Die künstliche Intelligenz macht den entscheidenden Schritt. Sie ist generativ, erzeugt also Texte, Kontexte, Modelle und vieles mehr. Für Kanzleien wird die Technologie damit zum Co-Piloten. Kanzleien, die KI klug und weitsichtig einsetzen, arbeiten effizienter, finden neue Geschäftsmodelle, binden Mandanten und bauen Fachwissen aus. Einfach loslegen sollte man aber nicht: Der Kurs muss stimmen und der Komplexität des Themas gerecht werden. Ein Essay von André Boße
Künstliche Intelligenz ist zum Dauerthema geworden. Aus einer Technik für die Zukunft ist eine Technologie geworden, die bereits für sehr viele Menschen im Alltag erlebbar ist. KI schreibt Texte und übersetzt sie. Sie erschafft Bilder oder manipuliert Fotos. Sie erkennt menschliche Stimmen oder macht sie nach. Die Rede ist an dieser Stelle von der generativen KI, also einer Technik, die neue Inhalte erzeugt: Texte, Computercodes, Videos, Prozesse, Strukturen. Was die generative KI erschafft, kann lustig oder verstörend sein. Beinahe täglich gehen neue Geschichten aus der KI-Welt durch die Medien. Was hier wichtiger ist: Die generative KI kann hilfreich sein und zu einer hohen Effizienz beitragen. Und das ist für Kanzleien hochinteressant. Denn Hilfe zu mehr Effizienz können sie alle gebrauchen.
Dass generative KI in den Kanzleien eine Rolle spielen wird, daran zweifelt kaum jemand in der Branche.
Start in den USA, Deutschland zögerlich
Dass generative KI in den Kanzleien eine Rolle spielen wird, daran zweifelt kaum jemand in der Branche. In der Recherche für diese Texte zeigte sich jedoch, dass in Deutschland viele Akteure aktuell recht vorsichtig erste Schritte gehen. Man nähere sich dem Thema an, hieß es bei Anfragen, noch sei aber nichts spruchreif. In den USA ist man schon ein Stück weiter, was Studien und Meinungsbeiträge von amerikanischen Autorinnen und Autoren belegen. „In der juristischen Welt beispielsweise untersuchen Anwaltskanzleien und andere das Potenzial der KI schon seit langem – und nutzen es für praktische und manchmal bahnbrechende Zwecke“, schreibt etwa die Fachjournalistin Suzanne McGee in einem Fachbeitrag für das Branchen- und Finanzportal LexisNexis.
Generative KI im Rechtswesen ist Wachstumsmarkt
Laut einer Meldung des Digital-News-Portals Tech Market Reports prognostizieren Finanzexpert*innen, dass der globale Markt für generative KI im Rechtswesen bis 2032 voraussichtlich eine Marktgröße von etwa 675,1 Millionen Dollar erreichen wird. 2022 lag das Volumen bei 49,8 Millionen. Die prognostizierte durchschnittliche jährliche Wachstumsrate für den Zeitraum von 2023 bis 2032 beträgt damit 30,7 Prozent. Vorangetrieben werde der Markt durch den Einsatz von KI in den Kanzleien, den zunehmenden Bedarf an Automatisierung von Rechtsprozessen sowie die steigende Nachfrage nach personalisierten Rechtsdienstleistungen. Die Region Nordamerika werde dabei voraussichtlich der größte Markt für generative KI im Rechtswesen sein; hier gebe es bereits eine große Zahl von Kanzleien und Rechtstechnologieunternehmen, die generative KI-Lösungen einsetzen. Europa wird hier auch als wichtiger Markt benannt, muss aber aufpassen, das Wachstum nicht zu verpassen.
Grundlage für ihre Überlegungen ist eine Umfrage, deren Ergebnisse LexisNexis im August 2023 veröffentlicht hat. Danach sagt etwa die Hälfte aller Anwälte, dass generative KI-Tools die Rechtspraxis erheblich verändern werden; fast alle glauben, dass sie zumindest einen gewissen Einfluss haben werden (92 Prozent). 77 Prozent sind der Meinung, dass generative KITools die Effizienz von Anwälten, Rechtsanwaltsgehilfen oder Rechtsreferendaren steigern werden; 63 Prozent glauben auch, dass generative KI die Art und Weise, wie Recht gelehrt und studiert wird, verändern wird.
