Der Rechtsmarkt wandelt sich, die Digitalisierung schreitet voran, Legal-Tech wird in bestimmten Bereichen zum Standard. Die Transformation des juristischen Berufs ist in vollem Gange. Kanzleien zeigen, welche neuen Geschäftsmodelle, Strukturen, Arbeitsteilungen und Vorgänge sich daraus entwickeln. Ein Essay von André Boße
Wie sieht sie aus, die Kanzlei der Zukunft? Wie arbeiten dort die Anwältinnen und Anwälte – und wer ist dort neben den Juristen noch tätig? Welche Formen der Kommunikation mit den Mandanten gibt es? Wie hoch ist der Grad der Digitalisierung – und welche Aufgaben werden von vollautomatischen Systemen übernommen, die mit Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz und Big Data die juristische Arbeit vereinfachen und den Service für die Mandanten erhöhen? Die digitale Transformation macht vor dem Rechtsmarkt nicht halt. Die Pandemie hat den Wandel zusätzlich verschärft, wobei sich die Branche einig ist: Ist Corona vorbei, gerät die Transformation nicht ins Stocken. Im Gegenteil: Die Dynamik bleibt hoch.
Gespräche mit Verantwortlichen aus Kanzleien mit verschiedenen Schwerpunkten und Ansätzen zeigen: Die Branche ist bereit, den Veränderungen gerecht zu werden. Eine Kanzlei, die beim Wandel voranschreitet, ist Chevalier Rechtsanwälte in Berlin. Das Geschäftsmodell fokussiert sich auf das Arbeitsrecht. Die Ansprache gilt Arbeitnehmern, die rechtliche Unterstützung bei einem drohenden Jobverlust suchen. Dabei hat sich die Kanzlei intern in verschiedene Bereiche aufgeteilt: Für die IT, die Kunden-Akquise oder auch die Kommunikation mit den Mandanten sind jeweils Fachkräfte verantwortlich. Die zehn anwaltlich Tätigen kümmern sich um die rein juristischen Aufgaben. Markus Hartung ist Gründer und Geschäftsführer der Kanzlei. Als Rechtsanwalt blickt er auf Stationen als Einzelanwalt, Anwalt und Partner in einer internationalen Großkanzlei, Rechtswissenschaftler sowie Strategieberater zurück. Für den Aufbau der ungewöhnlichen Struktur bei Chevalier hat er mit einer Regelannahme gebrochen – nämlich mit jener, nach der „Anwälte alles können – und alles besser. Die Erfahrung und ungezählte Mandantenzufriedenheitsstudien belegen das Gegenteil.“
Fehlerkultur statt Hierarchien
Beim Aufbau der Kanzlei habe man daher als Team verschiedene Bereiche identifiziert und deren Zuständigkeiten anders geregelt. Dazu zählen: Kommunikation, Workflows, Technologie, Innovation, Produktentwicklung, Personalangelegenheiten sowie die allgemeine Organisation. „Unser Modell erlaubt es, dass jeder das machen kann, was er am besten kann“, sagt Markus Hartung. „Das erhöht die Qualität der Arbeit und die Arbeitszufriedenheit.“ Positiver Nebeneffekt für die Juristen „Die Zusammenarbeit mit anderen Experten wirkt sehr beflügelnd.“ Was die Führungsstruktur betrifft, setzt Chevalier auf das Prinzip New Work: Flache Hierarchien, viel Eigenverantwortung, offene Raumkonzepte und informelle Umgangsformen.
Richterbund: Mehr Tempo bei Digitalisierung
Im Zuge des von der Pandemie ausgelösten Schubs bei der Digitalisierung fordert der Deutsche Richterbund (DRB) einen schnelleren Wandel der Justiz. „Die Ausnahmesituation der Corona-Pandemie hat Lücken in der IT-Ausstattung der Gerichte offengelegt, die es zu beheben gilt“, sagt DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn. Das Verfahrensrecht lasse es bereits seit Jahren zu, dass Zivilprozesse online verhandelt werden können. Das komme insbesondere in einfacher gelagerten Standardfällen in Frage, doch ein Ausweichen darauf sei bislang häufig an fehlender Technik gescheitert.
