Wie generative KI die Arbeitswelt verändert

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Mit der generativen KI macht die künstliche Intelligenz einen weiteren großen Sprung nach vorne. Hinter dem Begriff stehen komplexe Systeme, die für technische Unternehmen enormen Nutzen erzeugen können. Konzerne investieren dafür Milliarden, es entstehen branchenübergreifende Kooperationen. Klar ist: Wer diesen Schritt verpasst, droht den Anschluss zu verlieren. Ein Essay von André Boße

Dass die künstliche Intelligenz kein Hype, sondern eine zentrale Zukunftstechnologe ist, zeigt die Studie „Künstliche Intelligenz aus Sicht von Unternehmen“ des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, kurz Fraunhofer IAO. Die Fragestellung der Untersuchung war der Stellenwert von KI-Lösungen in den Unternehmen. Studiengebiet war die Wirtschaftsregion Heilbronn-Franken, die laut Eigenbeschreibung stark von den technischen Branchen Automobil- und Elektroindustrie, Maschinen-, Stahl- und Anlagenbau sowie Mess-, Steuer- und Regelungstechnik geprägt wird. Kurz: Dieser Teil Deutschlands besitzt einen großen Bedarf an Ingenieur*innen. Für die Studie befragte das Fraunhofer IAO in einem ersten Schritt Menschen aus den Unternehmen mit ausgewiesener KI-Expertise, zusätzlich beantworteten die Firmen selbst einen Fragebogen.

Nächster Schritt: Eine KI, die erzeugt

Die zentralen Resultate der Studie: Künstliche Intelligenz wird von nahezu allen Unternehmen als „hochrelevantes Themenfeld“ wahrgenommen. Die Mehrzahl der Unternehmen beschäftigt sich aktiv mit der Frage, wie sie die Technologien für sich nutzen kann. Je stärker sich die Unternehmen mit dem Thema KI beschäftigen, desto höher schätzten die Befragten Nutzen und Mehrwert der Technologie ein. „Wesentliche Mehrwerte werden in der Beschleunigung von betrieblichen Abläufen und in der Realisierung von Kosten- und Effizienzvorteilen gesehen“, heißt es in der Studie. Diese Aspekte reduzieren Kosten, und dies sei ein Faktor, der beim Einsatz von KI immer mehr an Bedeutung gewinne: „Gerade bei kleineren Unternehmen stehen die Aktivitäten rund um KI unter einem hohen wirtschaftlichen Verwertungsdruck“, so die Studienautor*innen. Wobei die Unternehmen vor allem jenen KI-Anwendungen einen hohen betrieblichen Mehrwert zuschreiben, die das Thema der künstlichen Intelligenz auf die nächste Ebene stellen: Systeme mit generativer KI.
Foto: AdobeStock/spiral media
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Global Lighthouse Network

Als „Leuchttürme“ werden Industrie-Unternehmen bezeichnet, die das große Potenzial der generativen KI erkannt haben und in den Einsatz bringen. Diese finden sich im Global Lighthouse Network zusammen, einer Initiative des World Economy Forums und der Unternehmensberatung McKinsey. „Oft bringen Unternehmen die generative KI in Bereiche, in denen Daten am unstrukturiertesten sind“, beschreibt Enno de Boer von McKinsey in einem Interview bei Springer Professional. „Dies ist oft vor- und nachgelagert der Fall, zum Beispiel in der Produktentwicklung, bei der Beschaffung und im Servicebereich.“ In der Produktion diene die Generative KI laut de Boer als „eine Art Abkürzung zu Anwendungsfällen, die die Produktivität der Mitarbeiter erhöhen, indem sie viele unstrukturierte Daten oder dokumentationsintensive Prozesse automatisieren“. Auf der Homepage des Global Lighthouse Networks findet sich eine Aufzählung der „Leuchttürme“ mit Praxisbeispielen.
Wo liegt der Unterschied zwischen der „normalen“ und der generativen KI? Benjamin Touati, Redakteur beim digitalen Wissensportal Technopedia, definiert in einem Beitrag generative KI als „Technologien, die in der Lage sind, eigenständig neue Inhalte zu erschaffen, die kaum von menschlichen Werken zu unterscheiden sind oder diese sogar übertreffen. Sie nutzt umfangreiche Datensätze, um Muster und Strukturen zu erlernen und daraus eigene Ergebnisse zu generieren.“ Den Unterschied zur klassischen KI beschreibt Touati folgendermaßen: „Während traditionelle KI-Systeme vor allem für die Analyse von Daten, Mustererkennung und die Vorhersage von Ergebnissen entwickelt wurden, zielt generative KI darauf ab, eigenständig neue, originelle Inhalte zu erschaffen, die auf erlernten Daten und Mustern basieren.“ Vereinfacht gesagt: Die klassische KI stellt den Ist-Zustand fest, damit der Mensch Verbesserungen erarbeiten kann, die generative KI erschafft daraus eigenständig Zukunftsszenerien. Für technische Unternehmen ist das hochinteressant: Die generative KI erkennt aus den Daten und Mustern nicht nur Probleme, sondern erzeugt auch Lösungen. Ein neues Geschäftsmodell zum Beispiel. Oder eine vollkommen neue Organisation von Produktionsprozessen oder Lieferketten.

Encoden, Decoden, Probleme entdecken

Das Aushängeschild der generativen KI ist weiterhin der von Open AI entwickelte Chatbot ChatGPT. Und das aus gutem Grund: Als Sprachmodell zeigt es niedrigschwellig auf, wie Mensch und KI miteinander kommunizieren und gemeinsam auf Ergebnisse kommen können. Ob beim Schreiben von Reden oder beim Erstellen von Grafiken: Auch in den Unternehmen wird ChatGPT häufig eingesetzt. Doch die Möglichkeiten, generative KI bei technischen Prozessen zu nutzen, gehen noch viel weiter. Ein Thema sind zum Beispiel variative Auto-Encoder – eine Form von künstlichen neurologischen KI-Netzwerken, die bei komplexen technischen Prozessen helfen, potenzielle Störungen nicht nur zu erkennen, sondern auch gleich neue Prozesse zu erschaffen. Die Technik hinter variativen Auto-Encodern ist kompliziert, hier ein Erklärungsversuch: Auto-Encoder (also ohne den Zusatz variativ) können als traditionelle KI klassifiziert werden und sind schon länger im Einsatz. Die Funktionsweise: Das Modell komprimiert eine große und mehrdimensionale Menge der Eingangsdaten („encoding“), indem es diese auf weniger Dimensionen reduziert, um sie danach wieder in der ursprünglichen Größe zu bringen („decoding“). „Das Ziel besteht darin, den Rekonstruktionsfehler zwischen der ursprünglichen Eingabe und der dekodierten Ausgabe zu minimieren“, beschreibt das KI-Portal Data Basecamp diese Technik. Jede Anomalie, die das System entdeckt, ist ein Hinweis darauf, dass ein bestimmter Prozess nicht optimal verläuft. Dies kann in einem technischen Unternehmen zum Beispiel eine komplexe Produktionslinie im Maschinenbau sein: Die KI erkennt hier aus Daten ein Muster, das langfristig zu Problemen führt.

Generative KI erzeugt selbst Daten

Die generative KI besitzt eine enorme IT-Tiefe. Und die Komplexität der Anwendungen wird weiter steigen.
Die neuen Modelle – genannt variative Auto-Encoder (VAE) – fügen diesen Modellen nun die generative Komponente hinzu. Vereinfacht gesagt: Das Modell rekonstruiert nicht nur die ursprünglichen Eingangsdaten, um Anomalien aufzuzeigen, sondern ist auch in der Lage, auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnung neue Daten zu generieren. Zum Beispiel optimierte Eingangsdaten, die Anomalien von Grund auf verhindern. Ein Maschinenbauunternehmen kann diese Technik zum Beispiel dafür nutzen, die Laufdauer von Anlagen zu verbessern: Die auf dem VAE-Verfahren basierende generative KI analysiert nicht nur Muster, die zu Problemen führen können. Sie erzeugt auch neue Daten, die dabei helfen, dass diese Probleme gar nicht erst auftreten. Zum Einsatz kommen VAE-Modelle auch, um von echten Menschen fiktive Bilder zu erschaffen, die deshalb so echt aussehen, weil das Verfahren beim Erzeugen von sich aus erkennt, welche Elemente bei den echten Bildern, mit denen das System gefüttert wird, „authentisch“ sind und welche das „echte“ Gesicht verfälschen, wie zum Beispiel eine ungewöhnliche Kameraperspektive oder ein unnatürlicher Gesichtsausdruck.
Foto: AdobeStock/Mehri
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Generative KI in der Medizintechnik

Modelle der generativen KI sind überall dort gefragt, wo sich Daten kaum bis gar nicht standardisieren lassen. Dies ist zum Beispiel in der Medizintechnik der Fall, wo jede*r Patient*in höchst individuell ist. Zum Einsatz kommen Systeme zum Beispiel in der Tumorforschung, wo die generative KI früh erkennt, welche Ausmaße und Folgen ein bösartiger Tumor annehmen kann. So können individuelle Maßnahmen ergriffen werden. Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld ist die Orthopädie: Die optimale Beschaffenheit eines neuen Hüftgelenks zum Beispiel hängt auch davon ab, wie sich der oder die Patient*in im Alltag bewegt. Eine generative KI kann vorab beobachten, daraus Schlüsse ziehen und schließlich ein optimales individuelles Produkt erzeugen.
Die Erklärung von VAE-Modellen zeigt: Die generative KI besitzt eine enorme IT-Tiefe. Und die Komplexität der Anwendungen wird weiter steigen. Entsprechend kommt es für die technischen Unternehmen darauf an, sich so aufzustellen, dass sie bei diesen Themen nicht den Anschluss verlieren. Dafür ist es wichtig, sowohl im Unternehmen selbst KI-Know-how aufzubauen als auch die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern zu verstärken. Denn klar ist: Das Thema generative KI kann ein technisches Unternehmen allein nicht abdecken.

