Als promovierter Chemiker ist Dr. Markus Steilemann fasziniert davon, was sich mit Hightech-Polymerwerkstoffen heute alles machen lässt. Der Vorstandsvorsitzende von Covestro ist sich sicher: Innovative Kunststoffe helfen dabei, die globalen Herausforderungen zu meistern. Dabei setzt er im Unternehmen auf flache Hierarchien und experimentierfreudige Forscher. Das Interview führte André Boße.
Zur Person
Dr. Markus Steilemann ist seit Juni 2018 Vorstandsvorsitzender von Covestro. Geboren 1970 in Geilenkirchen studierte Steilemann Chemie an der RWTH Aachen University und schloss mit der Promotion ab. 1999 begann er seine berufliche Karriere beim Bayer-Konzern. Ab 2008 bekleidete Steilemann Führungspositionen im Geschäftsbereich Polycarbonates von Bayer MaterialScience, der Vorgängergesellschaft von Covestro. Von 2013 bis 2015 stand er an der Spitze des gesamten Segments mit Hauptsitz in China, wo er mehrere Jahre lebte. Zurück in Deutschland wurde Steilemann 2015 Mitglied des Vorstandes von Covestro mit Verantwortung für den Bereich Innovation. Zusätzlich übernahm er im folgenden Jahr die Führung des Geschäftsbereichs Polyurethanes. In 2017 übernahm er als Chief Commercial Officer (CCO) die Verantwortung für die drei Segmente inklusive Innovation, Marketing und Vertrieb.
Herr Dr. Steilemann, auf den Punkt gebracht, warum sind die Produkte und Stoffe, die Sie herstellen, wichtige Bausteine für die Zukunft?
Die Welt steckt voller Herausforderungen und die Werkstoffindustrie ist unverzichtbar, um sie zu lösen. Im Raum stehen zu einem großen Teil ganz elementare Aufgaben wie Hunger und Armut zu bekämpfen und für menschenwürdige Behausungen zu sorgen. Über solche grundlegenden Bedürfnisse hinaus gilt es zum Beispiel, das Wachstum der Städte in nachhaltige Bahnen zu lenken, smarte Wege für die zunehmende Mobilität zu finden und die Vernetzung der Gesellschaft voranzutreiben. Und über allem wölbt sich die Frage nach einem klimafreundlichen Leben und Arbeiten, mit sauberen Technologien und grüner Energie. Bei all dem tragen hochwertige Kunststoffe, wie sie von uns entwickelt und produziert werden, zur Lösung bei. Zwar blicken derzeit viele Menschen mit Sorge auf Themen wie Plastikmüll, völlig zu Recht. Doch geht es hier meiner Meinung nach in erster Linie um einen besseren Umgang mit Abfällen insgesamt. Kunststoffe an sich sind und bleiben Teil der Lösung.
Das, was in Zukunft an Stoffen benötigt wird, ändert sich stetig. Wie gelingt es Ihnen, bei den Entwicklungen Schritt zu halten? Was sind die Kernelemente Ihrer Innovationskultur?
Wir haben die Antennen besonders weit ausgefahren, um zu lernen, was die Welt braucht – heute, morgen und in ferner Zukunft. Dazu sind unsere Forscher, Entwickler, Vertriebsexperten und viele andere Mitarbeiter in stetem Austausch mit ihren Kollegen in anderen Industriezweigen wie der Auto-, Bau oder Elektronikbranche. Zusammen suchen wir nach Antworten. Was uns dabei antreibt, ist ein ganz besonderes Wertesystem: Neugier, Mut und bunte Vielfalt liegen uns ganz besonders am Herzen. Auf dieser Basis haben wir den Willen, etwas zu bewegen, Grenzen zu verschieben. Dieser spezielle Spirit fasziniert mich, wir tragen ihn auch nach außen und in unsere Partnerschaften mit Hochschulen, Forschungseinrichtungen und anderen Unternehmen. Im Übrigen bezieht sich bei uns Innovation nicht nur auf klassische Forschung und Entwicklung. Wir finden: Jeder kann in seinem Bereich Ideen haben, die das Unternehmen weiter voranbringen. Unsere Mitarbeiter sollen sich möglichst gut entfalten können.
Mal zu scheitern, ist nicht tragisch, das Scheitern sollte dazu motivieren, weiterzumachen.
Welche Rolle spielte dabei die Führungskultur im Unternehmen?
Wir haben nicht besonders viele Hierarchien und legen Wert darauf, dass unsere Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen, dass sie helfen, motivieren, befähigen. Potenziale heben, Freiräume gewähren – das sind Verhaltensweisen, die uns nach vorn bringen. Zugegeben, es ist noch längst nicht alles ausgereift. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir zu einer umfassenden Kultur gelangen müssen, die überall in unserem weltweit tätigen Unternehmen und ganz besonders bei den Führungskräften verankert ist. Dazu gehört in meinen Augen auch eine gewisse Fehlertoleranz: Mal zu scheitern, ist nicht tragisch, das Scheitern sollte dazu motivieren, weiterzumachen. Wir haben früher an der Uni immer gesagt: Versuch macht klug.