Diesen kulturellen Wandel spüren auch die potenziellen Mandanten, wenn sie die Homepage der Kanzlei besuchen: Die Juristen verzichten bei ihren Vorstellungen auf die Doktor- oder Professorentitel, stattdessen stellen sie sich mit ihren Vornamen vor. „Es gibt keine Hierarchien, aber eine Fehlerkultur“, sagt Markus Hartung. „Wir sehen diesen neuen Weg als einen Dauerversuch der Balance zwischen Individualität und Rücksicht auf andere.“ Gearbeitet wird – wenn die Pandemie kein Home-Office nahelegt – in offenen Bürostrukturen. „Dadurch, dass wir unsere Anwälte nicht in Einzel- oder Doppelzimmern einsperren, entstehen automatisch Teams und Gruppenarbeit, sodass Neuankömmlinge sich schnell integrieren können“, sagt Markus Hartung. Wer für ein bestimmtes Projekt in Ruhe und alleine arbeiten will, der kann das tun. „Dass man sich diese Rückzugsmöglichkeiten aber suchen muss, ist etwas anderes und Neues, als in einem traditionellen Büro zurückgezogen zu sein – und sich die Kontakte suchen zu müssen.“ Der Grundzustand ist also die Offenheit, nicht die Verschlossenheit.
No-Code-Tools: weitreichend, aber anwenderfreundlich
Eng verbunden mit der Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft ist die Chevalier GmbH, eine Tochter des Fluggast-Entschädigungsdienstleisters Flightright. Als Technologieunternehmen entwickelt die Firma Legal-Tech-Anwendungen, die dann direkt auch der Anwaltsgesellschaft zur Verfügung stehen. So lassen sich zum Beispiel über Schnell-Checks auf der Homepage Kündigungen und Aufhebungsverträge prüfen sowie Abfindungen kalkulieren. Im Düsseldorfer Büro der internationalen Kanzlei McDermott Will & Emery wenden die Juristen Legal Tech Tools vor allem in den Bereichen Dokumentenautomatisierung und -analyse sowie Entscheidungsautomatisierung an. „Dokumente, die im Kanzleialltag immer wieder erstellt werden müssen, werden durch geeignete Software automatisiert, zentral gemanagt und sodann in kürzester Zeit generiert“, sagt Jens Ortmanns, Partner sowie Leiter der europäischen Praxisgruppe Immobilienwirtschaftsrecht. Dadurch ergebe sich eine klar erkennbare Effizienz- und Qualitätssteigerung.
Legal-Tech ohne Anwaltschaft?