Nur zusammen geht‘s

Wer sich in der Branche umschaut, erkennt, dass die Zahl der Kooperationsprojekte steigt. Ende Februar 2024 zum Beispiel kündigten Bosch und Microsoft eine Kooperation für das Thema generative KI an. Schwerpunkt sei dabei die „Verbesserung automatisierter Fahrfunktionen“ mithilfe der generativen KI, wie es in einer Pressemitteilung von Bosch heißt. „Generative KI ist ein Innovationsbooster und kann die Industrie verändern, ähnlich wie die Erfindung des Computers“, wird Bosch Geschäftsführerin und Chief Digital Officer Dr. Tanja Rückert in der Pressemitteilung zitiert. Ein Treiber der Kooperation für die generative KI sei die Erkenntnis, dass die klassische KI schnell an ihre Grenzen stoße, wenn es darum gehe, Systeme für das automatisierte Fahren zu trainieren: „Aktuelle Fahrerassistenzsysteme können zwar bereits Personen, Tiere, Objekte und Fahrzeuge erkennen, doch schon in naher Zukunft könnten sie mithilfe generativer KI bestimmen, ob in der jeweiligen Situation ein Unfall droht“, heißt es in der Pressemeldung. Generative KI trainiert Systeme für automatisiertes Fahren auf der Grundlage großer Datenmengen, aus denen verbesserte Erkenntnisse gezogen werden. So ließe sich beispielsweise ableiten, ob es sich bei einem Objekt auf der Fahrbahn um eine Plastiktüte oder beschädigte Fahrzeugteile handelt. „Mit dieser Information kann entweder eine direkte Kommunikation zum Fahrer aufgenommen werden – wie die Einblendung von Warnhinweisen –, oder es können entsprechende Fahrmanöver eingeleitet werden, wie eine Bremsung unter Einschalten des Warnblinkers“, skizziert Bosch in der Pressemitteilung die Möglichkeiten. Dass Microsoft beim Thema Generative KI in Deutschland viel Potenzial sieht, zeigt auch eine Meldung von Ende Februar: Der Konzern investiert in Deutschland drei Milliarden Euro, um das Thema voranzubringen.
Foto: AdobeStock/RH Creative Design
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Hat die Generation Z ein generatives Problem?

Glaubt man dem Stereotyp, stürzt sich die Generation Z in den Unternehmen auf die Zukunftstechnologie KI, während die älteren Mitarbeitenden vorsichtige Skepsis an den Tag legen. Das Ergebnis einer amerikanischen Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young zeigt jedoch ein anderes Ergebnis: 1000 Voll- und Teilzeitbeschäftigte aus den USA nahmen an der Untersuchung teil. Auf die Frage, wer die Technologie am häufigsten im Job einsetzt, gaben 74 Prozent der Millennials (geboren zwischen 1981 und 1996) sowie 70 Prozent der Generation X (geboren zwischen 1965 und 1980) an, dass sie Werkzeuge wie ChatGPT verwendet haben. Der Anteil der Befragten der Generation Z (Jahrgänge 1997 bis 2005) lag lediglich bei 63 Prozent. Woran es liegt? Die Studienautor*innen sind der Ansicht, dass sich die Befragten der Generation Z weniger Nutzen von den KI-Lösungen versprechen, als es bei den älteren Generationen der Fall ist. Die Vermutung: Die Generation Z werde sich umorientieren, sobald sie der Meinung ist, die Technologie bringe sie in ihren beruflichen Feldern wirklich voran.
Weitere Kooperationen entstehen auch, um die großen Herausforderungen der Welt zu meistern. So fanden sich vor gut einem Jahr IBM und die NASA zusammen, um mithilfe von KI-Systemen Basismodelle zu entwickeln, „die es einfacher machen, riesige Datensätze nach neuen Erkenntnissen zu durchsuchen, um die Wissenschaft voranzubringen und uns bei der Anpassung an eine sich verändernde Umwelt zu helfen“, wie es in einer IBM-Pressemitteilung zum Start der Kooperation heißt. „Nicht nur die NASA wird davon profitieren, sondern auch andere Behörden und Organisationen“, wird Rahul Ramachandran, leitender Wissenschaftler am Marshall Space Flight Center der NASA, zitiert. „Wir hoffen, dass diese Modelle Informationen und Wissen für jedermann zugänglicher machen und die Menschen dazu ermutigen, Anwendungen zu entwickeln, die es einfacher machen, unsere Datensätze zu nutzen, um Entdeckungen und Entscheidungen auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu treffen.“

Unternehmen brauchen Expertise

Heißt es nun KI für jedermann – oder ist sie Thema für Spezialisten? Mutmaßlich stimmt beides. Wichtig wird sein, dass in den Unternehmen Strukturen geschaffen werden, die von Expert*innen (ob im Unternehmen oder außerhalb) durchschaut und zeitgleich von möglichst vielen Mitarbeitenden genutzt werden können. Was bedeutet, dass die Möglichkeiten der generativen KI weder in einem IT-Silo isoliert werden dürfen noch die Ingenieur*innen in den Unternehmen damit allein gelassen werden. „KI ist kein Thema, das sich auf die IT-Abteilung der Unternehmen beschränkt“, heißt es dazu in der Studie des Fraunhofer IAO. „Grundlegende Kenntnisse und ein allgemeines Verständnis werden in allen Unternehmensbereichen und über alle Unternehmensfunktionen hinweg benötigt.“ Noch liege der Fokus von Qualifizierungsanstrengungen auf der Ebene von operativ tätigen Fachkräften, kritisieren die Autor*innen der Studie: „Führungskräfte und andere Beschäftigungsgruppen werden nicht flächendeckend qualifiziert. Ein Drittel der Betriebe setzt keine Qualifizierungsmaßnahmen im Themenfeld KI um.“ Dies müsse sich ändern: Gefragt sind neben Kooperationen mit anderen Unternehmen und Forschungseinrichtungen „kleinteilige, schnelle und hochgradig praxisrelevante Weiterbildungsangebote, die es Beschäftigten ermöglichen, sich zu KI-Fachkräften weiterzuentwickeln, ohne dass die bisherige Tätigkeit und der operative Unternehmensbetrieb allzu stark beeinträchtigt werden“. Einfacher gesagt als getan? Nicht, wenn insbesondere die junge Generation ihr digitales Know-how und ihre Begeisterung für dieses Zukunftsthema einbringt. Um die eigene Position im Unternehmen zu stärken – und die Dynamik der Implementierung der generativen KI zu erhöhen. Denn wenn diese Technik tatsächlich der erhoffte Innovationsbooster ist, dann wird es schon in naher Zukunft ohne sie nicht mehr gehen.

Kleidungsstücke am Computer anprobieren

Foto: AdobeStock/MicroStock
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Die Hochschule Hof arbeitet an einem Weg, wie künftig im Online-Shopping viele Rücksendungen eingespart werden könnten und das Einkaufserlebnis damit nachhaltiger wird. Im Projekt „TryOn@Home“ entwickeln die Forschenden einen Online-Demonstrator, mit dem es unter anderem möglich sein wird, neben farblich stimmigen und passend designten Kleidungsstücken auch die individuell passenden Kleidergrößen zu ermitteln. Der Demonstrator wird über eine multimodale Mensch-Maschine-Schnittstelle verfügen. Diese verwendet neben dem Kamerabild der Benutzer*innen auch Bilder der Artikel und Daten wie Artikelabmessungen, Personengrößen und unterschiedliche Posen. Dafür sucht und adaptiert die Forschungsgruppe geeignete Modelle generativer KI, mit denen multimodale Eingabedaten verarbeitet werden können. Anschließend werden die KI-Modelle so trainiert, dass eine realistische Einschätzung der Größe möglich ist. Die im Projekt entstehenden Modelle sollen als Open-Source-Software veröffentlicht werden, damit vor allem kleine und mittlere Unternehmen davon profitieren können.

