karriereführer-Autorin Sonja Theile-Ochel im Gespräch mit Dr. André Stahl über seinen Werdegang als Jurist mit starker Sehbeeinträchtigung, die Herausforderungen des Betreuungsrechts und die Schlüsselrolle von Willensstärke und Offenheit.
Zur Person
Dr. André Stahl, Jahrgang 1988, kam mit einer starken Sehbeeinträchtigung auf die Welt: auf einem Auge komplett blind, auf dem anderen fast. Er kämpfte sich durch, machte sein Abitur, studierte danach in Münster Rechtswissenschaften und promovierte. Heute ist er Betreuungsrichter an einem Amtsgericht im Sauerland.
Herr Dr. Stahl, Sie haben mit Ihrer starken Sehbeeinträchtigung Rechtswissenschaften studiert, promoviert und arbeiten als Betreuungsrichter. Was hat Sie dazu bewogen, diesen Weg einzuschlagen, und wie haben Sie es geschafft, Hindernisse zu überwinden?
Mir war es immer wichtig, einen Beruf auszuüben, in dem ich das Gefühl habe, etwas erreichen zu können. Der Beruf des Richters ist sehr vielfältig und man beeinflusst – gerade als Betreuungsrichter – wesentliche Bereiche des Lebens anderer Menschen. Das Betreuungsrecht wird während des Studiums kaum gelehrt. Ich selbst wusste nicht, wie groß seine praktische Bedeutung ist, bevor ich als Betreuungsrichter gearbeitet habe. Für das Überwinden von Hindernissen gibt es kein Patentrezept, jedenfalls kenne ich keins. Es hilft aber, Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein und bei Misserfolgen nicht den Mut bzw. den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu verlieren. Letztendlich entscheidet oft die Willensstärke, ob es einem gelingt, Hindernisse zu überwinden, oder ob man irgendwann aufgibt.
Was umfasst das Tätigkeitsfeld eines Betreuungsrichters?
Als Betreuungsrichter entscheide ich darüber, ob jemand, der mit einer Erkrankung bzw. Behinderung lebt, einen rechtlichen Betreuer bekommt, der diesen bei der Wahrnehmung seiner Angelegenheiten unterstützt. Ich muss auch tätig werden, wenn es beispielsweise Konflikte zwischen dem Betreuten und seinem Betreuer gibt. Darüber hinaus kommt es zu Situationen, in denen psychisch kranke Menschen auf einer geschlossenen psychiatrischen Station behandelt werden müssen, weil sie sich selbst schweren Schaden beizufügen drohen, aufgrund ihrer Erkrankung aber nicht in der Lage sind, dies zu erkennen. Dann geht es um die Frage, ob jemand gegen seinen Willen unterzubringen ist oder zwangsweise Medikamente zu verabreichen sind. Es sind also oft Situationen, in denen die Betroffenen hoch belastet sind und in denen meine Entscheidungen weitreichende Konsequenzen für deren Zukunft haben können.
Wie beeinflusst Ihre Blindheit Ihren Alltag und Ihre Entscheidungsfindung als Richter?
Gibt es spezielle Strategien oder Technologien, die Ihnen bei der Arbeit helfen? Für mich sind Routinen sehr wichtig. Bei bekannten Abläufen bin ich nicht in gleicher Weise auf meine Sehfähigkeit angewiesen wie bei unbekannten Dingen. Ich profitiere davon, dass ich mein Gedächtnis seit frühester Kindheit trainiert habe und daher zumeist in der Lage bin, mir Sachverhalte gut einzuprägen. Denn alles, was in meinem Kopf gespeichert ist, muss ich nicht erst mühsam suchen und nachlesen. Dies kommt mir in meinem richterlichen Alltag zu Gute. Außerdem kann ich auf eine Vorlesesoftware zurückgreifen, wenn ich ein längeres Schriftstück, beispielsweise ein psychiatrisches Gutachten, nicht selbst lesen möchte. Überdies werde ich in meinem richterlichen Alltag durch eine Assistenzkraft unterstützt, die mich beispielsweise zu meinen Terminen begleitet oder handschriftliche Notizen in den Akten vorliest.
Willensstärke entscheidet, ob man Hindernisse überwindet oder aufgibt.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie Menschen begegnen, die von der Gesellschaft oft bemitleidet oder übersehen werden. Glauben Sie, dass Ihre eigene Behinderung Ihnen ein besonderes Einfühlungsvermögen verleiht, um mit diesen Menschen umzugehen?