Experimente und neue Funktionen
Klar sei, dass dieser Wandel nicht auf Knopfdruck passiere. Suzanne McGee ist der Auffassung, dass sich die Branche aktuell in einer Phase der ersten Experimente befinde. „Wobei riesige globale Partnerschaften die Lernkurve schnell nach oben schieben“, wie sie schreibt. Für ihren Beitrag sprach die Journalistin mit der Juristin Danielle Benecke, die in der Wirtschaftskanzlei Baker McKenzie im Jahr 2021 eine Position mit völlig neuer Funktion übernahm: Sie leitet seitdem den Bereich Machine Learning – also ein Ansatz für KIInnovationen im Rechtsbereich. „Wir arbeiten hier an der Frage, wie maschinelles Lernen und andere Arten von KI mit unserem Fachwissen kombiniert werden können, um neue Dienstleistungen zu schaffen“, wird Danielle Benecke in dem Beitrag zitiert. Ihr Team untersucht also, wie sich in der Kanzlei generative KI und maschinelles Lernen auf den strategischen Entscheidungsprozess anwenden lassen.
Baker McKenzie habe dafür kritische Aufgaben untersucht, die für Anwältinnen und Anwälte mit herkömmlichen Recherchetools nur mit enormem Zeitaufwand zu bewältigen wären. Ein Dauerbrenner für die Mandanten von Baker McKenzie sei es zum Beispiel, globale Handelssanktionen zu verstehen und die damit verbundenen Risiken zu identifizieren. Mit Hilfe einer generativen KI und Data Science untersucht die Kanzlei die Lieferketten der Mandanten, analysiert die ihnen bereitgestellten Daten sowie Daten aus öffentlichen Quellen. Das Ziel? „Risiken zu identifizieren – in großem Umfang und schnell“, wird Danielle Benecke zitiert. Und das funktioniere, denn: „Wenn man das in großem Maßstab macht, entdeckt man Dinge, die Menschen allein vielleicht nicht erkennen würden.“
Genau hier ergibt sich aber auch ein Problem – eines, das die Fachautorin Suzanne McGee als „Kinderkrankheiten einer Technik, die noch in den Kinderschuhen steckt“ bezeichnet. So besitze generative KI die „unglückliche Angewohnheit, Dinge zu erfinden“. Oder anders gesagt: Statt zuzugeben, sie habe keine Ahnung, füllt sie ihre Wissenslücken mit Eigenkreationen – oder auch: Halluzinationen. Nun sind falsche Inhalte im Rechtsbereich fatal, weshalb es laut Suzanne McGee einen großen Bedarf an „zuverlässigen Werkzeugen“ gebe, „die auf die sehr spezifischen Anforderungen von Anwälten zugeschnitten sind“. An diesen werde aber gearbeitet, und sind sie verfügbar, werde die generative KI den nächsten Schritt gehen. Wo der Weg enden wird? Suzanne McGees Prognose: „KI wird die Anwälte nicht ersetzen, aber Anwälte, die KI nutzen, werden Anwälte ersetzen, die das nicht tun.“
Mehr Empathie wagen
Die verstärkte Konzentration auf das Zuhören und das Verstehen der Ziele der Klienten und Gegenparteien wird es Anwälten ermöglichen, Probleme, Ziele und Muster zu erkennen und somit ein Urteilsvermögen zu entwickeln.
Worauf es konkret in den Kanzleien ankommt, formulieren die US-Juristen Michael A. Gerstenzang und David Stiepleman in einem Meinungsbeitrag für das Business- und Legal-News- Portal Bloomberg Law. Ausgehend von der Frage, wofür Anwälte in einer KI-Kanzleiwelt benötigt werden, schlagen die beiden Autoren ein Umdenken bei den Skills vor. Ihre bemerkenswerte Forderung: Mehr Empathie wagen. „Generative KI kann den Anwälten Arbeit abnehmen und ihnen Zeit zum Nachdenken schenken, aber das ist nur wertvoll, wenn der Mensch auch weiß, worüber er nachdenken soll.“ Das nötige Gedankenfutter lieferten zum Beispiel die Mandanten: „Die verstärkte Konzentration auf das Zuhören und das Verstehen der Ziele der Klienten und Gegenparteien wird es Anwälten ermöglichen, Probleme, Ziele und Muster zu erkennen und somit ein Urteilsvermögen zu entwickeln.“ Alles dies führt zu einem neuen Wissen, die sich wiederholenden Arbeiten könne man derweil dem KI-Kopiloten überlassen.