CO₂-Fänger René Haas im Interview

Es ist mühsam, energie- und kostenintensiv, aber möglich: Mit dem von immer mehr Unternehmen eingesetzten Direct-Air-Capture-Verfahren (kurz: DAC) lässt sich CO₂ aus der Atmosphäre abscheiden. Das junge Berliner Unternehmen NeoCarbon hat diese Technik weitergedacht: Statt riesige Anlagen zu bauen, nutzt es die Infrastruktur von Kühltürmen in Fabriken, Shoppingmalls oder Bürogebäuden. Hier werden Luftströme und Abwärme freigesetzt, beides nutzt NeoCarbon, um CO₂ zu gewinnen. Im Interview erzählt Co-Gründer und CEO René Haas, welche Rolle das Direct-Air-Capture-Verfahren im Kampf gegen den Klimawandel spielt, was es mit einem „Bias to action“ auf sich hat und warum er jungen Ingenieur*innen rät, ins Risiko zu gehen. Die Fragen stellte André Boße

Zur Person

René Haas studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Dresden und Berlin sowie in Spanien und China. 2014 startete er seine Karriere bei Siemens im Projekt Management Support. Seit 2016 sammelte er Erfahrungen in der IT-Beratung sowie in Tech-Start-ups. Schwerpunkte waren hier Themen wie Teamrestrukturierung, strategisches Geschäftspartner-Management, Investor Relations und Internationalisierung. 2021 war er Mitgründer des Start-ups NeoCarbon.
Herr Haas, wäre der Kampf gegen die Klimakrise ohne die Methode des Direct Air Capture bereits verloren? Ich denke, DAC ist eine vielversprechende Technologie und laut aktueller Klima- Reports unabdingbar, um realistisch unter einer Erderwärmung zwischen 1,5 und 2 Grad zu bleiben. Dennoch würde ich den Kampf gegen die Klimakrise nicht verlorengeben, da es sich lohnt, jedes Zehntelgrad an Erwärmung aufzuhalten. Selbst wenn wir das 1,5-Grad-Ziel verfehlen, sollten wir als nächstes das Ziel definieren, so nah wie möglich an die 1,5 Grad heranzukommen. Wir sollten generell den Kopf nicht in den Sand stecken, aber klar ist auch: Der Kampf wäre signifikant härter ohne Direct Air Capture. Was ist die größte Herausforderung, um mit diesem Verfahren CO₂ aus der Luft zu ziehen? CO₂ nimmt zwar einen riesigen Einfluss auf das globale Klima, aber nur eines von 2500 Molekülen in der Atmosphäre ist ein CO₂-Molekül. Die Hauptherausforderung liegt also darin, diese wenigen Moleküle herauszufiltern. Dafür ist sehr viel Energie notwendig, die wiederum aus erneuerbaren Quellen stammen sollte, damit nicht neue Emissionen entstehen. Ein weiteres Problem ist, dass die Menge an CO₂, die wir in die Atmosphäre einbringen, seit den 1960er-Jahren global explodiert und weiterhin sehr hoch ist. Die Menschheit hat in den vergangenen zwei, drei Jahren zwischen 36 und 38 Gigatonnen CO₂ emittiert, das ist eine unvorstellbar große Menge. Und auch weiterhin basieren große Teile unseres modernen Wirtschaftssystems auf günstiger fossiler Energie. Was entgegnen Sie kritischen Stimmen, die sagen, Ihre Innovationen bedeuteten eine Einladung an die Menschheit, in Sachen CO₂-Ausstoß weiterzumachen wie bisher? Wenn man sich anschaut, wie technisch anspruchsvoll es ist, das CO₂ aus der Luft zu ziehen, sollte es diese Stimmen eigentlich gar nicht geben. Ich würde mir daher wünschen, dass die Menschheit viel schneller dekarbonisiert, als sie es gegenwärtig tut. In den vergangenen Dekaden ist diese Dekarbonisierung leider nicht schnell genug geschehen, daher sehe ich heute diese extreme Notwendigkeit, DAC in großen Skalen zu entwickeln. Das soll jedoch nicht als Ausrede verstanden werden. Sondern eben als Notwendigkeit, um das Ziel noch erreichen zu können. Genau. Was braucht ein Unternehmen wie Ihres, um Direct Air Capture erfolgreich durchzuführen? Wir konnten ein sehr starkes Team zusammenstellen und umgeben uns mit den richtigen Business Advisors. Die Herausforderung, der wir uns stellen, ist so komplex, dass man sie nur im Team mit fähigen Menschen lösen kann. Bei unserer Arbeit gestehen wir uns allerdings immer wieder ein, Fehler zu machen. Und zwar, um möglichst schnell vorwärtszukommen. Das ist wichtig, weil unser Technologieansatz komplett neuartig ist. Wir nutzen die bereits bestehende Infrastruktur von Kühltürmen. Unser Ansatz ist, ihre Abwärme zu nutzen, was Energie und damit Geld spart. Damit dies gelingt, benötigen wir ein sehr tiefgreifendes Verständnis für DAC-Systeme.
Ein Unternehmen zu gründen, ist eine permanente Herausforderung, und man sollte während des gesamten Prozesses auch sehr gut auf sich selbst achten – was einem nicht immer gelingen wird.
Von der technischen Idee bis zur Gründung des Unternehmens: Wo lag auf dieser Wegstrecke die größte Herausforderung? Man begegnet als Co-Founder mit seinem Team sehr viel Negativität, da gerade am Anfang externe Leute die Idee leicht zerreden können. Wichtig ist es, nie den Glauben in die eigenen Fähigkeiten zu verlieren und weiterzumachen. Wobei man das Feedback schon ernst nehmen sollte. Man muss sich nur bewusst entscheiden, wie man damit umgehen will. Ein Unternehmen zu gründen, ist eine permanente Herausforderung, und man sollte während des gesamten Prozesses auch sehr gut auf sich selbst achten – was einem nicht immer gelingen wird. Vor der Gründung lag eine Zeit, in der Sie sich sehr viel Wissen angeeignet haben. Wo lag hier das Geheimnis, wie recherchiert man richtig? Wir haben immer sehr früh versucht, unsere Ideen mit Hilfe des Wissens von Experten zu validieren und immer direkt mit den global bestmöglichen Ansprechpartnern zu reden. Man wird hier naturgemäß sehr häufig abgewiesen, das sollte einen aber nicht weiter stören. Das Fundament, um in diese Gespräche mit Experten zu gehen, war das Lesen von Studien und Papers. Welches Mindset benötigt man, um übers Wissen und Denken ins Handeln zu kommen, sprich in die Gründung, Forschung und Entwicklung? Mein Mitgründer und ich besitzen etwas, was unser erster Investor gerne als „Bias to action“ bezeichnet: Egal was ansteht – wir legen einfach los. Unsere ersten kleine Anlagen haben wir mit ein paar Tausend Euro gebaut, fast alle Komponenten kamen aus dem Baumarkt. Das ist nicht gerade Deep-Tech, aber wir haben damit sehr schnell gelernt. Auf die Gründung selbst habe ich mich allerdings intensiv und lange vorbereitet, da ich als Angestellter einige Jahre direkt mit einem erfolgreichen Gründer zusammengearbeitet habe. Von ihm habe ich viel gelernt. Sie haben als Start-up-Unternehmen sehr viel Kapital generiert, zuletzt 3,2 Millionen Euro. Welchen Bezug haben Sie zu einer solchen Summe? Ich habe keinen persönlichen Bezug zu diesen Beträgen, da es nicht mein Geld ist. Es symbolisiert für mich das Vertrauen des Investors, dass wir eine Technologie entwickeln können, die das Potenzial hat, die Welt zu verändern. Das Geld eingesammelt zu haben, ist allerdings nur ein kleiner Schritt. Der viel größere Schritt ist es, die Technologie zu entwickeln und diese über ein solides Businessmodell in der physischen Welt zu skalieren. Unsere Anlagen „im Feld“ zu sehen – dazu habe ich einen sehr starken persönlichen Bezug. Das eingesammelte Kapital ermöglicht dies, und ich bin sehr dankbar, von unseren Investoren dieses Vertrauen bekommen zu haben. Ihr Unternehmen besitzt einen eindeutigen Purpose. Wie wichtig ist dieser für die junge Generation? Purpose ist extrem wichtig, wir haben unglaublich tolle Bewerber, sowohl von ihrer Persönlichkeit als auch von ihrem technischen Verständnis her. Auch wir selbst als Gründer könnten wohl nie wieder in einem Unternehmen tätig sein, in dem ein solch starker Purpose nicht gegeben ist. Abseits davon ist es allerdings wichtig, sehr stark auf die Mitarbeiter zu achten. Es ist meiner Meinung nach nicht okay, ihnen einen Purpose zu geben und sie dann sich selbst zu überlassen. Das Thema mentale Gesundheit ist extrem wichtig, wobei die Kultur eines Unternehmens sehr stark von der Verantwortung der Gründer geprägt ist.
Wenn man sich für etwas mehr Risiko entscheidet, merkt man häufig, dass dieses Risiko gar nicht so groß ist.
Wo sehen Sie Ihre Technik in fünf Jahren? In fünf Jahren wollen wir mehrere große DAC-Anlagen im Einsatz haben, um damit global jährlich eine Millionen Tonnen CO₂ aus der Luft zu ziehen. Hierfür brauchen wir erstens die richtigen Skalierungspartner, die uns helfen, die Technologie weltweit auszurollen, und zweitens eine genügend große Finanzierungsstruktur. Ihr Tipp an angehende Ingenieur*innen, die Lust haben, die Welt zu verbessern: Was sollten sie unbedingt tun – und was unbedingt vermeiden? Sie sollten sich ausprobieren und kalkuliert Risiken eingehen. Idealerweise lernt man von jemandem, der die Erfahrung, die man selbst machen möchte, bereits gemacht hat. Sprich, man sollte den richtigen Mentor finden. Vermeiden sollte man im Umkehrschluss, einen zu sicheren Weg zu gehen. Denn wenn man sich für etwas mehr Risiko entscheidet, merkt man häufig, dass dieses Risiko gar nicht so groß ist. Erst recht nicht, wenn man jung ist.

