Als Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF) und Uni-Professorin in Magdeburg versteht Julia Arlinghaus ihren Job zweigeteilt: Zum einen forscht sie mit ihrem Team nach KI-Methoden, im zweiten Schritt kooperiert sie mit den Unternehmen, um die Erkenntnisse in die Praxis zu überführen. Gerade hier sieht die 36 Jahre alte KI-Spezialistin eine Stärke der Deutschen: Förderung effizient in Ergebnisse umzusetzen – „darin ist Deutschland meiner Meinung nach hervorragend“. Die Fragen stellte André Boße.
Zur Person
Prof. Dr. Julia Arlinghaus (36) studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit den Schwerpunkten Produktionstechnologie und Verfahrenstechnik an der Universität Bremen und an der weltweit renommierten Tokyo University, Japan. Sie promovierte 2011 im Schwerpunkt Business Innovation zur Integration intermodaler Transporte in Handelslieferketten an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Sie war als Beraterin für operative Exzellenz und Lean Management bei der Porsche Consulting tätig, bis sie 2013 dem Ruf als Professorin für die Optimierung von Produktions- und Logistiknetzwerken an die Jacobs University Bremen folgte. Seit August 2017 war sie Lehrstuhlinhaberin für das Management für Industrie 4.0 an der RWTH Aachen. 2019 übernahm sie Leitung des Fraunhofer- Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg, zeitgleich übernahm sie den Lehrstuhl für Produktionssysteme und -automatisierung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Gestaltung und Implementierung von Produktionsplanungs- und -steuerungssystemen sowie Entwicklung von KIMethoden.
Frau Prof. Dr. Arlinghaus, Sie haben als Studentin in Japan bei Professor Ueda den Impuls bekommen, eine Fabrik wie eine biologische Zelle zu organisieren. Was hat Sie seinerzeit an dieser Perspektive so fasziniert?
Mich hat der Gedanke elektrisiert, wie gut sich der bionische Ansatz auf die Planung von Fabriken übertragen lässt. Eine Zelle ist ja im Grunde auch so etwas wie eine kleine Fabrik. Zum Beispiel werden beim menschlichen Stoffwechsel aus verschiedenen Substraten mit Hilfe von Enzymen die Produkte hergestellt, die unseren Körper am Leben erhalten. Die Enzyme wirken wie die Maschinen in einer Fabrik. Die Natur hat diese Prozesse über viele Millionen Jahre kontinuierlich optimiert. Spätestens seit Leonardo da Vinci wissen wir, wie gut wir von der Natur lernen können, viele ihrer Prinzipien übertragen wir auf verschiedenste Anwendungen. Heute zum Beispiel werden im Internet Datenpakete nach dem Vorbild des Verhaltensmusters von Ameisen verschickt. Und der Lotus-Effekt hat geholfen, Autolacke zu verbessern. Ich habe damals die Idee verfolgt, eine Fabrik nach dem Vorbild eines Bienenschwarms zu organisieren.
Wie genau hat Ihnen das Verhalten der Tiere dabei geholfen?
Die Schwarmintelligenz erlaubt es Tieren, gemeinsam sehr komplexe Aufgaben zu bewältigen. Etwa das Bauen von Termitenhügeln, die Jagd oder auch eben die Flucht. Aufgaben, die das Individuum alleine nicht bewältigen könnte. Auch die industrielle Herstellung von komplexen Produkten – beispielsweise Flugzeugen – aus Abertausenden Einzelteilen und unter höchsten Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen muss durch viele Individuen gemeinsam erfolgen. Damit Roboter uns bei diesen häufig noch manuell durchgeführten Aufgaben unterstützen, können wir uns in der Natur abschauen, wie man Kommunikation und Entscheidungsregeln gestaltet, damit diese Kooperation effizient passiert.
Das Fraunhofer IFF, das Sie leiten, versteht sich dabei als Technologiepartner von Unternehmen. Wie kann man sich diese Partnerschaft konkret vorstellen?
