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Die Stadt Bergisch Gladbach in NRW hat im März 2022 gemeinsam mit zwei Filialen der Unternehmen Rewe und Edeka die Initiative „Stille Stunde“ gestartet. Hintergrund: Der alltägliche Einkauf ist in heutiger Zeit von ständiger Reizüberflutung geprägt. Die Beleuchtung ist grell, Musik dudelt im Hintergrund und Mitarbeiter wuseln mit ausladenden Rollcontainern hin und her, um die Regale aufzufüllen. An der Kasse erfasst der Scanner jeden Artikel mit schrillem Piepton und während des Bezahlvorgangs unterhalten sich andere Kunden lautstark. All dies ist Alltag für die Mehrheitsgesellschaft, aber es gibt auch Menschen, bei denen allein die Vorstellung bereits großen Stress auslöst. Das sind insbesondere für Personen mit Autismus oder Reizverarbeitungsschwierigkeiten. Deshalb möchte die „Stille Stunde“ den Kundinnen und Kunden eine reizreduzierte Zeit zum Einkaufen anbieten, bei der Augen und Ohren geschont und die Ablenkung im Geschäft minimiert werden soll. Dazu gehört auch, dass in dieser Zeit Assistenzhunde dort, wo es möglich ist, in den Geschäften willkommen sind.
Spende gegen Pfand
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Unter dem Motto „Bring dich ein für deinen Verein“ hat Netto die zeitgleiche Unterstützung von bundesweit über 2400 regionalen Vereinen ermöglicht. Von September bis November 2022 konnten Kund*innen an den Kassen und Pfandautomaten von 48 Filialen spenden. Mit den Worten „Einfach Aufrunden“ können Kundinnen und Kunden an der Kasse ihre Einkaufssumme auf den nächsten 10-Cent-Betrag erhöhen und die Differenz an den teilnehmenden Verein ihrer Filiale spenden. Auch eine Pfandspende am Leergutautomaten ist per Knopfdruck möglich. Im Vorfeld zum Spendenstart hatten gemeinnützigen Vereine die Möglichkeit, sich für die Teilnahme zu bewerben. Über 5000 Vereine nahmen diese Chance wahr. Durch ein anschließendes Kundenvoting wurden die teilnehmenden Vereine ausgewählt
Oben wohnen, unten einkaufen
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Lidl und Aldi hatten bereits vor einigen Jahren angekündigt, eigene Wohnungen zu bauen und zu vermieten. Bereits 2020 starteten sie in Berlin mit eigenen Wohnbauprojekten. In Köln hat Aldi Süd nun ein eigenes Projektentwicklungsbüro eröffnet, um solche Vorhaben weiter voranzutreiben. Auch auf der Messe EXPO REAL 2022 in München, der größten Fachmesse für Immobilien in Europa, präsentierte sich Aldi Süd als Mitaussteller an Ständen von Partnern und unterstrich damit sein Interesse an städtebaulicher Entwicklung.
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Im September jeden Jahres findet seit 2001 die Faire Woche statt: 2022 drehte sich unter dem Motto „Fair steht dir – #fairhandeln für Menschenrechte weltweit“ alles um das Thema Textilien. Veranstalter der fairen Woche sind das Forum Fairer Handel e. V. in Kooperation mit Fairtrade Deutschland e. V. und dem Weltladen-Dachverband e. V.
Food Report 2023
Hanni Rützlers Food Report 2023 ist eine Jubiläumsausgabe und bietet einen Einblick in die neuesten Entwicklungen der Lebensmittelbranche in Zeiten multipler Krisen. Die österreichische Ernährungswissenschaftlerin und Foodtrendforscherin analysiert die systemrelevante Food-Branche mit gewohnter Finesse und Expertise. Sie beschäftigt sich mit dem Wandel des Konsumverhaltens – wie immer veranschaulicht durch Best-Practice-Beispiele, Zahlen und Fakten.
Tipps vom Bundesumweltamt
Fast ein Drittel der produzierten Lebensmittel landen im Müll. Lebenswichtige Ressourcen wie Ackerflächen und Wasser werden unnötig verschwendet, vermeidbare Treibhausgase entstehen. Dabei ist vieles, was auf dem Müll landet, eigentlich noch genießbar. Das Bundesumweltamt gibt Tipps, um Lebensmittelabfälle zu vermeiden: vom gut geplanten Einkauf über die kreative Verwertung von Resten bis zur richtigen Lagerung.
„Die Kraft der Reue“
Daniel H. Pink führt in seinem New-York-Times-Bestseller „Die Kraft der Reue“, dessen deutsche Übersetzung im Oktober 2022 erschienen ist, vor Augen, wie wichtig Reue für unser persönliches Vorankommen ist. Dabei geht er auf die unterschiedlichen Formen von Reue ein und zeigt anhand neuester psychologischer Erkenntnisse, wie etwas zu bereuen uns dabei helfen kann, künftig bessere Entscheidungen zu treffen. Damit stellt Pink in seinem Buch die häufig unterschätzte Emotion in ein völlig neues, positives Licht und plädiert für einen anderen Umgang mit Reue in unserer Gesellschaft. So kann Reue letztlich dazu beitragen, unserem Leben einen größeren Sinn zu verleihen: in der Gegenwart und in der Zukunft. Daniel H. Pink: Die Kraft der Reue. Wie der Blick zurück uns hilft, nach vorne zu schauen. Allegria 2022. ISBN: 978-3-7934-2449-9. 22,99 Euro.
„Ein Leben für den guten Geschmack“
Johann Lafer liefert mit „Ein Leben für den guten Geschmack“ eine Autobiografie in Rezepten, angefangen in seiner steirischen Heimat, die seine Kochphilosophie bis heute prägt. Er erzählt über seine ersten Kochversuche, die Bedeutung des Essens im Alltag und bei Familienfeiern und präsentiert die Gerichte, die für ihn kindheitsprägend waren. Es folgen alle Stationen – von der Lehre bis zur Eröffnung der Stromburg mit den jeweils prägenden Rezepten – und bietet eine kleine Zeitreise in die 1980er-Jahre und die Nouvelle Cuisine, bis hin zu Lafers heutiger Philosophie der einfachen Küche. Johann Lafer: Ein Leben für den guten Geschmack. Erzählt von Jan Hofer. GU 2022. ISBN 978-3-8338-8282-1. 26 Euro.
Sicht im Labor-Dschungel
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Labels dienen Verbraucherinnen und Verbrauchern als praktischer Rat beim Einkauf. Unter „Label“ oder auch „Siegel“ versteht mal allerdings verschiedene Informationssysteme und Managementinstrumente. Die Plattform „label-online“ stellt Label-Arten, von Regionallabels über Gütezeichen bis zu Prüflabels und Clean Labels vor.