Zum Unternehmen

NeoCarbon steht für den Ansatz, aus einem technischen Problem eine Lösung abzuleiten. Immer wieder wurden die Gründer René Haas und Silvain Toromanoff mit der Tatsache konfrontiert, dass das Abscheiden von CO₂ aus der Luft sehr viel Energie und damit Geld kostet. Was also, so der Gedanke der Gründer, wenn wir das Verfahren dort durchführen, wo ungenutzte Energie anfällt? Die Innovation von NeoCarbon besteht darin, für die Prozesse die Abwärme und den Luftstrom von Kühltürmen von Fabriken, Shoppingmalls oder Bürogebäuden zu nutzen. Die Investoren glauben an die Idee: Bei einer Finanzierungsrunde sammelte das Start-up 3,2 Millionen Euro ein, wie NeoCarbon Anfang 2024 vermeldete.

kuratiert

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Digital Future Challenge

Das Team von EduPin (Technische Universität München) sicherte sich bei der Digital Future Challenge DFC#4 den Sieg mit einem digitalen Ansteck-Pin für Kinder. Der Pin ermöglicht eine anonyme Aufzeichnung der Bewegungsdaten von Kindern. Er gibt ihnen Hilfestellungen im Verkehr und liefert gleichzeitig wichtige Informationen für eine datenbasierte und kindgerechte Verkehrsplanung in Kommunen. Die Digital Future Challenge wird ausgerichtet von der Initiative D21 und der Deloitte-Stiftung. Sie zielt darauf ab, nachhaltige und ethisch verantwortungsbewusste Lösungen für den Einsatz von KI zu finden. Insgesamt nahmen über 50 Studierendenteams aus ganz Deutschland teil.

Masterstudiengang Innovations- und Technologiemanagement

Der von der Wilhelm Büchner Hochschule angebotene Master-Fernstudiengang „Innovations- und Technologiemanagement“ wurde überarbeitet und wird nun mit zwei unterschiedlichen Profilen angeboten. Studieninteressierte können sich bei der Anmeldung entsprechend ihren Interessen und beruflichen Zukunftsplänen zwischen dem Profil „Anwendung“ und dem Profil „Forschung“ entscheiden. Der Master richtet sich an alle, die sich für das Thema Innovationen interessieren und Wandel, Wachstum und Wohlstand aktiv vorantreiben möchten. Absolvent*innen des Studiengangs können in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen Fuß fassen und Zukunftsthemen wie „Smart City“ oder „Künstliche Intelligenz“ mit beeinflussen.

Neuer Studiengang: K I kombiniert mit Ingenieurwesen

AI Engineering heißt der neue Bachelor-Studiengang, der im Wintersemester 2023/24 gestartet ist. Er verbindet die künstliche Intelligenz (KI) mit den Ingenieurwissenschaften. Fünf Hochschulen in Sachsen-Anhalt sind an dem Projekt beteiligt: Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Hochschule Anhalt, Hochschule Harz, Hochschule Magdeburg-Stendal und Hochschule Merseburg. Jede Hochschule hat ihren eigenen Schwerpunkt. Ab dem fünften Semester können sich Studierende auf ein Anwendungsfeld spezialisieren und wechseln dann von der Universität an eine der Partnerhochschulen.

Kein Plug and Play für KI in der Industrie

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Während die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz (KI) mit der Veröffentlichung von ChatGPT für die Allgemeinheit erst seit einiger Zeit so richtig wahrnehmbar sind, wird in der Industrie schon länger am KI-Einsatz gearbeitet – auch wenn viele Unternehmen dort ebenfalls noch am Anfang stehen. Doch manche Unternehmen sind schon weiter und haben unterschiedlichste KI-Anwendungen bereits in ihre Prozesse integriert. Von Christoph Berger

Auch wenn die meisten Unternehmen, 64 Prozent, noch am Anfang ihrer digitalen Transformation stehen und sich ihre digitalen Initiativen bisher nicht skalieren lassen, treffen die Autor*innen der PwC-Studie „Digital Factory Transformation Survey 2022“ eine klare Aussage: Die effektivsten Unternehmen implementieren eine ganze Reihe digitaler Technologien auf Werksebene, um die Flexibilität und Resilienz der Fertigung zu erhöhen und die Betriebskosten durch digitale Fertigung und Fabrikautomatisierung zu senken. Ein weiteres Ergebnis: Industrieunternehmen investieren weltweit jährlich über eine Billion Euro in digitale Transformationslösungen auf dem Weg zur Industrie 4.0. Wie so eine Investition aussehen kann, lässt sich am Beispiel des schweizerischen Konzerns ABB beschreiben. Das Unternehmen eröffnete im Dezember 2022 in China eine vollständig automatisierte und flexible Roboterfabrik. In dem 67.000 Quadratmeter großen Produktions- und Forschungsstandort wird die physische und digitale Welt vereint, die Rede ist von einem digitalen Ökosystem für die Produktion. Zum Einsatz kommen darin virtuelle Planungs- und Produktionsmanagementsysteme, um die Leistung zu verbessern und die Produktivität durch die Erfassung und Analyse von Daten zu maximieren. Feste Montagelinien sucht man dort vergebens. Zu finden sind stattdessen flexible, modulare Fertigungszellen, die digital vernetzt sind und von intelligenten, autonomen und mobilen Robotern bedient werden. KI-gestützte Robotersysteme übernehmen Aufgaben wie Schrauben, Montage und Materialhandhabung, sodass Mitarbeitende entlastet werden. Im angeschlossenen Forschungs- und Entwicklungszentrum des Standorts wird zudem an der weiteren Zukunft gearbeitet, an Innovationen in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Software, darunter Technologien wie autonome Mobilität, digitale Zwillinge, maschinelle Bildverarbeitung und Low-Code-Programmiersoftware, um Roboter intelligenter, flexibler, sicherer und benutzerfreundlicher zu machen.
Für den Übergang in die Daten­ökonomie brauchen wir breite Daten­kompetenzen: Expertinnen und Experten, die viel­versprechende Anwendungs­gebiete für KI identifizieren, solche, die Daten aufbereiten und KI-Systeme entwickeln und trainieren.
Die zunehmende Bedeutung von KI für die Industrie zeigte sich auch in einer eigens geschaffenen Plattform für künstliche Intelligenz auf der Hannover Messe 2023. In einer dazugehörigen Mitteilung wird allerdings auch darauf hingewiesen, dass sich der KI-Einsatz in Industrie und Fertigung von anderen Branchen unterscheidet. Zwar sei ein Prototyp oft schnell entwickelt, die Herausforderung in industriellen KI-Projekten liege aber neben der Datengewinnung und deren Verarbeitung meist in der Integration der Anwendung in einer Anlage, Zelle, Fördertechnik, Produktionsstraße – KI Plug and Play funktioniere nur selten. Einsatzmöglichkeiten für KI finden sich demnach viele. Doch bei all dem Potenzial gibt es eine weitere Herausforderung. Auf die wies Reinhard Ploss, Co-Vorsitzender der Plattform Lernende Systeme, im Rahmen des Digital-Gipfels im Dezember 2022 im Gespräch mit Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger hin: „Für den Übergang in die Datenökonomie brauchen wir breite Datenkompetenzen: Expertinnen und Experten, die vielversprechende Anwendungsgebiete für KI identifizieren, solche, die Daten aufbereiten und KI-Systeme entwickeln und trainieren. Vergessen dürfen wir jedoch nicht, dass die Nutzer, die später mit KI-Systemen arbeiten, ein grundlegendes Verständnis haben sollten.“ Ein grundlegendes Verständnis von KI.