Fraunhofer-Institute befinden sich stets in einem synergetischen Verbund mit einer Hochschule oder Universität. Sie übersetzen die aktuellsten Erkenntnisse aus diesen Forschungsküchen schnellstmöglich in industrielle Anwendungen. Neben meiner Funktion als Institutsleiterin bin ich deshalb auch Professorin an der Universität Magdeburg. Dort entwickele ich neue Methoden, zum Beispiel für die Produktionsplanung oder für die Steuerung von Liefernetzwerken. Dabei denke ich mit meinem Team möglichst kreativ darüber nach, wie die Fabrik der Zukunft auch in fünf, zehn oder 20 Jahren funktionieren kann. Das Gleiche tun meine Kollegen hier am Fraunhofer IFF für ihre Themenfelder: Zusammen denken wir das Voraus, was später mit Unternehmen zunächst in gemeinsamen Forschungsprojekten pilotiert wird.
Können Sie Beispiele für aktuelle Themen nennen?
Zum Beispiel arbeiten wir gerade an der Frage, inwieweit wir Schwarmintelligenz für die roboterbasierte Montage von Flugzeugrümpfen nutzen können. Mit einem anderen Unternehmen testen wir, wie wir durch intelligente Produktionsplanung – also durch die clevere, zeitliche Zuordnung von bestimmten Aufträgen zu Maschinen – den Energieverbrauch einer Fabrik reduzieren können. Bei der Flugzeugmontage rechnen wir mit Einsparungen in der Produktionszeit von bis zu 50 Prozent, die Energieverbräuche konnten wir um über 60 Prozent reduzieren. Nach der Durchführung von Pilotprojekten, unterstützen wir Unternehmen schließlich dabei, diese Erfahrungen auf ihre eigenen Prozesse zu übertragen. Damit das gut funktioniert, reden wir viel mit unseren Projektpartnern. Dabei lernen wir die Sprache des anderen und müssen bereit sein, immer wieder neu zu denken und Bestehendes in Frage zu stellen.
Durch Ihre Arbeit erhalten Sie direkte Einblicke in den Stand der digitalen Transformation. Wie weit sind die deutschen Unternehmen in dieser Hinsicht?
Die deutschen Unternehmen profitieren noch nicht so stark von den Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung, wie sie könnten. Klar, es gibt viele Leuchttürme und Beispiele für exzellente Digitalisierung, aber wir stehen im Grunde erst am Anfang der digitalen Transformation. Ich kenne sehr erfolgreiche Unternehmen, deren Prozesse noch nicht einmal durchgängig durch Computer unterstützt werden.
Digitalisierung muss immer bei einem richtigen Problem beginnen.
Was sind die Gründe dafür?
Einer lautet, dass Digitalisierung immer bei einem richtigen Problem beginnen muss. Denn nur, wenn die Digitalisierung eines Prozesses wirklich einen Nutzen stiftet, findet sich auch die nötige Unterstützung beim Management. Hier zeigt sich aber, dass es den deutschen Unternehmen noch immer vergleichsweise gut geht. Eine flächendeckende Computerisierung – sozusagen die Industrie 3.0 – wäre aber die technologische Voraussetzung für Vernetzung und Automatisierung. Hier sehe ich daher die Universitäten und Forschungsinstitute in der Pflicht, die Unternehmen darauf hinzuweisen, dass Computerisierung und Digitalisierung sich in nächster Zukunft zum unbedingten Wettbewerbsfaktor entwickeln werden. Und dass deshalb die Unternehmen unbedingt mit der Digitalen Transformation beginnen müssen, um nicht morgen aus dem Markt gedrängt zu werden. Und zwar auch dann, wenn das Problem heute vielleicht noch nicht unmittelbar sichtbar ist.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Entwicklung beim Thema KI?
Hier spüre ich derzeit auf vielen Seiten Unsicherheit. Ähnlich wie bei den Begriffen Digitalisierung oder Industrie 4.0 ist vielen nicht klar, was eigentlich damit gemeint ist. Insofern ist verständlich, dass viele Unternehmen die Angst haben, hier etwas Wichtiges zu verpassen. Gleichzeitig setzen wir und auch viele Unternehmen bereits seit vielen Jahren KI-Lösungen ein, um Prozesse effizienter zu gestalten und automatisieren zu können. Denken Sie etwa an automatische und bildbasierte Prüfung von Schraubenverbindungen oder die selbständige Synchronisation eines mobilen Roboters mit einem Montageband. Im Moment erfährt die Förderung von KI-Forschung in Deutschland zwar einen enormen Schub. Dennoch ist es grundsätzlich so, dass in allen Forschungsbereichen viel weniger Geld zur Verfügung steht als in China und in den USA.
