Mit dem ZPO-Reformgesetz aus dem Jahr 2002 und der Aufnahme von § 128a ZPO hat der Gesetzgeber die rechtliche Grundlage für Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung geschaffen. Seitdem führte § 128a ZPO ein Schattendasein und wurde erst im Zuge der Corona-Pandemie wiederentdeckt. Von Isla Brose, Rechtsanwältin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland, spezialisiert auf Dispute Resolution und Vertreterin von Mandanten sowohl in staatlichen Gerichtsverfahren als auch in nationalen und internationalen Schiedsverfahren
128a Abs. 1 ZPO ermächtigt die Gerichte, den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen zu gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem „anderen Ort“ als dem Gerichtssaal aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Dies ist auf Antrag der beteiligten Parteien oder von Amts wegen möglich. Trifft das Gericht die Entscheidung, die Verhandlung als Videoverhandlung durchzuführen, wird diese in Bild und Ton zeitgleich an den „anderen Ort“ sowie in das (weiterhin öffentlich zugängliche) Sitzungszimmer des Richters übertragen. So wird sichergestellt, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz gewahrt bleibt.
Virtuelle Gerichtsverhandlungen auf dem Vormarsch
Die Gerichte haben in der Vergangenheit von diesen Möglichkeiten zurückhaltenden Gebrauch gemacht. Das lag zum einen an der mangelnden technischen Ausstattung der Gerichte und zum anderen an einer gewissen Unsicherheit im Umgang mit den rechtlichen und technischen Herausforderungen im Zusammenhang mit virtuellen Verhandlungen. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkung des Gerichtsbetriebs hat sich die Videoverhandlung als probates Mittel etabliert, um auch in Krisenzeiten die Funktionsfähigkeit der Justiz sicherzustellen. Der zunächst notgedrungene Rückgriff auf § 128a ZPO hat der Videoverhandlung zum endgültigen Durchbruch verholfen, sodass davon auszugehen ist, dass viele Gerichte auch nach Rückkehr zum Regelbetrieb hiervon Gebrauch machen werden.
Vor- und Nachteile virtueller Verhandlungen
Die Vorteile der virtuellen Verhandlung liegen auf der Hand: Den Beteiligten wird eine unter Umständen weite Anreise zum Gerichtsort erspart. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch die Kosten der Anreise, Übernachtung, Verpflegung und Anwaltshonorar. Ein Nachteil liegt aber darin, dass virtuelle Verhandlungen störanfällig sein können. Ihre erfolgreiche Durchführung hängt in vielen Fällen von der Technikaffinität und sorgfältigen Vorbereitung durch die Beteiligten ab. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass virtuelle Verhandlungen auf die unmittelbare persönliche Wahrnehmung der Parteien und Zeugen verzichten. Dies ist eine Lockerung des für Zivilverhandlungen geltenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes.
Eine virtuelle Verhandlungssituation kann daher unter Umständen nicht jeder Art von gerichtlicher Auseinandersetzung, bei der es zum Beispiel auf die Glaubhaftigkeit widerstreitender Zeugenaussagen ankommt, gerecht werden. Dennoch dürften Videoverhandlungen fortan einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Zivilprozess künftig effizienter und moderner zu gestalten.