Ingenieur*innen am häufigsten gesucht

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Die meisten Stellenanzeigen richten sich an Ingenieur*innen. Das ist das Ergebnis einer Analyse des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister e.V. (BAP) aus dem Sommer 2023. Von Sabine Olschner

Der Trend bleibt bestehen: Wie in den Jahren zuvor richteten sich auch im Juli 2023 rund 20 Prozent aller Stellenangebote in Deutschland an akademische Fachkräfte, steht im Job-Navigator des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister e.V. (BAP). In der Ausgabe 8/23 ist zu lesen, welche die gefragtesten Studiengänge auf dem Arbeitsmarkt sind. Dazu hat die Agentur für Personalmarktforschung „index Research“ im Auftrag des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister 1.735.015 Stellenanzeigen von 233.181 Unternehmen analysiert. Die Anzeigen stammen aus 249 Printmedien, 352 Online-Jobbörsen, von der Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit sowie von mehr als 650.000 Firmenwebsites. Das Ergebnis: In rund 48.200 Jobangeboten wurde der Bachelor-Abschluss erwartet, in 30.000 Stellenanzeigen der Master. Viele Unternehmen zeigten sich beim Studienabschluss flexibel. Am häufigsten gesucht waren Studienabgänger*innen mit MINT-Abschluss: Ingenieurinnen und Ingenieure konnten sich im Juli auf über 101.000 Stellen bewerben. Auf Platz zwei und drei lagen Wirtschaft allgemein und BWL insbesondere mit rund 79.500 beziehungsweise 77.600 Stellen. Für Absolventen* innen mit einem abgeschlossenen Informatikstudium gab es über 56.400 Jobangebote, ein Abschluss in Elektrotechnik war in über 34.200 Stellenanzeigen gefragt. Im Vergleich zum Vormonat legte vor allem der Maschinen- und Anlagenbau zu: Hier stieg das Jobangebot für Fachkräfte mit Studienabschluss um 5 Prozent, im Wirtschaftsingenieurwesen um 3 Prozent.
Ein möglicher Grund hierfür könnten die gestiegenen Energiekosten sein, die Unternehmen dazu veranlasst haben könnten, ihre Aktivitäten in energieintensiven Sektoren einzuschränken.
Die Anzahl der ausgeschriebenen Jobs für Akademiker*innen im Bereich Logistik hingegen ging im Juli 2023 um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zurück. Jobangebote für studierte Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler verzeichneten ein Minus von 9 Prozent. Ein möglicher Grund hierfür könnten die gestiegenen Energiekosten sein, die Unternehmen dazu veranlasst haben könnten, ihre Aktivitäten in energieintensiven Sektoren einzuschränken, vermutet der BAP. Beim Blick auf die Arbeitsbereiche für Akademiker*innen stehen an der Spitze die Wissenschaft sowie die Aus- und Weiterbildung. Im Juli 2023 richteten sich fast 51 Prozent aller Stellen in diesen Bereichen an akademische Fachkräfte. Auf den weiteren Plätzen folgen Beschäftigte in den Bereichen Projektmanagement (45 %), Consulting (44 %), Management (44 %) Forschung (43 %) und IT/Informatik (41 %).

Lese-Training: Kultur-, Buch- und Linktipps

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Apell zur Rettung des Planeten

Cover - Unsere entscheidenden JahreIn seinem Buch „Unsere entscheidenden Jahre“ schlägt Journalist Martin Häusler Alarm: Unser Planet steht am Rande des Abgrunds. Die Hauptverantwortlichen für den Ökozid sind wenige Großkonzerne. Häusler geht auf die verheerenden Auswirkungen von Klimawandel, Artensterben, Müllmengen, Pestizideinsatz, Entwaldung, Bodenversiegelung und Luftverschmutzung ein. Er appelliert an die Notwendigkeit radikaler Lösungen und fordert, dass gesellschaftlicher, politischer und juristischer Druck auf diejenigen ausgeübt wird, die weiterhin an veralteten Geschäftsmodellen festhalten. Das Buch führt durch die fünf großen bedrohten Sphären – Klima, Luft, Wasser, Boden, Biodiversität – und zeigt auf, wie weit die Plünderung fortgeschritten ist, wie unser Leben aussehen könnte, wenn nicht genug unternommen wird, und wo die Schalthebel für die Rettung liegen. Martin Häusler: Unsere entscheidenden Jahre. Europa Verlag 2024. 25 Euro

Künstliche Intelligenz strategisch nutzen

Cover - KI-Roadmap
Die kommenden Jahre versprechen einen radikalen Wandel für Unternehmen durch künstliche Intelligenz (KI). Der umfassende Transformationsprozess betrifft sämtliche Branchen und beeinflusst sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte. Dr. Jens-Uwe Meyers neues Buch „Die KI-Roadmap“ wirft einen Blick auf die technologischen Entwicklungen der nahen Zukunft und zeigt auf, wie Unternehmen KI in ihre Prozesse integrieren können und welche neuen Chancen sich durch den Einsatz von KI eröffnen. Jens-Uwe Meyer: Die KI-Roadmap. Künstliche Intelligenz im Unternehmen erfolgreich einsetzen. BusinessVillage 2023. 34,95 Euro

Die versteckte Klimabelastung der Digitalisierung

Cover - EnergiefresserDigitalexperte Jörg Schieb wirft einen kritischen Blick auf einen oft übersehenen Aspekt der Digitalisierung: ihre immense Belastung für unser Klima. Jede Aktivität im Internet, von einer einfachen Suchanfrage in Google bis zum Streaming der Lieblingsserie, belastet unser Klima. In seinem neuesten Werk erklärt Schieb, wie wir diesem Problem begegnen können, ohne gleich offline zu gehen. Angesichts der Klimakrise und Energieknappheit ist es entscheidend, einen kritischen Blick auf den Energieverbrauch unseres digitalen Lebens zu werfen. Der Autor geht in seinem Buch nicht nur auf die notwendigen politischen Veränderungen ein, sondern gibt den Verbrauchern auch konkrete Empfehlungen, wie sie durch kleine Änderungen ihrer Gewohnheiten dazu beitragen können, das Internet klimafreundlicher und nachhaltiger zu gestalten. Jörg Schieb: Energiefresser Internet. Warum jede E-Mail ein Klimakiller ist und wie unser digitales Leben nachhaltiger wird. Redline 2023. 22 Euro

Führung neu denken

Cover - Das_neue_FuehrenIn einer Zeit der Unsicherheit und Unberechenbarkeit, geprägt von tiefgreifenden Veränderungen in Unternehmen und der Arbeitswelt, stellt der Unternehmenskultur-Pionier Bodo Janssen in seinem neuesten Werk „Das neue Führen“ die Prinzipien der Führung auf den Prüfstand. Er verdeutlicht, dass Führungskräfte nicht nur wirtschaftliche Herausforderungen bewältigen müssen, sondern auch die Sorgen ihrer Mitarbeitenden berücksichtigen und die dringend benötigten Veränderungen in ihren Organisationen anstoßen sollen. Bodo Janssen nimmt das Selbstverständnis, die Rolle und die Aufgaben von Führungskräften unter die Lupe. Besonders im mittleren Management, wo Hierarchien und Verantwortlichkeiten aufeinandertreffen, sieht er die Schlüsselrolle für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Das Buch behandelt Themen wie Selbstführung, toxische Führung, New Work Inflation, Wirtschaft und Spiritualität, Resilienz, Verantwortung und den Umgang mit KI. „Das neue Führen“ ist nicht nur ein Ratgeber für Führungskräfte, sondern auch eine Lektüre für ihre Teams. Bodo Janssen: Das neue Führen. Führen und sich führen lassen in Zeiten der Unvorhersehbarkeit. Ariston Verlag 2023. 23 Euro

