Was ist künstliche Intelligenz (KI) denn nun, Lösung für alles oder Sicherheitsrisiko? Geschäftsmodell der Zukunft oder Job-Killer? Statt nur in Schwarz oder Weiß zu denken, lohnt sich der differenzierte Blick: Unternehmen profitieren, wenn KI übergreifend betrachtet und vom Problem her gedacht wird. Hier ist der Mensch gefragt: Seine Aufgabe ist es, die KI in den Domänen eines Unternehmens zu platzieren. Und er wird auch benötigt, um die Technik so zu vermitteln, damit Vertrauen entsteht. Ein Essay von André Boße
Wer zu Daimler oder Volkswagen geht, baut und entwickelt Autos? Möglich. Es kann aber auch sein, dass man sich im Konzern mit „Computer-Brains“ beschäftigt, die Autos lenken sollen. Oder bereichsübergreifend an einem Mobilitätsökosystem arbeitet, das mit Hilfe von Big Data und künstlicher Intelligenz Verkehrslösungen nach Maß bietet – Bezahl- und Finanzierungsoptionen inklusive. Blicken wir auf die technischen Konzerne: Wer heute eine Stelle bei Siemens oder Bosch antritt, findet dort eine Reihe von Abteilungen, die weit über das hinausgehen, was man als das ursprüngliche Geschäft dieser Technologie-Unternehmen begreift. Bosch zum Beispiel hat Anfang Januar mitgeteilt, bis 2025 solle jedes der Konzernprodukte über künstliche Intelligenz verfügen, mit ihr entwickelt oder produziert worden sein. Entsprechend kündigt das Unternehmen an, personell auf- und umzurüsten: „Mit einem großangelegten Qualifizierungsprogramm wollen wir in den nächsten zwei Jahren nahezu 20.000 Mitarbeiter fit für die KI-Zukunft machen“, sagt Bosch-Geschäftsführer Michael Bolle. Die aktuelle Zahl der Mitarbeiter innerhalb des Konzerns, die sich mit dem Thema KI beschäftigen: 1000. Hier zeigt sich die Dimension des Wandels.
„KI ist keine Magie“
Für Bewerber ist folgende Änderung interessant: Wer sich noch vor wenigen Jahren für den Ein- oder Aufstieg in einem dieser Konzerne interessierte, von dem erwartete man insbesondere eines: Kenntnisse über die Branche. Wie ist das heute, in einer Zeit, in der sich die Branchen öffnen, einer Zeit, in der traditionelle Autobauer Geld damit verdienen, den Kunden mit Hilfe von KI-Lösungen optimale Bahnverbindungen anzuzeigen? Oder in der Technikkonzerne tausende Mitarbeiter suchen oder dahingehend schulen, um fit für die KI zu sein? Ist es da übertrieben, zu fragen, ob künstliche Intelligenz heute bereits eine Art Meta-Branche ist? Vorsicht! Die künstliche Intelligenz trägt schon genügend andere Etiketten. Mal ist sie das Allheilmittel für eine lahmende Wirtschaft, mal bedroht sie Arbeitsplätze. Einige glauben, die KI werde eines Tages für einen Security-GAU sorgen, andere denken, dass die Menschheit das Problem des Klimawandels ohne KI nicht in den Griff bekommen wird.
Qurator: Digitale Kommunikation mit Hilfe von KI
„Wer heute relevant sein will, muss digital kommunizieren“, sagt Armin Berger, Bündnissprecher des Projekts Qurator. Doch wie gelingt diese digitale Kommunikation, gerade in Zeiten, in denen der Datendschungel immer dichter wird? Qurator versteht sich als eine Plattform für intelligente Content-Lösungen, auf der KI-Ansätze dabei unterstützen, Inhalte zu kuratieren (daher der Name Qurator). Die Plattform richtet sich gezielt auch an Manager in Unternehmen, die internes Wissen über neue Techniken so aufbereiten wollen, dass möglichst viele Zugriff erhalten und die Inhalte somit bei Entscheidungen helfen.