Bereits 2019 hat das Justizministerium festgestellt, dass Legal-Tech-Portale, die Rechtsdienstleistungen anbieten oder erbringen, von einer Anwaltschaft betrieben werden müssen. Dies begrüßt der Deutsche Anwaltverein (DAV), der diese Positionierung seit jeher vertritt. „Sobald eine individuelle rechtliche Prüfung und Beratung stattfindet, muss dies der Anwaltschaft vorbehalten sein – allein aus Gründen der Qualitätssicherung und damit des Verbraucherschutzes“, heißt es in einer Mitteilung des DAV. Verbraucher könnten meist weder die Qualifikation eines selbsternannten Rechtsberaters noch die Qualität von dessen Leistung richtig einschätzen. Die Forderung des DAV: „Es darf keinen Rechtsdienstleistungsberuf unterhalb der Schwelle der Anwaltschaft geben.“
Im Bereich der Dokumentenanalyse lasse sich eine solche insbesondere im Bereich der Due-Diligence-Prüfung erreichen. Zum Einsatz kommen hier Programme, die mit Elementen der Künstlichen Intelligenz arbeiten. Die Mitarbeiter nutzen dabei so genannte No-Code-Tools, „also durchaus weitreichende Anwendungen, für die jedoch keine Programmierkenntnisse notwendig sind“, wie Ortmanns sagt. Beispiele hierfür seien Programme wie Lawlift und Bryter: „Mit ihnen lassen sich schnell erhebliche Umsetzungserfolge erreichen, was den Vorteil hat, dass wir niedrigschwellig eine Verknüpfung anwaltlichen Wissens und anwaltlicher Erfahrung mit der eigentlichen Programmierung erreichen.“ So war es der Kanzlei gelungen, zu Beginn der Corona-Krise innerhalb weniger Tage ein Tool für Förderhilfen- Anträge zu entwickeln, mit dessen Hilfe Unternehmen das für sie geeignete staatliche Förderprogramm ausfindig machen konnten. Wann sich Legal-Tech anbietet? „Vor allem dann, wenn es um eine große Zahl gleichgelagerter oder regelmäßig wiederkehrender Arbeitsaufträge geht und man auf einen gewissen Erfahrungswert aus vergangenen Aufträgen zurückgreifen kann. Sprich: im Bereich der ‚commodity work‘“, sagt der Partner – und ergänzt: „Die spezialisierte Individualberatung kann dadurch unterstützt aber nicht ersetzt werden.“
Wirtschaftsrecht: Trends erkennen bleibt Anwaltsaufgabe
Für den juristischen Nachwuchs werde es daher darauf ankommen, einerseits die persönliche Expertise in sich wandelnden Umfeldern zu nutzen, andererseits ein Know-how für ein effizientes Management großer Datenmengen aufzubauen.
Hier komme es auf die gewachsene individuelle Erfahrung sowie das persönliche juristische Urteilsvermögen an. „Das sind Themen, die im Vertrauensbereich liegen und die Rechtsberatung der Anwältin oder des Anwalts als ‚trusted advisor‘ erfordern.“ Auch das Erschließen neuer Rechtsthemen sowie Trends bleibe eine Sache der persönlichen Arbeit – „gerade im dynamischen Bereich des Wirtschaftsrechts treten solche stetig auf“. Für den juristischen Nachwuchs werde es daher darauf ankommen, einerseits die persönliche Expertise in sich wandelnden Umfeldern zu nutzen, andererseits ein Know-how für ein effizientes Management großer Datenmengen aufzubauen. Wer das zusammenbringt, dem gelingt es auch, eine Kompetenz zu erhalten, die in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird, wie Jens Ortmanns sagt: „die Erstellung besser kalkulierbarer Kostenstrukturen“.
Wie aber gelingt es den Kanzleien, die neuen Werkzeuge im laufenden Betrieb zu implementieren? „Vor dem Einsatz von Legal Tech-Tools stand die Erfassung der Ist-Situation“, beschreibt Lars Kuchenbecker, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei der auf Mandanten aus dem Mittelstand fokussierten Stuttgarter Kanzlei Menold Bezler. Die Kanzlei habe bestehende Prozesse analysiert, strategische Aufgaben von operativen abgegrenzt. „Erst danach haben wir uns für eine Legal Tech-Lösung entschieden. Wichtig dabei war und ist, die Lösung auf die Kanzlei- und Arbeitsabläufe abzustimmen, damit alle in der Lage sind, diese Produkte auch tatsächlich in ihren individuellen Workflow einzubauen.“
Rolle als Sparringspartner
Die Aufgabe des Anwalts sei es dabei, den seit Jahren steigenden Erwartungen an „schnelle, pragmatische und auf das Unternehmen zugeschnittene“ Beratung gerecht zu werden. „Um Entscheidungsprozesse zu begleiten und Lösungen für oftmals rechtliches Neuland zu entwickeln, bedarf es mehr als einer Software zur Dokumentenprüfung oder Vertragsgestaltung“, sagt Kuchenbecker. Hier sei der Anwalt als Berater gefragt: „Er ist in der Lage, komplexe Projekte in verschiedenen Lösungsszenarien gemeinsam mit der Geschäftsleitung zu durchdenken und die Entscheidung am Ende mitzutragen.“ Dazu zählte auch die Kompetenz, die geplante Strategie im Vorfeld kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls Alternativen vorzuschlagen. Lars Kuchenbecker versteht seine Arbeit hier auch als jemand, der neben seiner Rolle als Rechtsberater auch als „Sparringspartner und Manager vor allem bei komplexen Projekten“ auftritt.
