hat ein Mandant also Ärger mit dem Kartellrecht, sind diese „Follow-On“-Klagen im Nachgang an ein Urteil ein weiteres Problem. „Wir Kartellrechtler arbeiten bei der Abwehr solcher Schadensersatzklagen eng mit unseren Litigation-Experten sowie externen Ökonomen zusammen“, sagt Silvio Cappellari von der Wirtschaftskanzlei SZA Schilling, Zutt & Anschütz. Er schätzt, dass sich auf Dauer auch in Europa ein hochspezialisiertes Berufsfeld für „Antitrust Litigators“ entwickeln wird, das in den USA und teilweise auch in Großbritannien bereits existiert.
Klingt nach Routine, doch das Kartellrecht wandelt sich derzeit rasant. Ein Grund ist die Digitalisierung, die eine Fülle von Veränderungen mit sich bringt. Zum Beispiel mit Blick auf den Online-Handel, wo „Bestpreis“-Klauseln von Buchungsportalen oder das Thema Geo-Blocking die Juristen beschäftigen. „Zudem ergeben sich zusätzliche Aspekte für die Beurteilung der Marktposition von Unternehmen in der digitalen Welt“, sagt Silvio Cappellari: Wie stark zum Beispiel muss die Marktmacht bewertet werden, die sich aus Themen wie „Big Data“ oder Netzwerkeffekten ergibt?
Zudem werde es immer wichtiger für einen Kartellanwalt, ein Netzwerk von kartellrechtlichen Experten in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU und darüber hinaus aufzubauen. „Dies gilt zum Beispiel im Bereich der Fusionskontrolle: Durch die effiziente Koordination der Anmeldungen in den verschiedenen Jurisdiktionen kann der Mandant viel Zeit und Geld sparen“, sagt Cappellari. Internationale Kooperation rücke zudem im Bereich der behördlichen Kartellverfahren in den Vordergrund. „Daher versteht es sich von selbst, dass zum Rüstzeug eines jungen Kartellanwalts verhandlungssicheres Englisch gehört. Darüber hinausgehende Sprachkenntnisse sind ein wichtiger Pluspunkt“, so der Kartellrechtsspezialist.
Zollrecht verbindet Recht mit IT
Ein offenes Europa, eine Reihe von internationalen Freihandelsabkommen – die Bedeutung des Zollrechts schien zurückzugehen. Doch spätestens die Entscheidungen pro Brexit und der Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trumps, die Zölle für Einfuhren zu erhöhen, zeigen, dass dieser Rechtsbereich wichtig bleibt. „Alle Unternehmen, die Waren über Grenzen hinaus liefern, werden sich damit beschäftigen müssen“, sagt Eva Rehberg, Zollrechts-Expertin bei der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ebner Stolz, bei der viele Anwälte in der Rechtsberatung tätig sind.
Die Arbeit im Zollrecht unterteilt sich in zwei Bereiche, die Abwehr- sowie die Gestaltungsberatung. „Erstere ist eher in die Vergangenheit gerichtet“, sagt Eva Rehberg. Die Juristen unterstützen ihre Mandanten bei Prüfungen durch die Zollbehörde oder begleiten sie im Rahmen von Bußgeld- und Strafverfahren. „Die Gestaltungsberatung ist dagegen eher perspektivisch ausgerichtet“, so die Zollrechtsexpertin. Juristen arbeiten mit den Mandanten zum Beispiel an den Fragen, wie sich das Unternehmen im Zollbereich optimal organisieren lässt und wie Compliance gewährleistet werden kann.
Zwar hat die Digitalisierung in diesem Rechtsbereich vergleichsweise spät Einzug gehalten, dafür ist sie heute sehr weit fortgeschritten. „Zollanmeldungen für die Einfuhr oder Ausfuhr von Waren werden nicht mehr auf Papier abgegeben, sondern über ein spezielles IT-System. Bei den Zollprüfungen kommen Datenanalysetools zum Einsatz, die Mandanten erstellen ihre Anmeldungen ebenfalls mit Hilfe der IT“, sagt Eva Rehberg. Auf Juristen, die im Bereich Zoll tätig sein möchten, komme daher eine spannende Mischung aus „klassischer juristischer Arbeit und IT-Prozessen zu“, wie Eva Rehberg sagt. „Der Nachwuchs sollte neben den juristischen Kenntnissen eine Affinität zu Zahlen, Daten und ITSystemen mitbringen.“
Buchtipp
Durch den Unionszollkodex ist eine Reform gelungen, die die Rahmenbedingungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs erheblich verändert. Das Buch liefert einen Überblick über die Struktur und den Aufbau des neuen Rechts und vermittelt die Prinzipien und Hintergründe der Modernisierung. So und über einen Abgleich mit den Vorgängerregelungen des Zollkodex sind die zahlreichen Neuerungen zu verstehen. Peter Witte, Reginhard Henke, Nadja Kammerzell: Der Unionszollkodex (UZK). Bundesanzeiger 2017. 39,80 Euro.