Netzwerk der Foodbranche
Das Frauenforum Foodservice findet jährlich im November statt und bringt seit acht Jahren hochkarätige Speakerinnen aus der Food- und Gastronomiebranche auf die Bühne und gilt als eines der wichtigsten Networkingevents der Branche. Initiator ist der Verein Frauennetzwerk Foodservice e. V. mit 1500 Netzwerkerinnen und über 150 Members.
Das Leben ist einfach …
Der erfahrene Psychotherapeut Holger Kuntze erklärt in seinem neuen Buch, warum wir persönlichen Krisen nicht hilflos ausgeliefert sind – und warum sie manchmal geradezu sinnvoll sein können. Er gewährt uns mithilfe moderner Verhaltenstherapie sowie neuester Erkenntnisse der Neurowissenschaft und Evolutionsforschung einen Blick hinter die Kulissen unseres eigenen Fühlens und Denkens. Mit kleinen Notfallinterventionen und zwanzig Begriffspaaren, die das Leben leichter machen, öffnet er einen Zugang zu unseren inneren Freiräumen. Konkret und mit Beispielen aus seiner eigenen Praxis benennt er Ressourcen, die uns auf der Basis akzeptanzbasierter Strategien ermöglichen, die Zumutungen des Lebens anzuerkennen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Holger Kuntze: Das Leben ist einfach, wenn du verstehst, warum es so schwierig ist. Kösel 2021. 18 Euro.
Thomas Röttcher ist 52 Jahre alt und leitet als Geschäftsführer seit 2011 den Rewe-Markt im nordrheinwestfälischen Kaarst. Das Familienunternehmen geht mit dem Trend und hat jetzt als Vorreiter eine vegane Fleischtheke eingeführt. Die Fragen stellte Christiane Martin
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine eigene Theke für vegane Produkte einzuführen?
Seit vielen Jahren orientiere ich mich an den Wünschen, an der Nachfrage der Kunden. Schon im letzten Jahr, als wir unseren Markt renoviert haben, konnte ich die steigende Nachfrage nach veganen Lebensmitteln erkennen. So habe ich im Umbau in der Obst- und Gemüseabteilung eine größere Fläche für vegane Selbstbedienungsprodukte zur Verfügung gestellt. Zunächst war die Fläche zu groß, aber im Laufe des Jahres füllte sich das Regal immer mehr, bis zu dem Tag, da das Regal zu klein war. Dann hörte ich von einem Projekt beim Unternehmen Rewe, bei dem eine vegane Bedienungstheke in die Märkte integriert werden sollte und schrie ganz laut „hier“.
Wie viele und welche Produkte führen Sie und wo stammen die her?
Derzeit bieten wir 35 Produkte an, die an das Zentrallager von Rewe geliefert werden und dann von uns aus dem Lager bezogen werden können. Es handelt sich um vegane Alternativen von: Schnittkäse, Weichkäse, Camenbert, Salamie, Lyoner, Fisch, Huhn, Rind, Schwein in verschiedenen Ausformungen und Salate.
Was glauben Sie: Ist vegane Ernährung nur ein Hype oder wird sich diese Ernährungsweise weiter verbreiten?
Ich denke, dass es kein Trend mehr ist, sondern eine Entwicklung. Die Flamme ist noch klein, aber wenn man den Umfragen glauben darf, entscheiden sich 37 Prozent der Kinder im Alter von 13 Jahren für den veganen Weg. Es gibt viele gute Gründe zumindest hin und wieder auf eine pflanzliche Alternative zurückzugreifen.
Wie ernähren Sie sich?
Ich ernähre mich omnivor. Ich esse gerne Fleisch, aber ich esse nicht jeden Tag Fleisch. Die Artikel, die wir jetzt in der veganen Theke führen, schmecken so verwechselbar nach dem Original, das ich davon regelmäßig essen werde.
Welchen Ratschlag können Sie jungen Menschen, die am Anfang ihrer beruflichen Karriere stehen, mit auf den Weg geben?
Wichtig ist, dass die jungen Menschen herausfinden, was ihnen Spaß macht und welche Tätigkeiten ihnen liegen. Was ihnen schwer fällt, sollten Sie lieber sein lassen, denn Sie müssen es dann ja gegebenenfalls ihr Leben lang machen. Denn: Nur wer mit Spaß eine Arbeit macht, die ihm leichtfällt, macht die Arbeit gut und gerne.
Zahlreiche Branchen stehen vor dem zentralen Problem des Nachwuchskräftemangels – so auch die Bau- und Immobilienwirtschaft. Bauunternehmen schätzen den Fachkräftemangel sogar als großes Geschäftsrisiko ein. Zu Jahresbeginn 2021 nannten in der Umfrage der Deutschen Industrie und Handelskammer (DIHK) 67 Prozent der Bauunternehmen diesen als Risiko für die eigene wirtschaftliche Entwicklung. Zu Jahresbeginn 2010 waren es 21 Prozent. Wie Unternehmen dem Nachwuchsdilemma begegnen können, untersucht ein Forschungsprojekt an der Bergischen Universität Wuppertal.
Nane Roetmann ist Absolventin des berufsbegleitenden MBE Baubetrieb (www.baubetrieb.de) und derzeit als Vertriebsingenieurin bei LIST Bau in Nordhorn tätig. Zudem ist sie Promotionsstudentin an der Bergischen Universität Wuppertal. Unter der Leitung von Prof. Manfred Helmus forscht sie am Lehr- und Forschungsgebiet Baubetrieb und Bauwirtschaft gemeinsam mit Kolleg*innen zu diesem Thema.
Um mehr junge Menschen für die Bauleitung zu begeistern, entwickelt Nane in ihrem Forschungsprojekt zeitgemäße und flexiblen Arbeitsmodelle, insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen, denn als eine Ursache für den Nachwuchsmangel wurde die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf identifiziert. Als weitere Ursache haben die Forscher das schlechte Image der Bauwirtschaft und der Tätigkeit der Bauleitung ausgemacht. Nane spricht als ehemalige Bauleiterin aus Erfahrung: „Viele Stunden, lange Fahrten von einer Baustelle zur nächsten, viel Dokumentation, „schmutzige Hände“, hohe Verantwortung – Vorurteile, die man in Verbindung mit der Tätigkeit der Bauleitung hört“, sagt Nane und führt weiter aus, dass dies nur zum Teil stimme. „Die Aufgabenbereiche sind sehr vielseitig und abwechslungsreich. Kein Tag ist wie der andere und man steht mit zahlreichen Projektbeteiligten im Austausch. Am Ende des Tages sehe ich das Ergebnis meiner Arbeit und das macht mich jedes Mal aufs Neue stolz.“
Bereits in ihrer Masterarbeit hat sich Nane damit beschäftigt, wie die Arbeitssituation von Baustellenführungskräften nachhaltig verbessert werden kann. In ihrem berufsbegleitenden Masterstudium hat sie selbst erlebt, wie schwierig es ist, Bauleitung und Studium zu kombinieren. „Hätte ich dazu noch eine eigene Familie gehabt, wäre das nicht unmöglich, aber eine echte Herausforderung gewesen.“
Das Studium hat sie mittlerweile erfolgreich absolviert. Das Thema jedoch hat sie nicht losgelassen, weswegen sie sich entschlossen hat, darüber zu promovieren. „Viele kleine und mittelständische Unternehmen sehen sich mit der Nachwuchsfalle konfrontiert. Es muss insgesamt ein Umdenken erfolgen, damit der Beruf in der Bauleitung mit dem Rest des Lebens vereinbar ist. Nur so werden Unternehmen langfristig ihren Bedarf an Führungskräften des Baubetriebs decken können“, erklärt Nane. Das Forschungsprojekt ist noch nicht abgeschlossen, die entwickelten Modelle müssen noch erprobt werden, aber diese klare Tendenz zeichnet sich bereits ab.