Neudefinition von Arbeit

Cover - WorkshiftFachkräftemangel, Überlastung, demografischer Wandel und Klimakrise: Das sind die fundamentalen Herausforderungen unserer Zeit. Autorin Elly Oldenbourg ist davon überzeugt, dass eine Neudefinition der Arbeit notwendig ist, um diesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Ihr neues Buch analysiert, was uns derzeit in der Arbeitswelt bremst, und skizziert eine Reihe von „Workshifts“: Veränderungen, die notwendig sind, um eine zukunftsfähige Arbeitswelt zu gestalten. Die vier Wirkungsfelder heißen Zeit, Kollaboration, Vielfalt und Kennzahlen. Oldenbourg präsentiert 22 innovative Ideen, die Menschen und Unternehmen dabei helfen sollen, sich aus den veralteten Strukturen zu lösen und eine flexiblere, zukunftsgerechtere Arbeitswelt zu schaffen, in der die Arbeit um das Leben herum organisiert wird und nicht umgekehrt. Elly Oldenbourg: Workshift. Warum wir heute anders arbeiten müssen, um unser Morgen zu retten. Campus 2024. 30 Euro

Workation: Verbindung von Urlaub und Arbeit

Cover-WorkationDen Urlaub verlängern, indem man am Urlaubsort arbeitet: Dieses Arbeitsmodell nennt sich Workation. Die Autoren des gleichnamigen E-Books beleuchten, wer von einer Workation profitieren kann und welche Voraussetzungen zu beachten sind. Sie benennen die Herausforderungen für Arbeitnehmende und Arbeitgeber, denn: Workation erfordert sorgfältige Vorbereitung, insbesondere im Ausland. Das Buch bietet Antworten auf Fragen zur Sozialversicherung, klärt steuerliche und rechtliche Aspekte und gibt Einblicke in die technischen Anforderungen sowie die Planung der Zusammenarbeit mit dem Team und den Führungskräften. Omer Dotou, Anne-Katrin Schwanitz, Steffi Hochgraef: Workation. Arbeiten, wo andere Urlaub machen. Haufe Verlag 2024. 11,99 Euro

Telegramm: Nachhaltig Neues

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Gourmet-Essen durch Urban Farming

Foto: AdobeStock/Yurii
Foto: AdobeStock/Yurii
Das Sterne-Restaurant „Mural Farmhouse“ in München setzt auf regionale Zutaten. Alle stammen von Obst- und Gemüsebauern aus einem Umkreis von maximal 40 Kilometern. Viele weitere gelangen direkt vom 1000 Quadratmeter großen Dachgarten aus in der Küche. Das Fleisch kommt von im Ganzen verarbeiteten Tieren, jedes Teil wird in den verschiedenen Küchen des Restaurants verwertet. Für sein Konzept erhielt das Restaurant neben dem roten Michelin- Stern auch einen grünen Stern.

Sonnenbrillen aus Altkleidern

Foto: AdobeStock/Free Icons
Foto: AdobeStock/Free Icons
Die Chemieingenieurin und Verfahrenstechnikerin Alina Bassi hat ein Recycling-Verfahren entwickelt, mit dem sie die Kreislaufwirtschaft in der Modebranche voranbringen will: Ihr Nachhaltigkeits-Start-up Kleiderly stellt aus Altkleidern plastikähnliches Material her, das Kunststoff ersetzen soll. Daraus fertigt sie Sonnenbrillen. Das Thema Recycling ist Bassi nicht fremd: Vor der Gründung hat sie für ein Londoner Unternehmen ein Verfahren entwickelt, um aus Kaffeesatz Bio-Kraftstoffe herzustellen.

App statt Kassenbon

Foto: AdobeStock/Ownk Project
Foto: AdobeStock/Ownk Project
Seit Händler die Pflicht zur Ausgabe von Kassenbons haben, kommen täglich noch mehr der Papierzettel in den Umlauf. Um Ressourcen zu sparen, entwickelten vier jungen Gründer die epap App. Damit kann der Einkaufsbon direkt aufs Handy geladen werden, Papierbons werden überflüssig. Die App funktioniert bereits an über 5.500 Kassen in Deutschland. Die Integration erfolgt über eine API. Nutzer können die digitalen Belege direkt in einem Online-Haushaltsbuch sammeln.  

Kaugummis aus Baumsaft

Foto: AdobeStock/nanmulti
Foto: AdobeStock/nanmulti
Herkömmliches Kaugummi besteht zu einem Großteil aus Kunststoff. Thomas Krämer wollte es besser machen. In einem Uni-Seminar zur Forstwirtschaft hörte er vom Rohstoff Chicle, einem Baumsaft aus Zentralamerika, auf dem man schon vor 500 Jahren wie Kaugummis kaute. Krämer entwickelte ein eigenes Kaugummi-Rezept aus Chicle und gründete das Unternehmen Forest Gum. Seine Kaugummis aus nachhaltiger Forstwirtschaft gibt es in mehreren Geschmacksrichtungen. Die Verpackung ist aus recyceltem Papier.

Das letzte Wort hat: Katharina Kreitz, Gründerin von Vectoflow

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Katharina Kreitz studierte Maschinenbau mit der Vertiefung Luft- und Raumfahrttechnik an der Technischen Universität München. 2014 gründete sie Vectoflow, ein Unternehmen im Bereich der fluiddynamischen Messtechnik. Bei einer Finanzierungsrunde Ende 2023 sammelte ihr Unternehmen vier Millionen Euro von Investoren ein. Die Fragen stellte André Boße

Ihr Unternehmen hat in einer Finanzierungsrunde 2023 vier Millionen Euro eingesammelt. Was für ein Verhältnis haben Sie zu diesen Millionensummen? Ich spüre da keine großen Gefühlsbewegungen, sondern sehe das sehr pragmatisch: Das Unternehmen wächst. Was wir aufbauen, funktioniert – und das ist gut. Natürlich hilft es, wenn Investoren uns dabei unterstützen. Sie haben das Unternehmen ohne Fremdkapital gegründet. Genau, mit Ausnahme eines kleinen Investments vom 3D-Druck-Unternehmen EOS vor sieben Jahren, als wir einen Windkanal bauen wollten. Danach sind wir ohne externe Investments gewachsen, langsam, mit eigenen Schritten, so wie Firmen früher gewachsen sind, als es die Start-up-Kultur noch nicht gab. Warum bewerben Sie sich in dieser aktuellen Phase für Investments? Wir haben mit der Serienanfertigung begonnen. Dafür brauchen wir Produktionskapazitäten, Werkstätten und Personal – und das kostet Geld. Was steckt hinter dem Erfolg Ihres Unternehmens? Alle technischen Unternehmen legen heute größten Wert auf Effizienz und Nachhaltigkeit, da sind unsere Themen Messtechnik und Strömungsmechanik ein wichtiger Hebel. Wir gewinnen immer neue Kundengruppen dazu, auch in Bereichen, von denen wir niemals dachten, dass wir dort einen Markt finden würden. Was waren rückblickend die Meilensteine für den Erfolg Ihres Unternehmens? Bei meinem Maschinenbaustudium habe ich viel auf Prüfständen gearbeitet und praktische Erfahrungen in der Messtechnik gesammelt. Dort sind schon erste Ideen für spätere Innovationen entstanden. Als wir uns später für ein Gründungsstipendium beworben haben, brauchten wir im Team jemanden mit BWL-Hintergrund. Ich hatte das zunächst nicht ernst genommen: Wozu braucht man denn einen Schmalspur-BWLer, wenn man technisch unterwegs ist? Ich habe dann eher pflichtbewusst meinen MBA am Collège des Ingénieurs in Paris gemacht. Heute weiß ich: Der BWL-Teil wird immer wichtiger. Es ist komplett falsch, als technisch denkender Mensch zu glauben, betriebswirtschaftliches Wissen sei verzichtbar. Im Gegenteil, es ist nützlich und notwendig. Wann zum Beispiel? Wenn es darum geht, eine neue Sensorik zu entwickeln, will ich am liebsten alle Potenziale nutzen: Hier noch ein Feature, dort noch eine Innovation, das wird super! Der BWL-Teil besteht darin, dieses rein technikverliebte Denken einzufangen, verbunden mit der Kernfrage: Gibt es auch jemanden, der für diese Features bezahlen möchte? Gibt es einen Markt und Kunden? Diese Fragen habe ich mir als Ingenieurin nicht gestellt. Sie sind aber unverzichtbar. Denn nur, weil ich ein Feature geil finde, heißt das ja nicht, dass alle anderen das ebenfalls so sehen und vor allem bereit sind, dafür zu zahlen.
Ausführliches Interview im karriereführer frauen in führungspositionen 2024.2025
Warum haben Sie attraktive Angebote von großen Unternehmen ausgeschlagen? Wenn ich das, was ich vorhabe, nicht selbst ausprobiere, und dann jemand anderes kommt und das macht, dann ärgere ich mich darüber mein Leben lang. Wer es nicht selbst ausprobiert, wird niemals erfahren, ob es funktioniert. Dieses Denken hat mich getriggert. Mein Appell an alle, die Interesse haben, zu gründen: Macht es, versucht es, habt keine Angst! Es gibt einen so krassen Personalmangel, gerade in technischen Unternehmen. Wenn es also nicht klappt, bekommt man trotzdem eine gute Stelle. Man ist dann nicht gescheitert, sondern hat bei der Gründung unendlich viel gelernt.