Vier Felder für Wachstum
In welchen Bereichen generative KI den Kanzleien neue Geschäftsfelder eröffnen kann, zeigt ein Beitrag des nordamerikanischen Legal-Tech- und Digital-Nachrichtendiensts Thomson Reuters aus dem Herbst 2023. Die Autorinnen und Autoren nennen vier Felder:
- Erstens die Kapazität, ausgehend von der Kalkulation: Wenn die KI Routineaufgaben übernimmt, bleibt mehr Zeit für die strategische Geschäftsentwicklung.
- Zweitens die Reaktionsfähigkeit: KI biete die Chance, schneller auf Mandantenanfragen zu reagieren, Kundendaten zu analysieren und via Cross-Selling weitere Rechtsdienstleistungen anzubieten.
- Drittens die Erstellung von Inhalten im Sinne hochwertiger Inhalte für Blogs, Soziale Medien oder andere Plattformen.
- Viertens die Analyse des Marktes und der Wettbewerber, um Nachfragelücken und neue Geschäftschancen zu identifizieren.
Wie aber ist der Stand in Deutschland? Antworten auf unsere Fragen gab es von SKW Schwarz. Die Kanzlei betreibt vier Standorte in Deutschland, tätig sind dort rund 130 Anwältinnen und Anwälte. Fokusthemen sind juristische Fragen, die sich für Unternehmen aus der digitalen Transformation ergeben. SKW Schwarz arbeitet zu KI-Themen mit den Mandanten. Wie aber werden die Möglichkeiten der Zukunftstechnik im Alltag der Kanzlei genutzt? „Wir setzen generative KI zur Erstellung von rechtlichen und sonstigen Dokumenten ein und erzielen damit bisweilen schon deutliche Effizienzsteigerungen“, sagt Stefan C. Schicker, Partner bei SKW Schwarz. Bei der Recherche und Analyse von Rechtsmaterialien verbesserten KI-gestützte Tools die Genauigkeit und Geschwindigkeit. Mit einigen Anbietern befinde sich die Kanzlei darüber hinaus in Testphasen, geprüft werde zum Beispiel der Einsatz im Wissensmanagement:
Generative KI in Rechtsabteilungen der Unternehmen
In vielen Unternehmen finden KI-Lösungen Einzug. Die Rechtsabteilungen sollten hier nicht hintenanstehen, ist der Rat in einem Report von Deloitte.Legal mit dem Titel „Generative AI: A guide for corporate legal departments“. Die Autor*innen nennen hier eine Reihe von Anwendungen, stets gekoppelt an die Frage, was das für die menschliche Arbeit bedeutet: Wie hoch wäre der Aufwand für den Menschen, die Aufgabe ohne KI zu übernehmen – und wie hoch ist der menschliche Aufwand, der erforderlich ist, die Arbeit der KI zu überprüfen? Beispiele für den Einsatz von generativer KI in Rechtsabteilungen sind laut Deloitte-Report die Analyse von Falldaten bei Rechtsstreitigkeiten oder kommerziellen Vertragsabschlüssen, aber auch die Nutzung der Rechenleistungen bei M&A-Projekten und detaillierten Due- Diligence-Prüfungen. Auch im Wettbewerbs- und Kartellrecht sowie bei der Compliance könne die generative KI schnell und aktuell Regelungen und Rechtsordnungen analysieren, um mögliche Verstöße schnell und zuverlässig anzuzeigen.