www.baubetrieb.de
Der Bau wird Meta-Branche – Bauingenieur*innen übernehmen Netzwerkknotenpunkte
Die Digitalisierung mit Methoden wie BIM ist für den Bau der zentrale Hebel, um nachhaltig und klimaschonend zu bauen. Das weiß die Industrie – doch findet die Umsetzung weiterhin nur gebremst statt. Das muss sich ändern.
3 Trends – 3 Fragen an Peter Hübner, Präsident der BAUINDUSTRIE
Bleibt der Bau trotz der derzeitigen Herausforderungen – Preissteigerungen, Knappheit bei Rohstoffen oder dem Krieg in der Ukraine – weiterhin eine Zukunftsbranche für junge Bauingenieurinnen und Bauingenieure? Ja, denn eines ist klar: Ohne uns geht es nicht. Wir bauen Krankenhäuser, Schulen, Wohnungen, Altenheime und Verkehrswege – wir begleiten die Bürgerinnen und Bürger ein Leben lang. Der Bau war und ist die Stütze der deutschen Volkswirtschaft. Es ist deshalb richtig, dass die Bundesregierung auch weiter den notwendigen Fokus auf den Infrastrukturausbau und die Modernisierung setzt, damit unser Land vorankommt. Wir haben in den letzten 15 Jahren 200.000 Menschen (das ist nur der Nettowert bzgl. Rentenaustritte. Wir könnten sogar mit „über 460.000“ rangehen) eingestellt. Das hat keine andere Branche geschafft. In den letzten zwei Jahren gab es immer mehr Ausbildungsabsolventen. Wir haben einfach eine extrem gute Zukunftsperspektive zu bieten. In den kommenden Jahren müssen wir diese Perspektive noch stärker herausstellen, da wir allein auf Grund der Abgänge in die Rente viele neue Menschen beschäftigen wollen. Der Bau ist vielfältig, innovativ und schafft Arbeits- und Lebenswelten, die Generationen überdauern. Diese Faszination zu vermitteln, ist eine Zukunftsaufgabe, um im „war for talents“ zu bestehen. Der Fokus auf digitale Arbeitsmethoden und innovative Produkte wird wiederum Begeisterung bei jungen Menschen auslösen und neben der Produktivität auch die Branchenattraktivität steigern würden.
Welche Rolle ordnen Sie den Unternehmen der Bauindustrie in den für sie so zukunftsentscheidenden Themen Klima- und Umweltschutz sowie der digitalen Transformation zu? Die Bauindustrie bekennt sich etwa klar zu den Klimaschutzzielen im Gebäudesektor, der rund 40 Prozent aller CO2-Emissionen bundesweit emittiert. Auch wenn wir als Bauindustrie nur einen Bruchteil dieser Emissionen selbst verantworten, können wir dem Gebäude- und auch anderen Sektoren helfen, ihre Emissionen langfristig zu senken. Wir sind eine Schlüsselbranche für den Klimaschutz, der enormen Bauaufgaben mit sich bringt. Doch wie gelingt nachhaltiges Bauen in der Praxis? Technisch sind wir bereits heute in der Lage, klimaschonend zu bauen. Wir sind allerdings auf einen Auftraggeber angewiesen, der diese Potentiale abruft und beauftragt. Gerade die öffentliche Hand nutzt dies bisher noch zu wenig. In fast allen öffentlichen Ausschreibungen zählt ausschließlich der Preis und nicht die beste Idee. Um dies zu ändern, braucht es einerseits Vergabekriterien, die eine Bewertung der nachhaltigsten und wirtschaftlichsten Idee transparent und nachvollziehbar möglich machen. Andererseits sollten bei Projektvergaben Emissionen über alle Phasen des Lebenszyklus berücksichtigt werden, damit wir ganzheitlich optimieren können. Digitalisierung wird uns dabei helfen: Building Information Modeling (BIM) spielt neben Technologien wie Robotik, dem Einsatz von Drohnen, Sensorik etc. bereits heute eine entscheidende Rolle, um Bauwerke ganzheitlich zu planen bzw. den Bauablauf zu verbessern. Unternehmen, Planer und Auftraggeber erkennen mehr und mehr die Vorteile dieses Ansatzes: weniger Fehlplanungen durch digitale Simulation des Bauvorhabens vor Baubeginn oder Zeit- und Kostenreduktion durch optimierte Personal-, Material-, Geräte- und Maschineneinsätze. Doch: Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern eine gemeinsame Aufgabe aller Bau-Beteiligten, um die Anforderungen der Kunden und Nutzer zu erfüllen, und die Komplexität durch die verändernden ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen zu meistern. Nachhaltiges Bauen, mehr Wohnungen, Sanierung der Brücken, Ausbau der Infrastruktur: Um all die vor uns liegenden Bauaufgaben bewältigen zu können, müssen wir unsere Produktivität durch Industrialisierung steigern. Auch hierbei wird uns die digitale Transformation helfen.