Ich würde jetzt nicht pauschal behaupten, dass ich über mehr Einfühlungsvermögen verfüge als vollsehende Kollegen. Deshalb denke ich nicht, dass ich als Richter besser (oder schlechter) geeignet bin als andere Kolleginnen und Kollegen. Natürlich kenne ich das Gefühl, in bestimmten Situationen auf Unterstützung angewiesen zu sein. Dieses Gefühl empfinden auch viele Menschen, über die ich als Betreuungsrichter Entscheidungen treffe.
Herausforderungen oder auch Widerstände gab es während Ihrer juristischen Ausbildung?
Während des Studiums gab es natürlich Hindernisse, die ich nicht zu bewältigen gehabt hätte, wenn ich bessere Augen hätte – so war ich nicht in der Lage, PowerPoint- Präsentationen von der Wand zu lesen oder schnell einen bestimmten Paragraphen im Gesetz zu finden. Widerstände oder Vorbehalte in dem Sinne, dass man mich aufgrund meiner Einschränkung abgelehnt hätte, gab es aber keine mehr. Solche Widerstände sind vor allem während meiner Schulzeit aufgetreten, beispielsweise als meine Eltern versucht haben, mich an einer Regelgrundschule einzuschulen.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass die Inhalte und Prozesse der Justiz für Menschen mit Behinderungen – nicht nur für Richter, sondern auch für Angeklagte, Zeugen oder andere Beteiligte – zugänglicher werden?
Die Justiz hat die Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen. Dazu gehört auch, dass sie ihre Entscheidungen verständlich erklärt, um bei rechtsuchenden Bürgern auf Akzeptanz zu stoßen. Daher muss es ein wichtiges Anliegen sein, die Inhalte ihres Tätigwerdens so darzustellen und zu erklären, dass jeder – egal mit welcher Einschränkung er lebt – die Möglichkeit hat, diese zu verstehen. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass bestimmte Inhalte in größerer Schrift oder leicht verständlicher Sprache bereitgestellt werden. Gelingt dies nicht, verliert die Justiz ihre Akzeptanz und damit letztendlich auch das Vertrauen der Bürger.
Als Betreuungsrichter müssen Sie schwierige Entscheidungen treffen, die das Leben anderer Menschen direkt beeinflussen. Gehen Sie aufgrund Ihrer Beeinträchtigung anders an Entscheidungen herangehen als sehende Kollegen?
Ich würde behaupten, dass ich mich gut in andere Menschen hineinversetzen kann. Dies erleichtert es mir, einen Zugang zu anderen Menschen zu finden und an ihrer Situation Anteil zu nehmen. Diese Fähigkeit hat aber nicht unbedingt etwas mit meiner fehlenden Sehkraft zu tun und unterscheidet mich daher nicht von vollsehenden Kollegen. Vielleicht gelingt es mir, der einen oder anderen Besonderheit im Leben der Betroffenen ein wenig mehr Verständnis entgegenzubringen, weil ich weiß, dass Lebenswege manchmal ungewöhnlich sein können. Daran, dass ich meine Entscheidungen anders treffe als vollsehende Kollegen oder selbst anders entscheiden würde, wenn meine Augen besser wären, daran glaube ich aber nicht.
Menschen mit Behinderungen, die ähnliche Herausforderungen durchleben wie Sie – was würden Sie ihnen mitgeben, wenn sie sich berufliche Ziele setzen? Gibt es Prinzipien oder Lebensweisheiten, die Ihnen selbst geholfen haben?
Diesen Menschen würde ich mitgeben wollen, dass sie nicht auf eine Einladung der Gesellschaft warten oder jemanden um Erlaubnis fragen sollten, bevor sie sich ihre eigenen Ziele setzen. Sie sollten ihr Leben planen und sich fragen: „Wo möchte ich in zehn Jahren stehen?“ Dann sollten sie damit beginnen, ihren Plan in die Tat umzusetzen, immer einen Schritt nach dem anderen. Wer es schafft, den Fokus zu halten, sich von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen und diszipliniert seine Ziele zu verfolgen, hat eine größere Erfolgswahrscheinlichkeit.
Redaktionstipp:
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