Drohen wir den Anschluss zu verlieren?
Nicht unbedingt, denn entscheidend ist auch, wie effizient diese Förderung anschließend in Ergebnisse überführt wird. Und darin ist Deutschland meiner Meinung nach hervorragend.
Etwa müssen wir darüber diskutieren, ob wir wollen, dass KI die Arbeitsleistung eines Mitarbeiters beurteilt oder Bewerbungsunterlagen vorselektiert.
Wenn Sie es auf den Punkt bringen sollen: Welche Rolle spielt die Künstliche Intelligenz im Bereich des Digital Engineering?
Künstliche Intelligenz ist eine der zentralen Technologien für die durchgängige Digitalisierung und Automatisierung in der industriellen Fertigung. Sie wird es erlauben, dass wir zukünftig nicht nur mit digitalen Schatten, sondern mit echten digitalen Zwillingen arbeiten können und so unsere Fabriken effizienter und robuster gegen Störungen werden. Gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft klare Grenzen definieren, in welchen Bereichen und für welche Aufgaben wir KI einsetzen wollen – und wo eben nicht. Etwa müssen wir darüber diskutieren, ob wir wollen, dass KI die Arbeitsleistung eines Mitarbeiters beurteilt oder Bewerbungsunterlagen vorselektiert.
Die Erderwärmung ist auch für Unternehmen das zentrale Thema der kommenden Jahre. Welche Potenziale bieten KI-Lösungen, um die Produktion nachhaltiger zu machen, bis hin zur Klimaneutralität?
KI wird hier eine zentrale Rolle spielen. KI hilft schon heute, Produktionsanalagen besser auszulasten, die Prozesse von Lieferanten, Produzenten und Kunden aufeinander abzustimmen und so Lagerbestände oder umgekehrt Transporte und damit Verkehr zu reduzieren. Sie wird in Technologien für die Null-Fehler-Produktion eingesetzt, was zu erheblichen Ressourceneinsparungen führt. Wir nutzen sie auch, um energieintensive Produktionsprozesse, zum Beispiel in Gießereien, so zu steuern, dass sie deutlich weniger Energie benötigen und viel weniger CO2 erzeugen.
Welche Rolle wird die junge Generation spielen, wenn es darum geht, KI-Lösungen in Unternehmen zu etablieren?
Für viele aus der jungen Generation ist Digitalisierung und damit die Unterstützung von Arbeitsprozessen und Entscheidungen etwas Selbst verständliches. Studierende lernen viel selbstverständlicher das Programmieren. Die Bereitschaft, eine KI als Teil der eigenen Arbeit oder gar als Partner im Arbeitsalltag zu akzeptieren, wird damit deutlich wachsen. Gleichzeitig kann es den Digital-affineren an Verständnis fehlen, dass die Prozesse und Strukturen in unseren bestehenden Fabriken oft noch analog sind. Da mag es zwar leicht zu erkennen sein, wie ein Prozess besser organisiert wäre. Möglicherweise fällt es aber schwer, zu sehen, wie bei solchen Veränderungen auch die noch nicht so digital-affinen Mitarbeiter mitzunehmen sind – und welche Hemmnisse es gibt.
Zum Fraunhofer IFF
Das Fraunhofer IFF versteht sich als Technologiepartner für die Großindustrie, den Mittelstand und kleine Unternehmen der Produktions- und Dienstleistungsbranchen sowie für die öffentliche Hand. Die Wissenschaftler*innen der international agierenden Forschungs einrichtung unterstützen die Industrie beim Planen, Entwickeln, Ausrüsten und Betreiben von Arbeits-, Produktions- und Logistiksystemen sowie deren versorgenden Infrastrukturen. Besonderes Gewicht bekommen hierbei neue Methoden und Technologien des Digital Engineering und ihr umfassender Einsatz bei der Entwicklung, der Herstellung und dem Betrieb von Produkten und Produktionssystemen.