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Interview mit Prof. Meinhard Miegel

(Aus BerufSZiel 1.2013) Ohne Wachstum geht es nicht? Für Professor Dr. Meinhard Miegel ein Irrglaube. Seine Prognose: Die Wirtschaft wird über kurz oder lang stagnieren, wenn nicht sogar schrumpfen. Das müssen für Young Professionals keine schlechten Nachrichten sein: Wer jetzt umdenkt und neue Werte findet, wird vom Wandel profitieren. Interview: André Boße

Herr Professor Miegel, unser Wirtschaftssystem hat viele Jahre lang funktioniert. Gut geführte Unternehmen erzielten zuverlässig Gewinne und boten sichere Karrieren. Warum wird sich das ändern?
Weil wir am Ende der historischen Periode stehen, die von permanenter und allgegenwärtiger Expansion gekennzeichnet war. Fast 250 Jahre lang war Wachstum die einzig gültige Antwort auf alle individuellen Wünsche, wirtschaftlichen Ambitionen und sozialen Herausforderungen. Jetzt stehen wir an einem Punkt, an dem wir sehen und spüren, dass es mit der Expansion vorbei ist. Wir wachsen nicht mehr, sondern stagnieren. Wahrscheinlich schrumpfen wir sogar.

Warum greifen denn die alten Mechanismen nicht mehr? Warum müssen wir uns wandeln?
Die Periode, vor der wir stehen, verlangt nach vollkommen anderen Sicht- und Verhaltensweisen. Wo kein Wachstum ist, müssen wir mit dem auskommen, was wir haben. Klingt logisch, doch noch immer weigern sich viele Individuen und Institutionen, diese Realität zu akzeptieren. Also verschulden sie sich – und versuchen so, weiteres Wachstum zu finanzieren. Dieses Gegensteuern geht jedoch an der Lebenswirklichkeit vorbei. Wer das zu lange macht, dem wird es wie jemandem ergehen, der versucht, eine Rolltreppe, die nach unten führt, hinaufzulaufen. Das ist frustrierend – und das Scheitern wahrscheinlich.

Eine Frage, die Young Professionals mit Karriereambitionen besonders interessiert: Warum passiert das ausgerechnet jetzt?
Nun ja, ein Auf und Ab ist der Welt immer zu eigen. Es stimmt jedoch, dass die Periode des Wachstums außerordentlich lange gedauert hat. Viele haben sich deshalb daran gewöhnt. Sie können sich gar nichts anderes vorstellen, als stets nach oben zu fahren. Und diese Menschen haben natürlich auch die junge Generation auf Wachstum konditioniert. Dabei sind die Anzeichen für das Ende der Expansion schon lange erkennbar – zumal Wachstum in Europa und den USA seit einigen Jahren ja nur noch dann erzeugt wird, wenn man sich verschuldet, Raubbau an der Natur betreibt oder beides gleichzeitig macht.

Um bei ihrem Bild zu bleiben: Rolltreppe abwärts – das klingt für ambitionierte Nachwuchskräfte in Unternehmen nicht gerade motivierend.
Nehmen wir ein anderes Bild: Eine permanente Expansion bedeutet doch, dass wir in einem fort einatmen. Jeder Mediziner wird bestätigen: Das geht auf Dauer nicht gut. Jetzt stehen wir vor der Phase des Ausatmens. Und das wird uns guttun. Viele Menschen haben so übersteigerte Vorstellungen von dem, was sie denken, erreichen zu müssen, dass man sagen kann: Entspannt Euch mal – es wird höchste Zeit.

Beobachten Sie, dass der jungen Generation das Umdenken leichter fällt? Ist sie prädestiniert, den Wandel der Wirtschaft mit Leben zu füllen?
Ein Teil der jungen Generation hat tatsächlich bereits begriffen, dass es nicht immer aufwärts gehen kann – und dass das keine rein negative Entwicklung sein muss. Diese jungen Menschen haben sicherlich einen Vorteil gegenüber ihren Altersgenossen, die noch immer realitätsferne Erwartungen an ihre Einkommen und ihren Status haben. Das soll kein Vorwurf sein, denn die Generation der heute 20- bis 35-Jährigen befindet sich im Spagat: Sie kennt einerseits noch das Zeitalter des Wachstums mit all seinen Vorzügen und Spielregeln, spürt andererseits jedoch, dass da ein Wandel kommt und sie diesem Wandel unterworfen ist.

