In unserer heutigen Gesellschaft stehen schon Kinder unter einem enormen Leistungsdruck. Das Resultat sind häufig Versagensängste. André Stern verspürte nie den Druck, Leistung erbringen zu müssen, denn er ging nie zur Schule und wurde auch nicht zu Hause unterrichtet. Er arbeitet heute als Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor. Wie das geht? Er wurde in seinen natürlichen Neigungen unterstützt und erreichte seine Kompetenz durch Begeisterung. Mit ihm sprach Anna Beutel.
Der Vater: Arno Stern
1924 in Kassel geboren, Pädagoge und Forscher. Mit 22 Jahren nahm er eine Stelle in einem Heim für Kriegswaisen in einem Pariser Vorort an. Er sollte die Kinder beschäftigen und ließ sie malen. Sofort begriff er die Wichtigkeit dieses Spieles. Er erfand dafür eine besondere Einrichtung, die bis zum heutigen Tage weiterbesteht: den Malort. Außerdem wurde er als Experte der UNESCO zum ersten internationalen Kongress über Kunsterziehung in Bristol delegiert. Er nahm an zahlreichen Symposien teil und gastierte als Referent in vielen Universitäten, Museen, Bildungs- und Ausbildungsstätten.
www.arnostern.com/de/malort.htm
In Frankreich, wo André Stern aufgewachsen ist, gibt es keine Schulpflicht. Die Entscheidung seiner Eltern, ihn nicht zur Schule zu schicken, begründete sich nicht auf einer Abneigung der Institution gegenüber. Mutter Michèle Stern, ehemalige Kindergärtnerin, und Vater Arno Stern, Forscher und Pädagoge, gingen beide zur Schule und haben glückliche Erinnerungen an diese Zeit. Stern betont: „Sie waren brillante und erfüllte Schüler. Sie haben sich also nicht gegen die Schule entschieden – sie haben sich nur für etwas anderes entschieden. Und das ist ein großer Unterschied.“ Denn es ging nicht darum, der Schule den Rücken zu kehren, sondern darum, Kindern mit Vertrauen zu begegnen und sie in ihren natürlichen Veranlagungen zu respektieren.
André Stern ist dankbar für diese Entscheidung seiner Eltern. Ein wichtiges Anliegen ist es ihm, seine Erfahrungen zu teilen. Er initiierte daher die Bewegungen „Ökologie des Lernens“ und „Ökologie der Kinder“, die daran arbeiten, die spontane Veranlagung des Kindes wiederzufinden. Künstlicher Unterricht, zerstörerischer Wettbewerb und unnatürliche Rhythmen erdrücken seiner Meinung nach diese in jedem Kind angelegte spontane Veranlagung. Die Ökologie des Lernens verzichtet hingegen auf erzieherische Betriebsmittel und stellt stattdessen als einzige Motivation die native Begeisterungs- und Spielfähigkeit des Kindes in den Vordergrund.
Dünger für das Gehirn
Der heute 43-Jährige kennt keine beruflichen Ängste: nicht die Angst zu scheitern, die Angst vor schlechten Leistungen, die Angst, im Vergleich mit den Kollegen schlechter abzuschneiden. In ihm lebt die tief verankerte Überzeugung: „So, wie ich bin, bin ich optimal. Ich bin unersetzbar und nützlich.“ Das haben viele Hochschulabsolventen und Berufseinsteiger oftmals nicht verinnerlicht. Die Wurzeln des Problems sind Sterns Ansicht nach bereits in der Kindheit zu suchen. Kinder würden in ihrer Freiheit zu spielen immer stärker eingeschränkt, so André Stern. Dabei gibt es kein besseres Werkzeug zum Lernen als das Spiel.
Das bestätigt auch Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther im Zusammenhang mit der Bewegung „Ökologie des Lernens“: „Zwanzig bis fünfzig Mal am Tag erlebt ein Kleinkind einen Zustand größter Begeisterung. Und jedes Mal kommt es dabei im Gehirn zur Aktivierung der emotionalen Zentren. Das ist der Grund, warum wir bei all dem, was wir mit Begeisterung machen, auch so schnell immer besser werden.“ André Stern hat sich sein Wissen auf diese Weise angeeignet. Alles, was ihn begeisterte und interessierte, verfolgte er weiter – mit Freude und Neugier. Lehrmeister waren Menschen, die in den jeweiligen Bereichen Kompetenzen vorweisen konnten. Seine Eltern, Freunde und Bekannte, aber auch Zufallsbekanntschaften zählen dazu.
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www.unperfekthaus.de
Stern führt weiter aus: „Ausgelebte Begeisterung hat eine Nebenwirkung: die Kompetenz. Wenn wir uns für eine Sache interessieren, werden wir magnetisch für das Wissen, das damit zusammenhängt, und unsere Kompetenz wächst ständig.“ Der Dreiklang „guter Schulabschluss, gutes Studium, guter Job“ funktioniere heute nicht mehr. Das sei eine interessante Entwicklung, die uns die Möglichkeit gebe, aus dem Angst-System auszusteigen. André Stern hat die Erfahrung gemacht, dass Ängste mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schwinden.
Keine Noten, keine Vergleiche
In der Theorie klingt das sehr gut. Doch wie lässt sich das mit unserem Bewertungssystem an Hochschulen und Schulen vereinbaren? „Wir sind glücklicherweise an einem Punkt angelangt, an dem wir das System nicht mehr optimieren können“, findet André Stern. „Das ist gut, denn nun kann etwas Neues entstehen.“ Grundsätzlich gebe es nichts Schlimmeres als die Noten. Schaffe man diese ab, seien Studenten und Schüler vom Druck befreit und es fänden keine Vergleiche mehr statt. Dem stimmen tatsächlich auch viele Lehrkräfte zu, stellte André Stern bei Gesprächen an Schulen fest. Häufig jedoch, so Stern weiter, kritisieren die Eltern die Versuche, das Notensystem zu verändern – aus Angst, dass ihre Kinder nicht den gesellschaftlichen Ansprüchen und Anforderungen genügen.
Ein Kreislauf, aus dem auszubrechen sicherlich nicht einfach ist. Bis dahin lebt André Stern seinem bald fünfjährigen Sohn Antonin vor, dass über sich hinauswachsen selbstverständlich ist, wenn die angeborene Begeisterung, der Welt zu begegnen, etwas spielerisch zu lernen, ungebremst ist. Dass er es wagen kann, der Welt offen und ohne Angst entgegenzutreten und dass er in dem festen Bewusstsein aufwachsen darf: „Ich werde gesehen und wertgeschätzt.“
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André Stern:
… und ich war nie in der Schule. Geschichte eines glücklichen Kindes.
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