Auch in technischer Hinsicht gehen die Meinungen auseinander. Es gibt Experten, die davor warnen, die Komplexität der KI überfordere den Menschen, andere widersprechen. Die Informatikprofessorin Katharina Zweig von der TU Kaiserslautern sagte zum Beispiel in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Rheinpfalz“: „KI ist keine Magie.“ Im Interview fordert sie, keine Berührungsängste bei dieser Technik zu haben, schließlich werde KI „insgesamt näher an uns heranrücken, darum müssen wir Betriebsräte, Schulelternbeiräte, Betroffene und Bürger befähigen, sich einmischen zu können.“
KI als Möglichkeit begreifen
Wie ist denn nun der Status der KI? Was kann sie leisten – wann wird sie überschätzt? Und was bedeutet dieser Stand der Dinge für Karriereeinsteiger? Das Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssystem (FOKUS) hat jetzt mit dem Whitepaper „Künstliche Intelligenz in der Praxis“ eine Studie veröffentlicht, die untersucht, welche Bedeutung KI bereits heute in den Unternehmen hat – und wie sich der Einfluss der Technik in den kommenden Jahren in den verschiedenen Geschäftsfeldern entwickeln wird. Zu Beginn stellen die Studienautoren eines klar: KI ist nicht die Antwort auf jede Frage und Herausforderung. KI ist eine Möglichkeit, sich Problemen zu widmen. „Angesichts der großen Aufmerksamkeit für KI, könnte man leicht zu dem Schluss kommen: Wer heute nicht in KI investiert, für den scheint der Zug abgefahren zu sein – in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher, aber auch politischer Hinsicht“, sagt FOKUS-Leiter Prof. Dr. Manfred Hauswirth. Ob jedoch KI überhaupt als passende Lösungsoption in Betracht komme oder aber eine andere technische Lösung besser geeignet sei, müsse jeweils mit Blick auf die konkrete Problemstellung entschieden werden. Und hier tun sich viele Unternehmen noch schwer, wie die Autoren des Whitepapers feststellen: „Bei Projektpartnern bestehen oft bereits konkrete Erwartungen und ein grundlegendes Verständnis der Rolle, die KI potenziell in ihren Anwendungen und Geschäftsmodellen spielen kann. Nichtsdestotrotz sind Berührungsängste gegenüber dem Thema KI zu erkennen, die meistens in Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz münden.“
Menschen managen KI
Entscheidend sei es daher, in den Unternehmen ein Wissen über die Chancen und potenziellen Probleme von KI-Lösungen aufzubauen. „Die wichtigste Voraussetzung für den erfolgreichen Einsatz von KI-Methoden ist ein tiefes Verständnis des Themenfeldes, in dem diese zum Einsatz kommen sollen“, sagt FOKUS-Leiter Manfred Hauswirth. Ohne dieses laufe man zum Beispiel Gefahr, sich Problemen, die man bereits mit einer anderen Technik gelöst hat, noch einmal zu widmen – nur weil man denkt, die KI sei hier per se noch besser geeignet. Mit der eventuellen Folge, dass KI dieses Problem nun ein weiteres Mal löst. Jedoch „gegebenenfalls schlechter oder mit höherem Ressourcenaufwand“, wie Hauswirth sagt. Der FOKUS-Leiter verdeutlicht hier einen Punkt, der erklärt, warum so viele Konzerne bei diesem Thema neues Personal suchen oder das eigene Personal weiterbilden: Der Mensch mit seinem Wissen bleibt derjenige, der entscheidet, wo KI auf welche Art helfen kann. Und er ist auch derjenige, der die KI dann, wenn es sinnvoll ist, instruiert, koordiniert und kontrolliert. Zumindest solange, bis in einer fernen Zukunft aus KI-Methoden hyperintelligente Cyborgs werden (siehe Buch-Tipp im Kasten). Hier zeigt sich deutlich, dass die künstliche Intelligenz zumindest in den ersten Schritten in den Unternehmen keine High-Profile-Jobs ersetzt, sondern die Experten mit einer neuen Art von Arbeit versorgt. Dass dabei im Alltag der Entwicklung, Produktion oder Logistik Fragen auftauchen, liegt auf der Hand.