E-Paper karriereführer Frauen in Führungspositionen 2024.2025 – Weg mit den Bremsklötzen

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karriereführer Frauen in Führungspositionen 2024.2025 – Weg mit den Bremsklötzen

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Weg mit den Bremsklötzen

Die Zeit der Gräben zwischen den Geschlechtern ist nicht vorbei, schreibt unser Autor André Bosse in seinem Essay „Weg mit den Bremsklötzen“. Da ist der Gender Care Gap, der Gender Digital Gap und weiterhin der Gender Pay Gap. Seit Jahren berichten wir über diese Gräben – und na klar, manchmal ist es ermüdend zu sehen, in welch kleinen Schritten es vorangeht. Aber immerhin, es geht voran! Und es gibt viele wunderbare Menschen und Initiativen, die beharrlich dafür kämpfen, diese Gräben zu schließen.

Weg mit den Bremsklötzen

Ob Gender Care Gap oder Gender Digital Gap – die Zeit der Gräben zwischen den Geschlechtern ist nicht vorbei. Im Gegenteil, Forscher sprechen von paradoxen Entwicklungen und strukturellen Gleichheits- Verhinderern. Und nun? Sich erstens der Probleme bewusstwerden und zweitens mit dem Umdenken beginnen. Ein Essay von André Boße

Es tun sich weiterhin Gräben auf. Gräben, von denen man dachte, man hätte sie längst zugeschüttet und überwunden. Dass das noch längst nicht gelungen ist, dafür sprechen einige bemerkenswerte Studienergebnisse. Diese Untersuchungen zeigen, dass auch weiterhin Strukturen existieren, die Gleichberechtigung verhindern, den Prozess dorthin immer wieder abbremsen oder sogar umkehren. Wobei sich diese Strukturen nicht nur ganz oben in den Führungsetagen finden, dort, wo man die Gläserne Decke vermutet. Sie existieren an der Basis: Vielfach sind es die sozialen Grundbedingungen, die dafür sorgen, dass die Gender Equality noch längst nicht erreicht ist.

Gender Digital Gap

Die gewerkschaftsnahe Hans Böckler Stiftung zum Beispiel hat ihr Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) gebeten, zu untersuchen, inwieweit Frauen und Männer beim Thema Digitalisierung auf Augenhöhe stehen. Das Ergebnis der Studie: Sie tun es nicht. „Weibliche Beschäftigte sind mit Blick auf die digitale Zukunft bei ihrer beruflichen Tätigkeit gegenüber männlichen spürbar im Nachteil“, heißt es in der Zusammenfassung. Frauen und Männer arbeiteten zwar annähernd genauso häufig am Computer. „Bei der Verwendung von fortgeschrittener und spezialisierter Software sowie bei der Nutzung vernetzter digitaler Technologien wie Cloud-Diensten zeigen sich aber erhebliche Unterschiede.“ Mit der Folge, dass weibliche Beschäftigte im Durchschnitt ihre Berufschancen auf einem zunehmend digitalisierten Arbeitsmarkt als schlechter einschätzen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich berufstätige Frauen gut auf den Umgang mit vernetzten digitalen Technologien vorbereitet fühlen, liegt bei 34 Prozent. Dagegen sind es unter männlichen Beschäftigten immerhin 49 Prozent“, heißt es in der Studie.

Kampagne gegen Klischees

AdobeStock/U-Studio
AdobeStock/U-Studio
2023 startete die EU-Kommission eine Kampagne, um Geschlechterklischees zu bekämpfen. Der erste Schritt sei es, bei allen Menschen das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche Rolle Gender-Stereotype in der Gesellschaft spielen. „Geschlechterklischees sind tief in unserer Kultur verwurzelt und sie sind eine Ursache für Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern“, heißt es auf der Homepage der Initiative. Das Internetangebot hält neben Infos auch kostenloses Workshop-Materialien bereit, um in Teams zu diesem Thema zu arbeiten.
Für die WSI-Forscherin und Studienautorin Dr. Yvonne Lott sind diese Ergebnisse Grund genug, einen „Gender Digital Gap“ festzustellen. Noch verstärkt wird dieser durch eine Entwicklung, die eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) festgestellt hat. Das Thema der Studie ist das Substituierbarkeitspotenzial“ von Berufen, gemeint ist damit die Wahrscheinlichkeit, mit der Jobs mittel- oder langfristig von digitalen Techniken übernommen werden können, insbesondere von Systemen mit Künstlicher Intelligenz. Im Segment der Unternehmensführung und -organisation sei das Substituierbarkeitspotenzial für Frauen (70 Prozent) deutlich höher als für Männer (50 Prozent). Die Erklärung: „In diesem Berufssegment sind Frauen überproportional häufig in kaufmännischen Fachkraftberufen tätig, die ein mittleres bis hohes Substituierbarkeitspotenzial aufweisen“, schreiben die Studienautorinnen. Demgegenüber arbeiteten Männer häufiger als Manager, Gesch.ftsführer, Betriebs- oder Projektleiter, also in Berufen mit einem niedrigen Substituierbarkeitspotenzial. Die Schlussfolgerung der Expertinnen vom IAB: „Frauen sind hier also potenziell stärker von der Digitalisierung betroffen als Männer.“

Gender Care Gap

Bemerkenswert ist auch das Ergebnis einer neuesten „Zeitverwendungserhebung“ des Statistischen Bundesamtes. Alle zehn Jahre untersuchen die Statistiker*innen, wie Frauen und Männer ihre Zeit aufteilen; die im Februar 2024 veröffentlichte Studie fokussierte sich auf die Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit. Diese setze sich aus „Care-Arbeit“ zusammen: Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, aber auch freiwilliges und ehrenamtliches Engagement sowie der Unterstützung haushaltsfremder Personen. Das Ergebnis: Frauen verbringen im Durchschnitt knapp 30 Stunden pro Woche mit unbezahlter Arbeit, Männer nur knapp 21 Stunden. Das entspricht einer Stunde und 17 Minuten mehr unbezahlter Arbeit pro Tag. Auch hier gibt es also einen Graben, das Statistische Bundesamt spricht von einem „Gender Care Gap“ zwischen Frauen und Männern, der bei 43,8 Prozent mehr unbezahlter Arbeit liegt. Bei der Erhebung vor zehn Jahren habe dieser noch bei 52,4 Prozent gelegen. „Die Lücke zwischen Frauen und Männern bei der unbezahlten Arbeit wurde im Zeitvergleich kleiner, sie ist aber nach wie vor beträchtlich“, wird Ruth Brand, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, in der Pressemitteilung zitiert.

Buchtipp

Cover Steinthaler AllesGenderAlle(s) Gender – Wie kommt das Geschlecht in den Kopf? In ihrem Sachbuch folgt Sigi Lieb den Spuren von Gender und Geschlechterstereotypen. Dabei geht sie der Frage nach, was Geschlecht ausmacht und wo die Ursprünge der gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht liegen. Sie verweist dabei auf den Stand der Wissenschaft: biologisch, medizinisch, gesellschaftlich, historisch, rechtlich. „Ziel des Buches ist es, feministische, homosexuelle, transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Interessen zu verbinden, ohne die Unterschiede und Widersprüche zu leugnen“, schreibt sie auf ihrer Homepage. Sigi Lieb: Alle(s) Gender – Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?. Querverlag 2023. 20,00 Euro.
Interessant dabei: Betrachtet man bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen, arbeiten laut Studie Frauen mit durchschnittlich fast 45,5 Stunden pro Woche mehr als Männer, die im Schnitt knapp 44 Stunden arbeiteten. Entsprechend unterscheidet sich das Zeitempfinden mit Blick auf die Arbeit: Fast jede vierte erwerbstätige Mutter schätze die zur Verfügung stehende Zeit als zu gering ein, zugleich wiederum finde jeder vierte erwerbstätige Vater, dass er zu viel Zeit mit Erwerbsarbeit verbringe. „Eine von vier erwerbstätigen Müttern würde gerne mehr Zeit für Beruf und Karriere haben, einer von vier erwerbstätigen Vätern würde demgegenüber gerne weniger Zeit damit verbringen und sich stattdessen lieber anderen Dingen widmen“, heißt es in der Pressemitteilung zur Studie. Demgegenüber habe nur jede siebte erwerbstätige Mutter angegeben, dass ihre Erwerbstätigkeit zu viel Zeit beanspruche, nur jeder sechste erwerbstätige Vater habe angegeben, dass ihm zu wenig Zeit für Erwerbstätigkeit zur Verfügung stehe.