Angenommen, ein Young Professional geht mit dieser Erkenntnis zu seiner Führungskraft. Wird er dann nicht zu hören bekommen, dass das Wachstum auch weiterhin der Selbstzweck eines jeden Unternehmens sein muss?
Ich war vor Kurzem Gast in einem Kreis erfolgreicher Unternehmer. Einer von ihnen berichtete von einer Art Unruhe, die ihn befalle, wenn seine Firma in einem Jahr nicht wachse. Und er fragte sich und alle anderen, warum das so sei. „Reicht es nicht, wenn mein Unternehmen gute Umsätze und Gewinne macht, die Arbeitsplätze sicher sowie Mitarbeiter und Kunden zufrieden sind? Warum muss mein Unternehmen dann noch wachsen? Warum kann es nicht bleiben, wie es ist?“ Allein dieser Gedanke hat in dem Kreis für ein kollektives Ausatmen gesorgt. Es ist tatsächlich spürbar, dass immer mehr Unternehmer und Führungskräfte das Dogma des ständigen Wachstums hinterfragen. Natürlich wird es auch weiterhin Unternehmen mit guten Wachstumsraten geben. Aber nur noch auf Kosten anderer: Jedem erfolgreichen Unternehmen wird ein gescheitertes gegenüberstehen. Dass 90 bis 95 Prozent der großen Unternehmen positive Wachstumskennzahlen präsentieren, wird schon bald der Vergangenheit angehören.

Was bedeutet das für die Karrieren von Young Professionals?
Sie müssen sich darauf einstellen, dass sichere Karrieren, die auf kollektivem Wachstum ganzer Branchen basieren, der Vergangenheit angehören. Zudem wird es andere Dinge geben, die den Erfolg einer Karriere bestimmen werden. Erfolgreich ist beispielsweise auch, wer dazu beiträgt, dass sein Unternehmen zwar nicht mehr, dafür jedoch ressourcen- und umweltschonender produziert. Oder dass die von ihnen geführten Mitarbeiter gerne zur Arbeit kommen und deshalb vielleicht seltener krank sind als der Durchschnitt. Alles das sind Beispiele für das Wachstum der Zukunft.

Globale Unternehmen nennen an dieser Stelle die Schwellenländer – also die Regionen auf der Welt, in denen enormes wirtschaftliches Wachstum noch möglich ist.
Die international tätigen Unternehmen haben recht: Die globale Entwicklung ist weiterhin expansiv. Wer in China, Brasilien oder Indien Geschäfte macht, handelt in einem Wachstumsmarkt und wird seine Gewinne steigern. Entscheidend ist hier das Wort „noch“, denn viel schneller als gedacht steuern diese Länder auf einen Punkt zu, an dem sie vor den gleichen Herausforderungen stehen werden wie wir Europäer heute. Natürlich glauben einige Manager und Unternehmensberater, dass es anders kommen wird. Dass das Zeitalter der Expansion nicht enden wird, wenn man nur über die richtige Wachstumsstrategie verfügt. Ich kann verstehen, dass viele junge Menschen gerne bei solchen Unternehmen anheuern. Aber eine Gewähr für eine sichere Karriere gibt es auch dort nicht mehr.

Woran machen Sie fest, dass der Wandel in einigen der großen Unternehmen bereits angekommen ist?
Der Wandel ist ja schon gelebte Wirklichkeit, da muss ich nur an meine eigene Zeit als Young Professional zu Beginn der Siebzigerjahre zurückdenken. Gleitzeit? Nie gehört. Überstunden? Selbstverständlich, aber unbezahlt. Bei der Geburt unseres ersten Kindes wurde meine Bitte, meine Frau und das Neugeborene aufsuchen zu dürfen, selbstverständlich abgelehnt. Die Wachstumsraten waren damals hoch und mein Arbeitsplatz war sicher und unbefristet. Aber ich trug ein enges Korsett. Heute fehlt vielen Karrieren zwar die Sicherheit. Dafür gibt es eine vor vier Jahrzehnten noch undenkbare Freiheit. Genau hier liegt der Wandel, der in Gestalt eines Handels daherkommt: Tausche Sicherheit gegen Freiheit.

Wie kann sich ein Young Professional optimal mit diesem Handel arrangieren?
Er sollte Wünsche und Bedürfnisse darauf einstellen, dass ihm die Karriere weniger Sicherheit und schon bald wohl auch weniger Materielles bietet. Also sollte er seine Befriedigung in Bereichen suchen, die weniger oder gar nicht von materiellen Dingen abhängen. Zum Beispiel in der Kunst oder Architektur. In der offenen Natur oder in seinem Freundeskreis. Das Schöne ist: Der Mensch ist ein findiges Wesen. Er wird sich mit diesen Veränderungen arrangieren.

Sehen Sie daher die Zukunft optimistisch?
Unbedingt. Ich bin – trotz meiner wenig optimistischen Wachstumsprognosen – ein zukunftsfroher Mensch. Ich glaube, dass wir vor einer Periode stehen, in der Karriere gleichbedeutend mit individueller Entwicklung wird. Man ist mit 25 noch kein voll entfalteter Mensch. Auch mit 35 noch nicht. Anders als die Wirtschaft besitzt der Mensch also tatsächlich das Potenzial, als Individuum immer weiter zu wachsen. Und ich bin hoffnungsvoll, dass die berufliche Karriere ein wichtiger Baustein für diese persönliche Entfaltung werden wird. Nicht, weil sie dafür sorgt, dass ein größeres Auto vor der Tür steht. Sondern weil ich als Mitarbeiter im Unternehmen meiner Wahl Dinge bewegen kann, die mich zufriedenstellen.

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