Digitale Methoden kommen auch hier ins Spiel: „Wir optimieren Prozesse durch technische Unterstützungen, etwa mit FTAPILösungen für einen absolut sicheren Datentransfer oder elektronische Vergabeverfahren.“ Worauf es bei dieser Balance aus Rechtsberatung und digitaler Anwendung besonders ankomme, sei Flexibilität: „Die Dinge drehen sich immer schneller“, sagt Lars Kuchenbecker, „das gilt für uns, den Rechtsdienstleistungsmarkt, aber auch für unsere Mandanten und deren Geschäftsbereiche.“ Sich immer wieder neu einzustellen, dabei auf sich ändernde rechtliche Rahmenbedingungen zu reagieren, darauf komme es an. Was zu großen Herausforderungen für juristische Nachwuchskräfte im Jahre 2021 führt: Sich ständig neu einem Update zu unterziehen, ohne dabei in Sachen Kernkompetenz Kompromisse einzugehen.
Buchtipp
Legal Tech-Strategien für Rechtsanwälte
Das Fachbuch „Legal Tech-Strategien für Rechtsanwälte“ behandelt die berufsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen sowie den regulatorischen Rahmen (wie datenschutz-, haftungs-, versicherungs- und steuerrechtliche Fragen) anwaltlicher Legal Tech-Strategien und regt seine Nutzer*innen an, berufsrechtskonforme Legal Tech-Strategien zu entwickeln und damit rechtssicher Chancen am lukrativen Markt für digitale Rechtsdienstleistungen für sich zu nutzen. Behandelt werden unter anderem die Möglichkeiten und Grenzen nach anwaltlichem Berufsrecht, die Zusammenarbeit mit Legal Tech-Anbietern, datenschutzrechtliche Anforderungen, haftungsund versicherungsrechtliche Aspekte, Sanktionen sowie steuerrechtliche Aspekte. Außerdem zeigen die Autor*innen einen Ausblick auf. Remmertz: Legal Tech-Strategien für Rechtsanwälte. C.H.Beck 2020, 89 Euro.
Justiz und Algorithmen
Richterliche Rechtsfindung ist fehleranfällig. Was unspektakulär klingt, belegen neuere empirische Daten eindrucksvoll. Durch Rationalitätsschwächen kann es zu Verzerrungen und jedenfalls dazu kommen, dass sachfremde Aspekte einfließen. Können Algorithmen und „Künstliche Intelligenz“ dazu beitragen, dass gerichtliche Entscheidungen „rationaler“ werden? Überlegungen zur Automatisierung im Recht sind nicht neu, müssen aber aufgrund neuer technischer Möglichkeiten und Erkenntnisse zur Entscheidungsfindung neu gedacht werden. Eine vollständige Automatisierung scheidet allerdings aus. Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten, ist in vollautomatisierten Verfahren nicht möglich. Neben technischen sind es zuvorderst verfassungsrechtliche Hürden, die einem solchen Vorhaben Grenzen setzten. Ein Verbot algorithmenbasierter Unterstützungssysteme ist dem Grundgesetz indes nicht zu entnehmen. Sofern es gelingt, den Systemen rechtsstaatliche Funktionsweisen einzuhauchen, können neue Technologien die richterliche Rechtsfindung sinnvoll unterstützen. David Nink: Justiz und Algorithmen. Duncker & Humblot 2021, 119,90 Euro