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Interview mit Kassels OB Bertram Hilgen

Bertram Hilgen ist seit Juli 2005 Kasseler Oberbürgermeister.Der SPD-Politiker absolvierte ein Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Marburg und startete seine Karriere als Referent des damaligen Kasseler Oberbürgermeisters Hans Eichel.

Nachdem Eichel zum hessischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, folgte er ihm in die Landeshauptstadt Wiesbaden. 1996 kehrte Hilgen nach Kassel zurück, wo er das Amt des Regierungspräsidenten im Regierungsbezirk Kassel bekleidete.

Die Documenta gilt als die weltweit führende Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Kassel dagegen haftet unter Deutschlands Großstädten eher das Image einer grauen Maus an. Zu Unrecht? Sind Ihre Bürger in Wahrheit alle begeisterte Kunstfreaks?
Gewiss nicht alle, aber der Stellenwert der Documenta ist uns natürlich bewusst und hat Kassels Selbstbild in den vergangenen 50 Jahren stark geprägt. Eine Kostprobe unseres Kunstverstands können Sie übrigens gerade bei dieser Documenta erleben. Um die Ausstellung auch einem breiteren Publikum zu vermitteln, präsentiert die künstlerische Leitung zum ersten Mal sogenannte „Worldly Companions“: Das sind rund 160 Kasseler, die nach intensiver Schulung Führungen aus der Sicht von Laien anbieten – vom Automechaniker bis zum Hochschulprofessor. Alle sind zwar an Kunst interessiert, aber nicht kunsthistorisch ausgebildet.

Erschöpft sich damit der Lokalkolorit? Oder steckt in der Documenta noch mehr Kassel?
Obwohl die Documenta von Mal zu Mal internationaler geworden ist, sind die Ausstellung und Kassel weniger denn je voneinander zu trennen. Schließlich entstehen ja viele Kunstwerke in der Stadt. Da liegt es auf der Hand, dass die Arbeiten den einen oder anderen Kasseler Einfluss nicht verhehlen können. Ein weiterer Punkt ist die Wechselwirkung der Exponate mit den verschiedenen Standorten – etwa mit dem Weinberg, dem Gloria-Kino aus den Fünfzigerjahren oder dem Ständehaus, das dieses Jahr zum ersten Mal Kunst beherbergen wird. So fließen die Eigentümlichkeiten Kassels immer in das Kunsterlebnis ein.

Dennoch gab es immer wieder Friktionen in der Bevölkerung, wenn es um die Installation von Kunst im Kasseler Stadtbild ging – sei es Claes Oldenburgs riesige Spitzhacke am Ufer der Fulda oder der mit Messingstäben gefüllte „Vertikale Erdkilometer“ von Walter de Maria auf dem Friedrichsplatz …
…oder auch Joseph Beuys’ berühmte 7000 Eichen, die er bei meiner ersten Documenta vor 30 Jahren pflanzte. Neben die Stämme rammte Beuys Basaltstelen in die Erde, die er zunächst mitten auf den Friedrichsplatz kippte. Die Aufregung über den riesigen Steinhaufen war enorm. Oder nehmen Sie die Reisterrassen, die ein thailändischer Künstler im Bergpark Wilhelmshöhe anlässlich der 12. Documenta anlegte. Auch diese Aktion blieb nicht ohne Widerspruch. Und doch ist offenkundig, dass die Gelassenheit der Kasseler in diesen Dingen stark gestiegen ist – selbst wenn die Kommunalpolitik hin und wieder das Kreuz gerade machen muss, um manche Projekte durchzusetzen. Aber wie gesagt: Der Stolz auf die Documenta überwiegt bei Weitem.

Laut der diesjährigen künstlerischen Leiterin, Carolyn Christov-Bakargiev, soll die Ausstellung helfen, zu erkennen, was man zuvor bereits gesehen hat. Ist dies auch die Funktion der Kunst im öffentlichen Raum?
Den Blick zu schärfen, ist bestimmt eine der wichtigsten Aufgaben, die der Kunst zukommen. Und da kann ich keinen Unterschied erkennen zwischen einer Kunst, die „unter Dach“ präsentiert wird, und solcher, die im öffentlichen Raum stattfindet. Negativ formuliert bedeutet dies, dass ein Kunstobjekt im Stadtbild nicht zu einer Art Stammmöblierung verkommen darf. Dass es nicht lediglich ein nettes Aperçu, eine bloße Ergänzung des bereits Vorhandenen ist, sondern Fragen aus Künstlersicht stellt und eigenen Interpretationen Raum lässt.

Gibt es da außerhalb von Museumsmauern nicht gewisse Grenzen?
Das mag sein, aber wo die liegen, muss immer im Einzelfall entschieden werden. Und da wir ja hier über die Documenta reden, möchte ich als deren Aufsichtsratsvorsitzender betonen, dass der künstlerischen Leitung bei der Einschätzung solcher Fragen eine Art diktatorische Freiheit zukommt. Auch was die Ausstellungsorte betrifft, die dieses Mal ganz besonders dezentral angelegt sind. Gerade das macht den Charakter jeder Documenta ja so einzigartig und spannend.

Viel Diskurs – wenig Spektakel: So hätte es Carolyn Christov-Bakargiev gern während der Documenta. Wie steht es mit Ihnen?
Beides liegt ja nah beieinander. Und was davon die Oberhand gewinnen und welche Richtung die Ausstellung überhaupt nehmen wird, ist immer völlig offen. Darum sind auch die Besucherzahlen kein wirkliches Kriterium für den Erfolg einer Documenta. Es geht vielmehr um das, was inhaltlich passiert, um die Diskussionen, die angestoßen werden.

Die Documenta ist also ein dynamisches Gesamtkunstwerk?
Wenn Sie so wollen, ja. Ein schönes Beispiel dafür ist die Installation „Template“ des chinesischen Künstlers Ai Weiwei während der vergangenen Documenta. Das war ein Turm aus dem Holz chinesischer Tempel, die zur Schaffung von Bauraum demontiert wurden. Da es fraglich war, ob diese Konstruktion einem Unwetter standhalten würde, mussten wir Abgrenzungen schaffen, um die Betrachter zu schützen. Und dann kam kurz nach der Eröffnung durch den Bundespräsidenten tatsächlich ein Sturm auf, der das Kunstwerk zum Einsturz brachte. Ai Weiwei entschied sich dafür, „Template“ nicht wieder aufzubauen, sondern als Ruine zu belassen. Die Sache war ein ungeplantes Spektakel, das weite mediale Kreise zog und für viele Diskussionen sorgte. Und so ist auch nicht vorhersehbar, was sich während der 100 Tage der 13. Documenta zutragen wird. Nicht zuletzt deswegen freue ich mich so sehr auf sie.

Das Interview führte Wolf Alexander Hanisch.

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