Domänen statt Branchen
Interessant ist nun, dass die Studienautoren vom Fraunhofer Institut bei den konkreten Anwendungsbereichen eben nicht mehr von Branchen sprechen, sondern von Domänen. Gemeint sind Themenfelder wie Smart Mobility und Electronic Health, Industrial Internet of Things und Quality Engineering, Visual Computing und Data Analytics. In den Unternehmen werden Einsteiger daher nicht nur auf eine dieser Domänen treffen – sondern auf mehrere, in den großen Konzernen sogar auf alle. Hier zeigt sich die besondere Herausforderung von KI-Lösungen: Sie docken innerhalb einer Organisation in diversen Bereichen an, bilden Knotenpunkte, verlangen nach zwei Perspektiven: die eine ist auf die jeweilige Domäne fokussiert, die andere hat das gesamte „Ökosystem“ des Konzerns im Blick. Wobei der Begriff aus der Ökologie hier tatsächlich passt, denn die Domänen unterstützen sich gegenseitig und bilden dabei ein System, dessen Funktionalität vom natürlichen Zusammenspiel der Domänen abhängt.
Der KI-Campus
Im Oktober 2019 wurde der Startschuss für den Aufbau einer digitalen Lernplattform zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) gegeben. Dabei handelt es sich um ein auf drei Jahre angelegtes und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Pilotprojekt. Motivation und Ziel des Projekts „KI-Campus – die Lernplattform für Künstliche Intelligenz” ist es, eine breite Befähigung im Umgang mit KI zu vermitteln, um für die Herausforderungen den damit verbundenen technischen und gesellschaftlichen Veränderungen gewappnet zu sein. Der KI-Campus soll diesem Bedarf durch die Entwicklung einer offenen Lernplattform begegnen, auf der sich die Nutzer untereinander sowie mit Professoren und anderen Fachexperten vernetzen und sich mit hochwertigen, digitalisierten Lernangeboten weiterbilden können.
Ein Beispiel aus der Produktion: Das Industrial Internet of Things (IIoT) ist eine Infrastruktur, die Wertschöpfungsketten digital vernetzt – und zwar anwendungsübergreifend und unabhängig vom Hersteller, intelligent und mit maximaler Sicherheit. „Dabei spielen Edge- oder Cloud-Computing ebenso eine wichtige Rolle wie Echtzeit-Maschine-zu-Maschine- Kommunikation, Geräte-Management, Orchestrierung und Datenanalyse-Plattformen“, heißt es im FOKUS-Whitepaper. Wobei die Technik klare Ziele zu erfüllen hat – und zwar parallel. Das IIoT soll Ressourcen schonen und Wartungen optimieren, es soll die Qualität sichern und Datenschutz garantierten, die Betriebskosten sowie den Energiebedarf senken, neue Geschäftsmodelle aufbauen und die Produktion beschleunigen. Wer im Unternehmen die Produktion in diesem Sinne voranbringen möchte, benötigt neben Kenntnissen im Maschinenbau oder Prozessmanagement eben auch Know-how in einem übergreifenden KI-Bereich, den die Experten des Fraunhofer Instituts Data Analytics nennen. „KI hat neben den Eigenschaften eines lernenden Systems insbesondere auch mit semantischem Verstehen durch die Maschine und weiterführender pragmatischer Interpretation im Kontext zu tun“, schreiben die Whitepaper-Autoren. Dies gehe über das Erkennen von Mustern in Daten hinaus. Die Rede ist von der sogenannten dritten Generation von KI-Systemen, in der es um die Kombination aus KI-Methoden geht: ums Wahrnehmen und Lernen, Logikschlussfolgern und Abstrahieren.
Vertrauen schaffen, Sicherheit gewährleisten
Und noch ein Punkt ist wichtig, wenn es um die Frage geht, wo der Mensch bleibt, wenn künstliche Intelligenz in den Unternehmen zum Standard wird. Nicht nur werden Mitarbeiter benötigt, um diese Technik in den Domänen einzusetzen, Menschen sind auch der Schlüssel dafür, den Kunden ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit zu geben. Ende Januar veröffentlichte der TÜV-Verband eine Studie, nach der 85 Prozent der Befragten möchten, dass Produkte und Anwendungen mit künstlicher Intelligenz klar gekennzeichnet werden. „Insgesamt überwiegen die positiven Empfindungen in Bezug auf KI und viele Menschen erhoffen sich von der Technologie Fortschritte in verschiedenen Lebensbereichen“, ordnet Dr. Michael Fübi, Präsident des TÜV-Verbands, das Ergebnis ein. Jedoch gibt es auf Seiten der Verbraucher messbare Skepsis und Verunsicherung: So empfinden 69 Prozent der Befragten es als negativ, wenn KI immer mehr menschliche Kontakte ersetzt, 72 Prozent sorgen sich vor Hackerangriffen mit Hilfe von KI, 67 Prozent haben die Sorge, dass die KI bei sicherheitskritischen Anwendungen Fehler macht. Auf diese Sichtweise der Kunden müssen die Unternehmen mit kommunikativer Transparenz reagieren; auch dies wird eine Aufgabe von KI-Managern sein: den Kunden – ob B2B oder B2C – erklären, wo KI mitgewirkt hat, was die Vorteile dieser Mitwirkung sind und wie die Sicherheit garantiert werden kann.