Ohne die Bauunternehmen werden auch die Mobilitätswende, die Energiewende oder bezahlbares Wohnen nicht klappen. Wächst das erforderliche Kompetenz-Set für Bauingenieurinnen und Bauingenieure damit erheblich an? Wenn wir uns als Gesellschaft eine Nachhaltigkeitsagenda geben wollen, muss die praktische Planung und Ausführung mit innovativen Ideen und fachlich exzellent ins Werk gesetzt werden. Natürlich bedeutet das auch eine enorme Entwicklung der Themenvielfalt im Bauingenieurwesen und eine Potenzierung beruflicher Optionen. Für Studierende bringt das vor allem mehr Wahlmöglichkeiten mit sich. Sie können den klassischen Weg über ein generalistisch ausgelegtes Studium mit Anteilen von Baukonstruktion, Statik, Geotechnik, Verkehrs- und Wasserwesen oder Baumanagement wählen. Sie können ihr Interessengebiet aber auch schon im Bachelor, oder später im Master durch eine zunehmende Anzahl fachlicher Wahlmöglichkeiten klarer eingrenzen und sich stärker spezialisieren. Daneben treten immer mehr duale Studiengänge, die von Beginn an einen höheren Spezialisierungsgrad aufweisen, etwa im Projektmanagement oder der Fassadentechnik. Letztlich geht es also nicht darum, ob das notwendige Kompetenz-Set anwächst. Es geht vielmehr darum, ob die Möglichkeit der Kompetenzentwicklung sich erweitert, um neue gesellschaftlich relevante Aspekte mit dem Bauingenieurwesen zu verknüpfen. Und diese Frage ist eindeutig mit „Ja“ zu beantworten. Neue Aufgabenfelder machen den Beruf nicht schwieriger, den Weg durchs Studium nicht steiniger, sondern erfordern oft nur eine stärkere Spezialisierung im Studium oder im späteren Beruf, ohne dabei die nötigen Kernkompetenzen eines qualitativ hochwertigen Bauingenieur-Studiums zu vernachlässigen.
Peter Hübner auf dem Tag der Bauindustrie 2022 #TBI2022
Die Digitalisierung mit Methoden wie BIM ist für den Bau der zentrale Hebel, um nachhaltig und klimaschonend zu bauen. Das weiß die Industrie – doch findet die Umsetzung weiterhin nur gebremst statt. Das muss sich ändern, denn nur eine hohe Transformationsdynamik lockt die Talente an. Und die sind nötig, damit die Bauindustrie ihr großes Ziel erreicht: Mit Innovationen dafür zu sorgen, dass sie Probleme löst. Ein Essay von André Boße
Urbane Resilienz – das klingt zunächst nach einem der vielen Buzzwords, die aktuell durchs Netz geistern, heute noch jeden zu interessieren haben, morgen aber schon wieder vergessen sind. Aber Vorsicht, man tut gut daran, sich diesen Begriff zu merken. Vor allem, wenn man als Nachwuchskraft mit einem Abschluss im Fach Bauingenieurwesen auf eine Karriere hinarbeitet, die zwei Dinge verbindet: Erfolg und Sinnhaftigkeit. Was also ist urbane Resilienz? Im großen Stil besprochen wurde die Begrifflichkeit beim von der Bundesregierung veranstalteten dreitägigen Bundeskongress für Nationale Stadtentwicklungspolitik, der Mitte September in Berlin stattfand. „Transformation gestalten – Aufbruch zur urbanen Resilienz“ lautete der Titel der Tagung. Es ging darum, Strategien zu entwickeln, um die Städte widerstandsfähig zu machen. Gegen soziale Problemlagen. Gegen Gentrifizierung und demografische Entwicklungen. Und gegen den Klimawandel. Wobei Resilienz bei Letzterem gleich zwei Bereiche betrifft: Zum einen muss die Stadt von morgen dafür sorgen, die Folgen des Klimawandels abzumildern. Zum anderen steht sie vor der Aufgabe dazu beizutragen, dass die CO2-Emmissionen signifikant sinken.
Smart City: die große Vernetzung
„Alles, was der Hoch- oder Tiefbau errichtet, wird eingebettet in eine Datenstruktur. Kein Gebäude, kein Abwasserkanal, keine Straße, keine Brücke steht mehr nur für sich.“
Wie das gelingen kann? Die Initiative Nationale Stadtentwicklungspolitik ist Mit-Initiatorin der Digitalplattform Smart Cities. Moment, Smart City – ist das nicht auch so ein viel genanntes Buzzword? Nach dem Motto, wenn das Handy smart ist, dann sollten es auch alle anderen Dinge sein, Häuser, Autos und eben auch Städte? Genau gegen dieses Vorurteil geht die Digitalplattform mit Hilfe einer Smart City Charta an, die konkrete Leitlinien dafür vorgibt, was eine Smart City leisten soll. „Die Digitalisierung wird viele Bereiche von Verwaltung, Wirtschaft und Stadtgesellschaft weiter verändern“, heißt es in der im Internet abrufbaren Charta. „Smart City nutzt Informations- und Kommunikationstechnologien, um auf der Basis von integrierten Entwicklungskonzepten kommunale Infrastrukturen, wie beispielsweise Energie, Gebäude, Verkehr, Wasser und Abwasser zu verknüpfen.“ Das bedeutet: Alles, was der Hoch- oder Tiefbau errichtet, wird eingebettet in eine Datenstruktur. Kein Gebäude, kein Abwasserkanal, keine Straße, keine Brücke steht mehr nur für sich. Alles, was gebaut wird, wird Teil eines digitalen Netzwerks. Mit dem Ziel, Ressourcen zu schonen, Mobilität neu zu denken, den Wohlfühlfaktor in den Städten zu erhöhen. Oder, auf ein Schlagwort gebracht: die urbane Resilienz zu erhöhen.
Nun könnte ein wenig agil denkender Bauingenieur (oder eine wenig agil denkende Bauingenieurin) vermuten, dass diese Anforderungen an den Bau die Kapazitäten endgültig sprengen: Was soll der Bau denn noch alles leisten – zumal in Zeiten von Krisen und Kriegen, die steigende Preise und andere wirtschaftliche Sorgen auslösen. Darf sich das Bauwesen da nicht selbst genügen?
Studie zeigt Lücke bei digitaler Transformation
Nein, darf es nicht. Heute weniger denn je. Aber der Schritt der oben beschriebenen Vernetzung ist gar nicht so groß, wie er zunächst klingt. Schon jetzt vernetzen sich in einem modernen Bauprojekt die verschiedenen Akteure, sie arbeiten zusammen in digitalen Modellen, nutzen dafür verstärkt BIM, Building Information Modeling, eine smarte Lösung für digitale Vernetzungsansprüche in allen Phasen, von der Planung über den Bau sowie die Bewirtschaftung bis zum Rückbau. Das Projekt in einem zweiten Schritt an eine übergeordnete Dateninfrastruktur anzubinden, ist dann gar nicht mehr so komplex.