Stichwort Nachhaltigkeit: Wie interpretieren Sie diesen Begriff mit Blick auf das, was Sie als Unternehmen tun?
Wir wollen helfen, die Umwelt zu bewahren und die Gesellschaft voranzubringen, und wir wollen gleichzeitig Wert schaffen. Richtschnur sind dabei die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung, die sich in meinen Augen immer mehr zu einem globalen Kompass auch für Wirtschaft und Industrie entwickeln. Wir bei Covestro nehmen sie zum Beispiel als Maßstab für Forschung und Entwicklung: Bis 2025 wollen wir vier Fünftel unserer Ausgaben auf diesem Gebiet in Bereiche lenken, die auf die Nachhaltigkeitsziele einzahlen. Um ein Beispiel zu geben: Mit dem UN-Ziel Nummer 7 soll bezahlbare und saubere Energie gefördert werden. Wir haben in diesem Bereich einen Werkstoff entwickelt, mit dem Rotorblätter von Windkraftanlagen länger und stabiler werden können – was sie viel ergiebiger macht. Gleichzeitig lassen sich die Rotoren schneller und preiswerter herstellen. So verleihen wir der Windenergie im wahrsten Sinne des Wortes Flügel.
Bemerken Sie, dass junge Menschen, die bei Ihnen mit ihrer Laufbahn starten, eine andere Sichtweise auf die Karriere haben, als Sie damals?
Covestro ist ein ziemlich junges Unternehmen und von den jüngeren Leuten, die erfreulicherweise zu uns kommen, legen viele vielleicht mehr Wert auf immaterielle Dinge. Ihnen ist besonders eine sinnstiftende Arbeit wichtig, gewissermaßen ein höherer Zweck, ein gesellschaftlicher Nutzen. Andere große Themen sind Freiräume, Abwechslungsreichtum und Flexibilität. Klassische lineare Karrieren werden jedenfalls seltener, und das nicht nur bei uns. Auf der anderen Seite hat Covestro auch viele langjährige Mitarbeiter, äußerst kompetent, loyal, hochgeschätzt – und unbedingt benötigt.
Die Welt steckt voller Herausforderungen und die Werkstoffindustrie ist unverzichtbar, um sie zu lösen.
Sie haben in Aachen Chemie studiert und promoviert. Welches Know-how, das Ihnen damals an der Hochschule vermittelt wurde, ist für Sie als Vorstandsvorsitzender weiterhin unverzichtbar?
Mein Studium ist natürlich schon etwas her und vieles, was unsere Nachwuchswissenschaftler inzwischen draufhaben, lag damals in weiter Ferne und lässt mich staunen. Die Grundlagen, die mir seinerzeit vermittelt wurden, bereichern mich aber bis heute: das rein fachliche Basiswissen, das Durchhaltevermögen und der lange Atem des Wissenschaftlers, die Wertschätzung von Offenheit und Partnerschaften, der rationale Diskurs, die Begeisterung für technischen Fortschritt. Ich möchte mithelfen, die Fackel der Naturwissenschaften hoch zu halten, und es ist mir ein Anliegen, dass der Funke bei nachfolgenden Generationen überspringt. Ohne Wissenschaft und Technik kommt die Menschheit nicht weiter. Und auch nicht ohne eine sachliche, an Fakten orientierte, konstruktive Auseinandersetzung.
„Die Welt lebenswerter machen“ – so lautet die Vision des Unternehmens. Wann haben Sie zuletzt ganz konkret gedacht: „Da ist uns das auch wirklich gelungen!“?
Die großen Schlagzeilen des Weltgeschehens stimmen einen derzeit nicht froh. Aber es sind häufig kleine Dinge, die zeigen, dass es auf der Welt auch in eine positive Richtung geht: Wenn ich erfahre, dass Bauern in Indien nicht zuletzt durch unsere Materiallösungen besser über die Runden kommen und dass weniger Ernte verdirbt. Wenn ich beobachte, wie wir dank der Leistung unserer Forscher und Entwickler auf einmal CO2 als Rohstoff nutzen können und so Erdöl einsparen. Dann denke ich: Ein paar Puzzlesteinchen für eine lebenswertere Welt kommen da schon zusammen.
Zum Unternehmen
Covestro zählt zu den weltweit führenden Herstellern von Hightech-Polymerwerkstoffen. Die Produkte und Anwendungslösungen des Unternehmens finden sich in vielen Bereichen des modernen Lebens. Innovation und Nachhaltigkeit treiben den Konzern zu immer neuen Entwicklungen an – sowohl in seinen Produkten als auch in seinen Prozessen und Anlagen. Covestro ging vor rund vier Jahren aus der Bayer- Tochtergesellschaft Bayer MaterialScience hervor. Seit der Lösung vom Konzern kann das Unternehmen seine Planungen und Entscheidungen nun voll und ganz auf die speziellen eigenen Bedürfnisse ausrichten. Derzeit baut das Unternehmen in den USA am Golf von Mexiko für 1,5 Milliarden Euro eine weitere riesige Produktionsanlage – die größte Einzelinvestition in der Geschichte des Unternehmens.