Benötigt werden Regeln und Standards
Gefragt sind hier aber nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Gesetzgeber. „Beim Einsatz von künstlicher Intelligenz in sicherheitskritischen Bereichen gibt es erhebliche Regelungslücken“, sagt TÜV-Verbandspräsident Michael Fübi. „Immer dann, wenn Gefahren für die Gesundheit von Menschen oder deren elementare Grundrechte bestehen, sind klare Leitlinien für die Anbieter, Entwickler und Nutzer von KI-Anwendungen notwendig.“ Tatsächlich tut sich hier etwas: Die neu formierte EU-Kommission hat bereits angekündigt, eine KI-Strategie vorlegen zu wollen, das Bundesarbeitsministerium initiiert ein KI-Observatorium, das als Denkfabrik die Aufgabe hat, einen verantwortlichen, menschenzentrierten und partizipativen Einsatz von KI in der Arbeitswelt und der Gesellschaft zu ermöglichen und zu fördern. Ist die KI eine Meta-Branche? So lautete zu Beginn die Frage. Tatsächlich lässt sich festhalten, dass durch die Nutzung von KI-Lösungen in der Praxis eine ganze Reihe von Job-Profilen entstehen, die branchenübergreifend Menschen benötigen, die KI vollumfänglich verstehen. Weil sie wissen, wie diese Technik dem Unternehmen hilft – und was gewährleistet sein muss, dass auch die Mitarbeiter und die Kunden profitieren und Vertrauen entwickeln. Nein, KI ist keine Magie, da hat die Informatikerin Katharina Zweig schon recht. Aber sie bedeutet viel Arbeit. Menschliche Arbeit.
Buchtipps
Der 100-Jährige, der ein neues Zeitalter des Denkens ausruft
Der Universalwissenschaftler James Lovelock hat zehn Dekaden auf dem Buckel, doch sein Alter hindert den Briten nicht daran, vorauszudenken – und zwar im Wortsinn: „Novozän“ heißt sein neues Buch, das es seit Januar auch auf Deutsch gibt. Lovelock beschreibt den Beginn des Zeitalters der Hyperintelligenz, des Novozäns, das auf das Anthropozän folgt. Seine These: Aus der KI werden Cyborgs entstehen, die uns Menschen in allem überlegen sind. Doch das sollte kein Schreckensszenario sein, denn auch die Cyborgs wollen die Erde erhalten – und sie sind es, die in Lovelocks unterhaltsamer und inspirierender Öko-Vision der bequemen und zerstrittenen Menschheit das Überleben retten. James Lovelock: Novozän – Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. C.H. Beck, 2020, 18 Euro. (Amazon-Werbelink)
Fehlendes Taktgefühl
Laut der TÜV-Studie „Sicherheit und Künstliche Intelligenz – Erwartungen, Hoffnungen, Emotione“ erwarten 40 Prozent der Deutschen von der KI, dass sie zu 100 Prozent fehlerfrei ist. Diesen Ansprüchen hält die Informatikerin Katharina Zweig ihr Buch „Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl“ entgegen, das den Untertitel trägt: „Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können.“ In klarer Sprache zeigt sie, warum Robo-Richter ein schlechtes Urteilsvermögen besitzen, aber auch, in welchen Bereichen eine unvoreingenommene KI-Lösung weitaus besser wäre als ein mit Vorurteilen beladender Mensch. Katharina Zweig: Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl: Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können. Heyne, 2019. (Amazon-Werbelink)