Studie zum „Image der deutschen Bauwirtschaft“
Wer den Fachkräftemangel beheben will, muss attraktiv für Talente sein. Wie aber ist es um das Image der deutschen Bauwirtschaft bestellt? Dieser Frage ging der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) in der „Imagestudie 2022“ nach. Das Fazit: „Das Image der Bauindustrie wandelt sich, und das zum Guten“, heißt es in der Studienzusammenfassung auf der Homepage des Hauptverbands. Keine andere Industrie oder Branche habe in den vergangenen Jahren so klare Imagezuwächse verzeichnet. „Die Studie zeigt allerdings auch, dass durchaus Kommunikationsbedarf besteht“, heißt es weiter. „Gerade jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweifeln an der rasant voranschreitenden Modernisierung der Branche, der Innovationskraft, dem Beitrag zum Kampf gegen die Klimakrise und nicht zuletzt an den Verdienstmöglichkeiten.“ Die Studie, die der HDB zusammen mit dem Allensbacher Institut erstellt hat, ist als Zusammenfassung oder Komplettversion gratis im Netz über die Homepage des Verbandes verfügbar: www.bauindustrie.de
Jedoch muss selbstverständlich der erste vor dem zweiten Schritt gemacht werden, und hier gibt es immer noch genug zu tun. Eine Studie der Unternehmensberatung PwC aus dem Dezember 2021 kommt zu dem Ergebnis, dass sich bei einer Umfrage in der deutschen Bauindustrie die Teilnehmenden einig darüber waren, dass die Digitalisierung „große Chancen“ bietet. Jedoch erkannten die Studienautor*innen bei den Einschätzungen der Befragten eine Lücke zwischen „dem Potenzial digitaler Lösungen und den eigenen Fähigkeiten“, wie es in der Studie heißt. Diese Lücke sei nicht neu, habe sich im Vergleich zu älteren Befragungen jedoch nicht verkleinert. Wo die Hindernisse für eine schnellere Entwicklung liegen? Auch hier liefert die PwC-Studie ein Ergebnis: „Die größte Herausforderung bei der Nutzung digitaler Lösungen ist nach wie vor der Fachkräftemangel.“
Das Henne-Ei-Dilemma
Die Lage ist ein wenig verzwickt: Der Bau benötigt digitale Talente, um den nächsten Schritt der Transformation zu gehen. Jedoch wirkt die Branche auf den Nachwuchs nur dann attraktiv, wenn sie in Sachen Digitalisierung Schritt halten kann. Das erinnert an die Frage, was denn zuerst da war, die Henne oder das Ei. Gefragt sind an dieser Stelle auch die Bauunternehmen: Sie müssen der jungen Generation zeigen, dass sie es mit der digitalen Transformation und ihrer zentralen Methode BIM ernst meinen. Die Talente wiederum stehen vor der Aufgabe, sich die großen Perspektiven der Branche vor Augen zu halten. Junge Menschen sollten die Chance sehen, als Digital Natives die Branche dabei zu unterstützen, ein neues Mindset zu entwickeln – ein Mindset nämlich, das Digitalisierung und Nachhaltigkeit ganz selbstverständlich zusammendenkt. Und wer als junger Mensch Interesse daran hat, mit seiner Arbeit in Sachen Nachhaltigkeit einen großen Hebel zu bedienen, der ist in der Bauwirtschaft sowieso richtig aufgehoben.
„Und wer als junger Mensch Interesse daran hat, mit seiner Arbeit in Sachen Nachhaltigkeit einen großen Hebel zu bedienen, der ist in der Bauwirtschaft sowieso richtig aufgehoben.“
Untersuchungen wie die Studie „Umweltfußabdruck von Gebäuden in Deutschland“ vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zeigen, dass die Herstellung, Errichtung, Modernisierung und Nutzung sowie der Betrieb von Wohn- und Nichtwohngebäuden einschließlich vor- und nachgelagerter Prozesse für rund 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich sind. Zwar besitzt der direkte Ausstoß der Bauunternehmen an diesen 40 Prozent nur einen Anteil von 2,6 Prozent, der Rest entfällt auf die Grund- und Baustoffhersteller, die Zulieferer und insbesondere, mit fast 75 Prozent, die Nutzung und den Betrieb der Gebäude. Jedoch stehen die Bauunternehmen in der Verantwortung, als zentrale Akteure der Bauwirtschaft alle anderen Akteure auf den Pfad für mehr Klima- und Umweltschutz mitzunehmen.
Vision 2035: Stark, schnell, klimafreundlich
Was möglich ist, zeigt ein Positionspapier der vom Fraunhofer Institut initiierten Fraunhofer Allianz-Bau. Die Task-Force hat Visionen für die Bauindustrie mit Bick auf das Jahr 2035 entworfen. Nach der Devise des US-Unternehmers John Rohn, nach der man sich nicht auf das Problem fokussieren sollte, sondern auf die Lösung, haben die Expert*innen von der Fraunhofer Allianz-Bau Meilensteine skizziert, die 2035 erreicht sein könnten. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv. Aber: Diese Visionen sind kein reines Wunschdenken, sondern sie formulieren erreichbare Ziele.
Zu diesen Visionen zählt eine Bauwirtschaft, die sich zu einem „Netzwerk der Agilität und Produktivität“ entwickelt hat, wie es im Internet abrufbaren Positionspapier der Task- Force mit dem Titel „Bauen der Zukunft“ heißt: „Dank digitalisierter Prozesse und einer Kultur der Zusammenarbeit ist es gelungen, die stark fragmentierte und kleinteilige Bauwirtschaft zu einem starken und agilen Leistungsnetzwerk umzuformen. Die bewahrte mittelständische Struktur ist nachhaltig gestärkt und hat sich zum internationalen Maßstab in Agilität, Umsetzungsqualität und Innovationsgeschwindigkeit entwickelt. Die Start-Up-Szene wächst und spricht viele engagierte Nachwuchskräfte an.“ Und weiter: „Dank der Digitalisierung konnten viele sonst sehr zeitraubende Genehmigungs- und Zulassungsprozesse automatisiert und deutlich beschleunigt werden.“ Auch eine starke Klimaschutzbilanz ist Teil der Vision 2025: „70 % der CO2-Ausstöße des Referenzjahres 2019 konnten durch die Bauwirtschaft dank der neuartigen modularen und individualisierbaren Sanierungssysteme bereits reduziert werden“, formulieren die Studienautor*innen. Stark, schnell, klimafreundlich – und damit absolut attraktiv für junge Talente. So kann sie sein, die deutsche Bauindustrie im Jahr 2035!
Gebäude im Bann des Klimawandels
Die Bauindustrie steht mit Blick auf die Klimakrise vor gleich zwei Aufgaben. Zum einen muss sie dringend ihren CO2- Fußabdruck verkleinern. Zum anderen muss sie Gebäude planen und bauen, die den jetzt schon erkennbaren Folgen des Wandels standhalten können – und zwar natürlich, ohne zusätzliche Emissionen zu verursachen. Wie das funktionieren kann, zeigt ein Papier mit Handlungsempfehlungen, das Forschende der Uni Stuttgart entwickelt haben. Demnach geht es darum, die Sommerhitze in den Gebäuden zu reduzieren. Faktoren hierfür sind Material und Farbe der Fassade, Ausrichtung und Qualität der Verglasung sowie viel Grün außerhalb des Gebäudes: das kühlt und schenkt im Sommer Schatten. Einen Blick richten die Forschenden auch auf Extremwetterereignisse, die in der Folge des Klimawandels zunehmen können. Um Schäden durch Starkregen oder Hagel zu vermeiden, empfehlen sich an stark beanspruchten Gebäude-Elementen robuste Materialien. Um einer Überflutung vorzubeugen, schlagen die Forschenden vor, urbane Freifläche zu entsiegeln, ober- oder unterirdisch Speicherbecken zu installieren sowie Gebäudeöffnungen in flutgefährdeten Bereichen besonders zu schützen. Die gesamten Handlungsempfehlungen sind im Internet auf der vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen betriebenen Seite zukunftbau.de abrufbar.
