Gewalt am Arbeitsplatz kann unterschiedlichste Formen und Ausprägungen haben. Dr. Holger Pressel erklärt im Interview, ab wann von Gewalt gesprochen werden kann, wie man ihr begegnen sollte und welche Rolle Juristinnen und Juristen dabei übernehmen können. Die Fragen stellte Christoph Berger
Zur Person
Dr. Holger Pressel, studierter Politik- und Verwaltungswissenschaftler mit den Schwerpunkten „Management“ und „Arbeit und Soziales“, ist stellvertretender Leiter der Stabsstelle Unternehmenskommunikation/ Politik bei der AOK Baden-Württemberg. Nebenberuflich ist er Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen.
Herr Dr. Pressel, Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Thema Gewalt am Arbeitsplatz. Welche Formen der Gewalt identifizierten Sie dabei?
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) definiert „Gewalt am Arbeitsplatz“ als Vorkommnisse, bei denen Be schäftigte bei ihrer Arbeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen werden. An diesem umfassenden Verständnis von Gewalt orientiere ich mich: Es geht also um Dinge wie Beleidigungen, Kränkungen, Bedrohungen, Mobbing, Diskriminierung, Stalking, sexuelle Belästigung, aber auch um körperliche Übergriffe. Kurz gesagt: Um alle Formen von Gewalt, um psychische und physische.
Ab wann kann überhaupt von Gewalt gesprochen werden?
Das ist eine gute Frage! Das Empfinden von Gewalt ist sehr unterschiedlich. Insbesondere was Phänomene wie etwa Kränkungen, aber auch Bedrohungen angeht: Was eine Person als Kränkung oder Bedrohung wahrnimmt, kann für eine andere „nicht der Rede wert“ sein. Anders sieht es natürlich bei körperlichen Übergriffen aus: Wenn etwa in einem Jobcenter oder einer anderen Behörde ein Messer oder ein Hammer zum Einsatz kommt, dann ist der Fall eindeutig.
Gibt es einen Zeitpunkt, an dem man ‚hellhörig‘ werden sollte, an dem Grenzen überschritten werden?
Spätestens wenn Beschäftigte Angst haben oder nicht respektvoll behandelt werden, sind Grenzen überschritten.
Kann jede/jeder Opfer solcher Gewaltformen werden oder gibt es besonders gefährdete Menschen? Theoretisch kann natürlich jeder Mensch Opfer werden. Tatsächlich hängt das Risiko stark davon ab, in welchem Wirtschaftszweig bzw. welcher Branche man arbeitet. Tendenziell ist der öffentliche Dienst eine Gefahrenzone. Vor allem Polizistinnen und Polizisten, aber auch Vollstreckungsbeamte sowie Beschäftigte von Behörden sind nicht selten Opfer von Gewalt: Im Jahr 2019 gab es 36.959 Fälle von „Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf die Staatsgewalt“. Dies entspricht einer Zunahme binnen eines Jahres um über acht Prozent! Auch im Gesundheitsund Sozialwesen gibt es vergleichsweise viele Fälle von Gewalt: Bei psychiatrischen Krankenhäusern entfällt mehr als jeder zweite Arbeitsunfall auf einen Gewaltunfall! In Pflege- und Altenheimen sind es etwa 16 Prozent in allgemeinen Krankenhäusern 5 Prozent.
Bei den meisten Übergriffen stehen nicht körperliche, sondern psychische Folgen im Vordergrund. Das können Schlafstörungen, Angst, Stress und Verunsicherung sein, aber auch Depressionen, Selbstzweifel, Ohnmacht und der Wunsch, die Tätigkeit oder auch den Arbeitgeber zu wechseln.
Und gibt es die typische Täterin/den typischen Täter?
Vor allem bei Fällen von körperlicher Gewalt, aber auch bei sexueller Belästigung und Stalking ist der Täter zumeist männlich.
Welche Folgen haben diese Formen der Gewalt für die Betroffenen?
Die Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz können vielfaltig sein und hängen natürlich auch von der Form der Gewalt ab: Ein Messerangriff hat andere Auswirkungen als ‚nur‘ eine Beleidigung. Bei den meisten Übergriffen stehen nicht körperliche, sondern psychische Folgen im Vordergrund. Das können Schlafstörungen, Angst, Stress und Verunsicherung sein, aber auch Depressionen, Selbstzweifel, Ohnmacht und der Wunsch, die Tätigkeit oder auch den Arbeitgeber zu wechseln.