„Interne Dokumentation, Auswertungen und semantische Suchen von beispielsweise Vertragsklauseln innerhalb der Kanzlei können KI-gestützt ablaufen, um das eigene Wissen effizient zu verwerten“, sagt Stefan C. Schicker. Eine weitere Möglichkeit sieht er im Bereich der Herstellung von Vertragsklauseln: „Wir testen KI für vorausschauende Analysen, für automatisierte Compliance-Checks und in der risikobasierten Beratung.“ Das hat Folgen für das Geschäftsmodell der Kanzlei: „Perspektivisch werden sich in der Mandatsarbeit vermehrt Möglichkeiten ergeben, rechtliche Produkte im Rahmen von alternativen Vergütungsmodellen anzubieten“, sagt Stefan C. Schicker, für den klar ist: „Für Kanzleien ergeben sich durch Investitionen in KI-Technik auch neue wirtschaftliche Chancen.“
Risiken analysieren und reduzieren
Neue Chancen bedeuten in der Regel auch neue Risiken. Dies ist bei der Einführung von generativer KI in die Kanzleiarbeit nicht anders: „Mit der KI sind rechtliche Unsicherheiten sowie komplexe Haftungs- und Ethikfragen verbunden“, sagt Stefan C. Schicker. „Besondere Vorsicht ist geboten im Hinblick auf Datenschutz und die Wahrung von Mandatsgeheimnissen, da Fehlinterpretationen oder Sicherheitslücken in KI-Systemen zu Vertrauensverlust und zu Haftungsansprüchen führen könnten“, warnt er. Eine zunehmende Abhängigkeit von Technologie erhöhe zudem Risiken bei Systemausfällen oder fehlerhaften KI-Entscheidungen.
Klar ist: Wer als Talent in den Kanzleien die Nutzung der generativen KI voranbringen will, braucht dafür spezielles Know-how. „Wichtig sind ein technisches Grundverständnis und grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise von KISystemen“, sagt Stefan C. Schicker. Er erwartet zudem eine steigende Spezialisierung in KI-relevanten Rechtsgebieten, zum Beispiel dem IT-Recht, Datenschutzrecht oder Urheberrecht sowie auch bei Haftungsfragen. „Interdisziplinäre Zusammenarbeit, das heißt, die Fähigkeit zur effektiven Zusammenarbeit mit Technikern und Wirtschaftsexperten, wird ebenfalls zunehmend wichtiger. Sie hilft beim Entwickeln von neuen Geschäftsmodellen und wirtschaftlichen Zusammenhängen.“ Kontinuierliche Weiterbildung sei dabei heute ohnehin unerlässlich. „Wegen der rasanten Entwicklung in der KI-Branche ist ein ständiger Marktüberblick erforderlich“, betont Stefan C. Schicker. Das Schöne ist: Auch bei dieser Marktanalyse kann die generative KI helfen – nicht die einzige Win-win-Situation beim Einsatz einer neuen Technologie, die das Potenzial besitzt, eine neue Ära der Arbeit in Kanzleien zu prägen.
Urheberrecht und generative KI
Angenommen, ein Mensch entwickelt eine generative KI, die in der Lage ist, ein eigenes Kunstwerk zu erzeugen – und dies auch tut. Darf der Entwickler der Maschine dafür seine Urheberrechte geltend machen? In den USA kam es im Sommer 2023 zu diesem Fall, berichtet wird über ihn im Blog der Kanzlei CMS, wo Dr. Maximilian Vonthien über diesen Fall schreibt. Das U.S. Copyright Office lehnte die Urheberschaft des KI-Entwicklers mit der Begründung ab, das Kunstwerk sei nicht von einem Menschen geschaffen worden. Kategorisch ausgeschlossen, dass eine solche Urheberschaft möglich sei, hat es aber nicht. Vielmehr komme es im Einzelfall darauf an, wie sehr die Erzeugung vom Menschen beeinflusst oder vorgegeben worden sei. „Bei der Frage, wann eine Urheberschaft eines Menschen an einem KI-generierten Erzeugnis angenommen werden kann, betritt man rechtliches Neuland“, schreibt Dr. Maximilian Vonthien in dem Blog. Was auch heißt: Es wird in naher Zukunft zu interessanten Urteilen kommen; wer als Juristin oder Jurist in diesem Bereich unterwegs ist, sollte die Nachrichtenund Urteilslage im Auge behalten.