Viele Disziplinen – Bauingenieur*innen im Zentrum
Aber natürlich ist das kein Selbstläufer. Die Bauforscher* innen von der Fraunhofer Allianz-Bau stellen den möglichen Ergebnissen einen zentralen Handlungsbedarf in vielen Feldern entgegen. So fordern die Autor*innen des Positionspapiers eine ökologische und strukturelle Transformation, die zu einer Innovationsoffensive führt. Umsetzen könne man diese nur, wenn sich alle Akteure der Bauwirtschaft dem interdisziplinären Ansatz stellen – schon allein, „um der hohen Komplexität Herr zu werden“, wie es im Papier heißt. Sprich: Die Bauindustrie entwickelt sich zu einer Art zentraler Meta-Branche, in der die Talente und Expertisen ganz verschiedener Denkrichtungen zusammenkommen. Wobei die Bauingenieur*innen eine Schlüsselrolle übernehmen: Bei ihnen laufen die Fäden zusammen, sie stellen das Herz des interdisziplinären Netzwerks dar, in dem die technischen Belange der Gewerke genauso einfließen wie Nachhaltigkeitskriterien, digitale Methoden wie BIM, soziale, politische oder ethische Erwartungen sowie das Zusammenspiel des einen Bauvorhabens mit den digitalen Infrastrukturen des systemischen Netzwerks. Man erkennt hier die Vielfalt der Disziplinen: IT und Ethik, Sozialforschung und Politik, Umwelttechnik und Stadtplanung – mit Bauingenieur*innen an zentraler Stelle.
Damit die Bauingenieur*innen diese Arbeit leisten können, muss die Bauindustrie weitere Änderungen anstoßen und verwirklichen. Benötigt werde, so heißt es im weiter in dem Papier, erstens, ein weiterer Schub bei der Digitalisierung – insbesondere, was Themen wie Prozessoptimierung, Transparenz, automatisierte und systemische Vernetzung aller Prozessbeteiligten betrifft. Zweitens sei die Weiterentwicklung von „vorzufertigenden, modularen Bausystemen“ wichtig, um am Bau agiler und flexibler tätig sein zu können – gerade auch mit Blick auf aktuelle Krisensymptome wie Verfügbarkeit und Preise von Roh- und Baustoffen sowie der Verletzlichkeit globaler und regionaler Lieferketten. Drittens fordert die Allianz- Bau eine echte „Materialinnovation“, die verstärkt biobasierte, nachwachsende und recyclingfähige Baustoffe einsetzt – „in Kombination mit neuen Verarbeitungsprozessen und besserer Trennbarkeit“, sodass im Vorfeld des Baus sowie beim Rückbau die Gedanken der Kreislaufwirtschaft eingehalten werden. Um diese großen Aufgaben zu stemmen, braucht das deutsche Bauwesen motivierte, engagierte und fachlich herausragende Talente. Um sie zu gewinnen, muss die Branche nicht nur attraktive Jobs bieten. Sie muss auch die Chance ergreifen, zu zeigen, was in diesem Segment möglich ist. Es geht wortwörtlich darum, die Zukunft zu bauen. Eine Zukunft, die vernetzt und komplex sein wird, nachhaltig und ressourcenschonend, krisenfest und resilient. Eine Zukunft, zu gut, um nicht daran mit anpacken zu wollen.
Buchtipp
Nachhaltige und digitale Baukonzepte
In Anbetracht der Auswirkungen des Klimawandels auf unsere Umwelt müssen bestehende Prozesse in vielen Bereichen unserer Gesellschaft überdacht werden. Damit einhergehend ist es wichtig, innovative und vor allem auch ökologische Konzepte vermehrt in den Fokus zu rücken. Da die Baubranche einen massiven Anteil an den negativen Effekten auf unsere Umwelt hat, liegt es nahe, erfolgsversprechende Ansätze genau in diesem Bereich ausfindig zu machen. Mithilfe digitaler Konzepte sind verschiedene Zusammenhänge so modifizierbar, dass Abläufe nicht nur effektiver, sondern insbesondere auch nachhaltiger werden. So stellt sich im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen infolge des Klimawandels die Frage, welche zusätzlichen Potenziale sich durch innovative Herangehensweisen ergeben. Das vorliegende Sammelwerk präsentiert diesbezüglich aktuelle und zukunftsweisende Konzepte aus verschiedenen Bereichen der Baubranche. Thomas Kölzer (Hrsg.): Nachhaltige und digitale Baukonzepte: Methoden und Wege zu einer ökologisch ausgerichteten Baubranche. Springer Vieweg 2022, 49,99 Euro
Die Faktenlage ist klar: Bis 2045 will Deutschland klimaneutral werden, was für die Bauindustrie eine besondere Herausforderung darstellt: EU-weit ist sie für 36 Prozent der Emissionen von CO₂ sowie für 40 Prozent des Energieverbrauchs verantwortlich. Wie schnell geht es in Sachen Klimaschutz voran? Wie kann das Tempo erhöht werden – und welche Rolle spielen dabei die Bauingenieur*innen? Wir haben Vertreter zweier Generationen zu einer Diskussion zu diesen Themen eingeladen: Dr.-Ing. Lars Meyer, geboren 1973, ist seit 2007 Geschäftsführer des Deutschen Beton- und Bautechnik-Vereins, Sebastian Lederer, Jahrgang 1996, ist Aktivist bei Architects for Future und hier auf Bundesebene im Kernteam Politik. Was beide eint, ist die Gewissheit, dass es die Bauingenieur*innen sind, die den Schlüssel für eine lebenswerte Zukunft in den Händen halten. Die Fragen stellte André Boße
Herr Lederer, Herr Meyer, wie beurteilen Sie aktuell die Dynamik und das Tempo im Bauwesen, mehr für den Klimaschutz zu tun?
Sebastian Lederer (S.L.): Es geht zu langsam voran, zumal die wesentlichen Erkenntnisse bereits seit 1972 vorliegen, als die Wissenschaftler*innen vom Club of Rome erklärten: Wir haben ein Problem, denn die Ressourcen der Erde sind endlich – und damit müssen wir uns auseinandersetzen. 50 Jahre sind seit dieser Analyse vergangen, doch das Problem ist immer noch nicht gelöst. Im Gegenteil, es hat sich dramatisch verschärft. Das liegt auch am zu geringen Tempo des Bauwesens, das sich jetzt dringend erhöhen muss.