Sie haben zudem festgestellt, dass Gewalt am Arbeitsplatz zunimmt. Haben Sie für diese Zunahme Erklärungen?
Die Gewalt in der Arbeitswelt ist auch ein Ausdruck der ‚Verrohung‘ der Gesellschaft. Viele Menschen sind in Folge zahlreicher Veränderungen ihres Lebens verunsichert. Dies führt bei einigen zu einem Gefühl von Bedrohung und der Suche nach einem Sündenbock als Ventil für ihre Frustrationen. Auch das Internet und die sozialen Medien spielen eine wesentliche Rolle: Dort ist die Sprache häufig viel aggressiver als in der persönlichen Kommunikation. Bei intensiver Nutzung dieser Medien sinkt dann auch die Hemmschwelle, tatsächlich Gewalt anzuwenden. Dies gilt auch im Falle des übermäßigen Konsums von Alkohol.
Holger Pressel: Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz. Haufe 2020, 39,95 Euro.
Was kann unternommen werden, damit es überhaupt nicht erst zu solchen gewalttätigen Situationen kommt?
Maßnahmen der Gewaltprävention sollten sich an dem sogenannten ‚TOP-Prinzip‘ orientieren, wobei das ‚T‘ für technische, das ‚O‘ für organisatorische und das ‚P‘ für personenbezogene Schutz- beziehungsweise Präventionsmaßnahmen steht. Dabei sollten die einzelnen Maßnahmen nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern vielmehr intelligent kombiniert werden. Die relative Bedeutung der einzelnen Dimensionen hängt von der Form der Gewalt ab: So hilft etwa bei Mobbing ein vorhandener Alarmknopf wenig. Aspekte der Deeskalation sollten bereits bei der Unternehmenskultur beginnen. Nur wenn das Thema „Gewalt am Arbeitsplatz“ in all seinen Facetten enttabuisiert wird, können Präventionsmaßnahmen auf den Ebenen von Technik, Organisation und Personal tatsächlich greifen. Wenn Beschäftigte beispielsweise den Eindruck haben, von Vorgesetzten als ängstlich, überempfindlich oder überfordert angesehen zu werden, wenn sie Fälle von Gewalt melden, dann fehlt die Basis sowohl für künftige Meldungen als auch für erfolgversprechendes Präventionshandeln. Bestandteil einer sicherheits- beziehungsweise präventionsorientierten Unternehmenskultur sollte auch ein klares Bekenntnis zu einer Nulltoleranz-Strategie gegenüber jeder Form von Gewalt sein.
Kommt es zu Gewalt am Arbeitsplatz: Wie sollten Betroffene vorgehen, an wen können sie sich wenden?
Da wie schon ausgeführt die psychischen Auswirkungen dominieren, ist die psychologische Erstbetreuung etwa durch Kolleginnen und Kollegen oder durch Vorgesetzte besonders wichtig. Die Betroffenen dürfen nicht allein gelassen werden.
Welche Rolle können Juristinnen und Juristen dabei übernehmen, ab wann sollten sie zum Einsatz kommen?
Für Juristinnen und Juristen sehe ich mehrere Einsatzmöglichkeiten: Im Akutfall können auch sie – wie grundsätzlich alle Beschäftigte – im oben beschriebenen Sinne als kollegiale Ersthelferinnen beziehungsweise -helfer behilflich sein. Darüber hinaus können sie aber auch durch ihre spezielle Qualifikation auch andere wichtige Aufgaben übernehmen wie etwa die Formulierung von wichtigen Schriftsätzen im Kontext von Arbeitsrecht. Ein Beispiel: Geht die Gewalt von einer betriebsinternen Person aus und ist diese nicht einsichtig, dann sollte eine Juristin oder ein Jurist ins Spiel kommen und beispielsweise eine Abmahnung oder auch eine Kündigung formulieren.
Kann die sogenannte CSR-Richtlinie auch einen Beitrag zur unternehmensinternen Bekämpfung von Gewalt am Arbeitsplatz leisten – ist sie nicht auch ein Instrument zur Schaffung von Transparenz?
Ja, auch solche Instrumente können zumindest indirekt einen wertvollen Beitrag leisten. Allein schon deswegen, weil Unternehmen, die das Thema „CSR“ – also die soziale und gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen – ernst nehmen, in aller Regel auch eine andere, eine bessere Unternehmenskultur haben als andere Unternehmen. Gewalt am Arbeitsplatz kann man nur durch ein Maßnahmenbündel eindämmen.