Gender Equality Paradox

Nun ließe sich dieses Problem in der Theorie schnell lösen: Männer entlasten Frauen bei der Care-Arbeit, schon wäre das Gleichgewicht hergestellt. Doch so funktioniert gesellschaftlicher Wandel leider nicht. Tradierte Strukturen verschwinden nicht, weil die Logik danach verlangen würde. Sie sind widerstandsfähiger, als manch ein Mensch glaubt, der für Wandel und Fortschritt wirbt. Und mehr noch: Sie können dafür sorgen, dass sich ein Phänomen ergibt, dass in der Forschung als „Gender Equality Paradox“ beschrieben wird. Mehrere Studien stellen fest, dass aus einer wachsenden Gleichberechtigung der Geschlechter nicht folgt, dass sich Frauen und Männer ähnlicher werden. Das Gegenteil ist der Fall. So beschrieben die Forscher Gijsbert Stoet und David C. Geary in einer vielbeachteten Untersuchung aus dem Jahr 2018, dass in Ländern mit hoher Gleichberechtigung weniger junge Frauen ein männerdominiertes MINTFach studieren als in Nationen, in denen es weiterhin starke patriarchale Strukturen gibt. Stoet und Geary stellten fest, dass in Algerien die Frauenquote in MINT-Fächern mehr als 40 Prozent beträgt, in Norwegen lag die Quote bei weniger als 25 Prozent. Dabei gilt dieses Land laut eines Blog-Beitrages der Deutschen Auslandshandelskammer Norwegen als „Vorbild in der Gleichstellung“, da das Land bereits 2003 eine 40-Prozent-Quote für die Geschlechterverteilung in den Vorständen börsennotierter sowie öffentlicher Unternehmen eingeführt habe und damit weltweit zum Vorreiter wurde.
AdobeStock/VisualProduction
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Seit Veröffentlichung der Studie gibt es eine Debatte über die Gründe dieses Paradoxons. Ein Fachbeitrag im Magazin „Spektrum der Wissenschaft“ versucht, die vielen Erklärungsversuche zusammenzufassen und zitiert dabei die Soziologin Julia Gruhlich, die aktuell an der Universität Göttingen lehrt: „Wir haben feste Vorstellungen davon, welche Berufe für welches Geschlecht in Frage kommen, und wir verinnerlichen diese Zuschreibungen im Lauf der Zeit.“ Diese strukturellen Stereotype übten einen großen Einfluss auf die Entscheidungen aus: Wir glauben, dass wir uns frei entscheiden – doch wird diese Entscheidung mehr als wir denken von den sozialen Strukturen mitbestimmt.

Wir alle müssen umdenken

Die Bremsklötze auf dem Weg zur Gender Equality müssen gesehen werden, um sie bekämpfen zu können.
Ist der Wille zur Gleichberechtigung damit ein Kampf gegen Windmühlen, der gar nicht zu gewinnen ist? Natürlich nicht. Was aber wichtig ist: Die Bremsklötze auf dem Weg zur Gender Equality müssen gesehen werden, um sie bekämpfen zu können. Das gilt weiterhin auch für die Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen. Die neueste Untersuchung des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) besagt, dass „Frauen in Führungspositionen mit einem Anteil von durchschnittlich 25 Prozent in Deutschlands Unternehmen immer noch stark unterrepräsentiert sind“. Und das, obwohl mehr als drei Viertel der befragten Unternehmen gute bis sehr gute Erfahrungen mit gemischten Führungsteams gemacht haben. Und obwohl es seit vielen Jahren politische, gesellschaftliche und unternehmerische Maßnahmen gibt, den Anteil der Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. „Ein Allheilmittel zur Förderung von Frauen in Führungspositionen gibt es nicht“, schreiben die Studienautorinnen Johanna Garnitz und Annette von Maltzan im Ausblick ihrer Studie. Doch es gebe eine zentrale Grundlage, um Veränderungen zu ermöglichen: „Die Schaffung von Rahmenbedingungen, die die Flexibilität von Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung unterstützen.“ Hierzu gehörte, so die Autorinnen, die Ausweitung der Kinderbetreuung oder Anreize zur gerechteren Aufteilung der Care-Arbeit, um den Gender Care Gap zu verkleinern. Wobei der Erfolg aller dieser Maßnahmen davon abhängig ist, inwieweit die Menschen in Deutschland motiviert sind, die Strukturen zu hinterfragen und zu überwinden. „Die Förderung von Frauen in Führungspositionen“, so das Fazit der ifo-Untersuchung, „kann langfristig nur durch ein gesamtgesellschaftliches Umdenken erreicht werden.“ Mut machen kann an dieser Stelle ein berühmtes Zitat des französischen Künstlers Francis Picabia: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“

Buchtipp: Mütter Europas

Cover BojsSchon lange wird erforscht, wie Frauen in der Stein- und Bronzezeit lebten oder wie die Geschlechterverhältnisse in der Zeit vor Erfindung der Schrift waren – doch gesicherte Erkenntnisse gab es oft nicht. Das hat sich geändert, seitdem DNAAnalysen für die prähistorische Forschung zur Verfügung stehen. Karin Bojs, schwedische Wissenschaftsjournalistin, ausgezeichnet mit der Ehrendoktorwürde der Universität Stockholm, hat nun die neuesten Ergebnisse zusammengetragen und fragt, wann und warum in Europa das Patriarchat entstand. Eine spannend geschriebene Entdeckungsreise in die Welt der Archäologie. Karin Bojs: Mütter Europas. Die letzten 43.000 Jahre. C.H. Beck 2024. 26,00 Euro

Eintauchen

FrauenNetzwerk-Bau

Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie hat 2023 das FrauenNetzwerk-Bau initiiert. Lest hierzu das karriereführer-Interview mit Jutta Beeke, Vizepräsidentin des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie.

App soll Frauen vor Gewalt schützen

Schon vor Jahren hatte Stefanie Knaab die Idee zu einer App, die von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen hilft. 2020 stellte sie ihr Konzept bei einem Hackathon der Bundesregierung vor und gewann den Auftrag, ihre App-Idee zu verwirklichen – gemeinsam mit Experten aus Opferschutzverbänden sowie der Rechtsmedizin, der Kriminologie und der Polizei. In Hannover und Berlin läuft die App nun als Pilotprojekt. Sie ist „versteckt“, sodass Gewalttäter sie nicht erkennen können. Betroffene Frauen können sich mit der App umfassend informieren, in einem Gewalttagebuch Fotos und Notizen gerichtsverwertbar dokumentieren, sie finden Infos zu Hilfsangeboten vor Ort und können lautlos Notrufe absetzen. Gefördert wird das Projekt vom Bundesjustizministerium sowie dem Bundesinnenministerium.

Feministische KI

Feministische KI (Künstliche Intelligenz), oder englisch AI (Artificial Intelligence), strebt danach, das Potenzial von KI zu steigern und dabei Gleichheit und ein besseres Leben für alle zu schaffen. Es geht darum, die Perspektive von Frauen, LGBTIQ+ und anderen marginalisierten und unterrepräsentierten Gruppen in die Technologie und die algorithmischen Prozesse einzubringen. Patriarchalische Strukturen, systemische Privilegien und Machtungleichgewichte in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sollen überwunden werden. So kann KI einen entscheidenden Beitrag für eine nachhaltigere Zukunft leisten. Das FemAI – Center for Feminist Artificial Intelligence mit Sitz in Berlin setzt sich für diese Ziele und die Vision einer digitalen Ethik ein. Es arbeitet beispielsweise mit der EU-Delegation in Washington, dem Deutschen Bundestag, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung oder Amnesty International zusammen. So hat FemAI unter anderem das KI-Gesetz der EU begleitet und war in politische Prozesse und Hintergrundgespräche eingebunden.

Mit Klimaschutz-Technik bei jungen Ingenieurinnen punkten

Laut Ingenieurmonitor des VDI ist es für Unternehmen doppelt lohnenswert, bei technischen Entwicklungen auf den Klimaschutz zu achten. Zum einen sorgen die Innovationen dafür, dass die eigenen Klimaziele oder diejenigen der Kund*innen erreicht werden. Zum zweiten belegen Studien, dass Unternehmen mit Schwerpunkten im Klimaschutz für weibliche Fachkräfte attraktiv sind: „Gerade beim Klimaschutz zeigt sich, dass junge Frauen für dieses Ziel und Thema besonders sensibilisiert sind“, heißt es im Ingenieurmonitor 2023.