Lars Meyer (L.M): Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, Herr Lederer. Es ist zutreffend, dass wir zu langsam sind, obwohl die Erkenntnisse vorliegen. Das Tempo muss drastisch zunehmen, und die Klimakrise ist das Problem unserer Generation. Wobei ich befürchte, dass der Blick auf diese Krise bei den vielen Krisen, denen wir aktuell gegenüberstehen, an Schärfe verlieren könnte. Das darf aber nicht passieren. Hier stehen alle Generationen in der Verantwortung – auch die, die zu lange zu wenig getan haben.
Was muss passieren, damit jetzt schneller gehandelt wird?
L.M.: Es geht zum Beispiel darum, viel offener, ehrlicher und ganzheitlicher über die Kosten von Bauvorhaben zu sprechen. So lange die Anreize, so zu bauen, wie wir es immer getan haben, größer sind, als die Anreize, klimaschonend zu bauen, werden wir das Problem nicht lösen. Bisher wurde akzeptiert, dass das Verbrauchen von Ressourcen, das Freisetzen von CO2 oder das Verschmutzen unseres Planeten monetär nicht abgebildet werden muss. Die Folgen erkennen wir jetzt und sehen – neben humanitären – auch wirtschaftliche Schäden.
S.L.: Wobei die Kosten der Klimakrise ja nur zu einem kleinen Anteil in Europa auftreten, also bei uns als Verursachern, sondern im globalen Süden, bei den Menschen, die nichts dafürkönnen. Auch diese Schuld tragen wir, sie wird jedoch ökonomisch noch weniger abgebildet, weil die Kosten ja nicht bei uns anfallen.
L.M.: Ich bin Vater von zwei Kindern, und wenn ich mir klar mache, was für eine Welt wir der jüngeren Generation auch hierzulande überlassen und wie wir ihnen – im doppelten Wortsinn – ihre Zukunft „verbauen“, dann spüre ich einen Kloß im Hals. Weil ich mich mit verantwortlich dafür fühle, dass zu lange zu wenig passiert ist.
Ganz konkret: Welche Stellschrauben sehen Sie, um die Dynamik des Klimaschutzes in der Bauwirtschaft zu erhöhen?
S.L.: Herr Meyer hat bereits den marktwirtschaftlichen Ansatz anklingen lassen, den ich unterstützen möchte: Lasst uns doch die Kosten, die momentan noch die Gesellschaft trägt, die also externalisiert werden, einpreisen – was bedeutet, dass zum Beispiel die Folgekosten der CO2-Belastung von Baustoffen für Ziegel oder Beton im Preis abgebildet werden. Und lasst uns das auch beim Abbruch von Gebäuden machen. Sprich: Investor*innen haben von Beginn an den Preis für den Rückbau vor Augen – was zur Folge hat, dass sie erkennen, wie viel besser sich ein Baustoff rechnet, der nicht auf der Deponie landet, sondern den man als Sekundärbaustoff wiederverwenden kann.
Folgt man diesem Ansatz, kostet der Baustoff Beton bald wesentlich mehr. Sehen Sie als Geschäftsführer des Betonvereins hier ein Problem, Herr Meyer?
L.M.: Die steigenden Preise, die wir aktuell erleben, ausgelöst insbesondere von der Energiekrise durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sind erst der Anfang. Ein Problem ergibt sich daraus insbesondere dann, wenn man denkt, man könnte so weiterbauen, wie bisher. Das darf aber sowieso keine Option sein, wie wir bereits festgestellt haben.
Sie fragten nach den Stellschrauben, ich denke, es gibt drei, die ich auch von ihrer Dringlichkeit wie folgt priorisieren würde: Erstens müssen wir in kürzester Zeit die CO2-Emissionen im Bauwesen reduzieren, zweitens müssen wir unsere Gebäude und Infrastruktur auf Klimaresilienz trimmen, drittens müssen wir in eine Kreislaufwirtschaft hineinfinden. Die oberste Priorität hat also der Klimaschutz, und hier geht es meiner Auffassung nach darum, dass man für den Verbrauch von Emissionsrechten mehr bezahlen muss, als es heute der Fall ist. Denn noch hat der CO2-Preis keine lenkende Wirkung für das Bauwesen, weil er im Rahmen der Gesamtkosten untergeht.
„Eine Zementherstellung ohne CO₂-Emissionen wird es nicht geben, – aber die Zukunft des Baus muss genau das sein: emissionsfrei.“ Sebastian Lederer
Was ein Problem ist, weil die Branche bis 2045 dekarbonisiert sein soll.
L.M.: Mit Maßnahmen wie Einsparungen oder dem Einsatz von erneuerbaren Energien wird man es beispielsweise in der Zementindustrie in Deutschland schaffen, von etwa 20 Millionen Tonnen auf rund 10 Millionen Tonnen CO2-Äquvalente pro Jahr herunterzukommen, sprich: Die Hälfte bleibt. Und diese zweiten 10 Millionen Tonnen müssen aufgefangen und genutzt oder an geeigneter Stelle dauerhaft und sicher gespeichert werden. Damit das gelingt, benötigen wir eine Carbon Capture Utilisation & Storage-Infrastruktur, kurz CCUS. Diese gibt es heute noch nicht – und erst recht nicht flächendeckend. Wir müssen sie aufbauen, was Kosten verursacht, sodass die Kosten von Beton auf ein Vielfaches steigen. Die Botschaft ist also klar: Beton wird um ein Vielfaches teurer.
Herr Lederer, wäre die Abkehr vom Beton nicht sinnvoller, als den Baustoff für viel Geld auf die Nettonull zu bringen?
S.L.: Eine Zementherstellung ohne CO2-Emissionen wird es nicht geben, – aber die Zukunft des Baus muss genau das sein: emissionsfrei. Die logische Folge daraus ist, dass wir Alternativen zum herkömmlichen Beton finden müssen. Ein erster Schritt ist es, auf ihn in Feldern zu verzichten, in denen wir ihn nicht unbedingt benötigen. Heute nutzen wir Beton inflationär, zum Bespiel beim Bau von Einfamilienhäusern.
Welche alternativen Baustoffe haben Sie im Sinn?
S.L.: Zum Beispiel Lehm, der in großen Mengen vorhanden ist. Und auch das Bauen mit Holz oder anderen nachwachsenden Rohstoffen muss intensiviert werden, sodass wir in Gebäuden sogar CO2 speichern können.
L.M.: Wobei das Holz zwar ein nachwachsender Rohstoff, aber trotzdem knapp ist. Zumal abgeholzte Wälder die Klimakrise noch beschleunigen. Daher muss auch bei alternativen Baustoffen gefragt werden: Welche Konsequenzen hat es, wenn wir mit ihnen bauen? Ich denke, das muss die zentrale Frage für alle Bauvorhaben sein: Jeder Bau ist ein Eingriff in die Umwelt, und wir müssen uns eingehend damit beschäftigen, was für Folgen dieser Eingriff hat und welche Kosten durch ihn entstehen.
„Bauunternehmen sind in der Lage ihre Geschäftsmodelle anzupassen und mit allen Baustoffen zu bauen. Klar ist aber, dass nicht die Bauunternehmen entscheiden, was und womit gebaut wird. Das entscheiden der Bauherr und der Planende.“ Lars Meyer
S.L.: Kurz zum Holz: Viele Wälder werden heute abgeholzt, um an die Kiesvorkommen zu gelangen, die unter dem Waldboden liegen, wobei dieser Kies dann wiederum für die Betonherstellung genutzt wird. Und auch für das ebenfalls notwendige Kalk werden in Indonesien Bäume gefällt. Das finde ich problematisch. Eine Lösung wäre es, Baustoffe zu regionalisieren: Überall dort, wo wir in Deutschland eine gesunde Forstwirtschaft haben, ist es möglich, Holz als einen von mehreren Pfeilern der deutschen Bauwirtschaft zu betrachten.
L.M.: Wir sind als Betonverein sehr daran interessiert, den Beton neu zu denken, ihn zum Beispiel mit anderen Baustoffen zu kombinieren. Da gibt es Potenziale, die wir durch die Forschung und Entwicklung heben wollen. Wobei auch an dieser Stelle klar sein muss, dass durch solche Verbindungen von Baustoffen die Sache komplexer wird – und damit aufwendiger und teurer. Diese Wahrheit muss man immer mitkommunizieren: Verfolgen wir das Ziel, in Deutschland 400.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, um dem Bedarf gerecht zu werden, um Wohnraum bezahlbar zu halten, dann müssen die Baustoffe für diese Gebäude ja irgendwo herkommen. Setzen wir auf Klimaneutralität – und das ist alternativlos –, dann gelingt das nicht mehr zu einem Preis von beispielsweise 2.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Billig und klimaneutral bauen – das funktioniert nicht. Es ist die Aufgabe der Politik, diesen Widerspruch aufzulösen. Bauunternehmen sind in der Lage ihre Geschäftsmodelle anzupassen und mit allen Baustoffen zu bauen. Klar ist aber, dass nicht die Bauunternehmen entscheiden, was und womit gebaut wird. Das entscheiden der Bauherr und der Planende.
Über den Moderator:
Foto: Marcus PietrekAndré Boße ist Journalist, Buch-Autor, Dozent und Kritiker. Seine Interviews, Reportagen und Essays veröffentlicht er u.a. in der Süddeutschen Zeitung, Spiegel, Die Zeit, Musikepxress und GALORE. Er hat ausführlich Persönlichkeiten wie Tom Schilling, Rapper Kontra K., Mai Thi Nguyen-Kim, Beyoncé und Dirk Nowitzki interviewt. Als Dozent für Journalismus ist er überdies an Akademien und Hochschulen tätig. Seit 2009 schreibt er für karriereführer Trendthemen und interviewt Top-Manager*innen. Aktuell gibt er ausnahmsweise auch mal selbst Interviews zu seinem neuen Buch über „Die drei ???“ in der Reclam-Reihe „100 Seiten“. Unterwegs ist er an liebsten in pünktlichen Zügen, auf grünen Hundewiesen und in europäischen Städten, wo er eine perfekt eingestellte Antenne dafür hat, die besten Plattenläden zu finden.
Also ist der Bauherr die zentrale Stelle: Er muss sich für ein klimaneutrales Gebäude entscheiden.
L.M: Genau. Wobei ihm die Politik die Anreize dafür geben muss. Zum Beispiel, indem sie ihn verpflichtet, nicht nur auf die tatsächlichen Baukosten zu schauen, sondern auch die Folgekosten für das Klima und die Umwelt zu berücksichtigen.
Aber noch ist das Mindset der Bauherren preisgetrieben.
L.M.: Umso wichtiger ist es, dass die sicherlich unbequeme Wahrheit der Gesamt- und Folgekosten benannt wird.
S.L: Einige Landesregierungen haben diesen Schritt gemacht, indem sie CO2-Schattenpreise errechnen, mit denen man die Folgen für das Klima transparent macht.
L.M.: Das ist ein erster guter Schritt, wobei diese Landesregierungen bisher am Ende doch zumeist herkömmlich bauen, weil für die klimaschonende Alternative die Haushaltsmittel nicht ausreichen.
S.L.: Umso wichtiger ist es, dass wir eine ordnungsrechtlichemarktwirtschaftliche systemische Lösung entwickeln, die klare Vorgaben macht. Es reicht nicht mehr aus, an den Einzelnen zu appellieren. Es müssen entweder die Bauweisen, die besonders zukunftsfähig sind, gefördert werden. Oder diejenigen, die besonders schädlich sind, verteuert werden.
Bauingenieur*innen brauchen also den systemischen Blick. Wird der an den Hochschulen genügend gelehrt?
S.L.: Noch nicht, wie ich glaube. Hier stehen die Hochschulen in der Verantwortung, das Thema möglichst ab jetzt ganzheitlich zu vermitteln, damit die Bauingenieur*innen und Bauschaffenden die Komplexität verstehen – und damit wissen, was die Konsequenzen und Folgekosten sind, wenn sie diese oder jene Bauweise empfehlen. Genauso müssen Themen wie Bauen im Bestand und die statische Betrachtung von Umbauten stärker in den Fokus der Hochschulen rücken. Denn wenn ich den Bauherren die Verantwortung für ihr Tun geben will, dann muss es Bauingenieur*innen geben, die in der Lage sind, hier Unterstützung zu leisten.
L.M: In meiner akademischen Ausbildung zum Bauingenieur habe ich dieses Denken nicht gelernt, wobei ich das meiner Hochschule nicht ankreiden will, weil diese Werkzeuge erst in den vergangenen 20 Jahren entstanden sind – sodass ich mir dieses Wissen selbst erarbeitet habe. Nun gibt es die Methoden jedoch, weshalb ich mich Ihrem Appell, Herr Lederer, anschließen möchte: Wir müssen für jedes Bauwerk, das wir errichten, eine Lebenszyklusanalyse erstellen. Die Digitalisierung schenkt uns die Möglichkeit, in allen Lebenszyklusphasen Daten zu erhalten und mit ihnen zu arbeiten. Das müssen wir nutzen, um Emissionen zu bestimmen, Alternativen zu erarbeiten, das Bauprojekt in Richtung Klimaneutralität zu steuern. Es darf in Zukunft nicht mehr passieren, dass Bauherren ohne solche Lebenszyklusanalysen und die Sichtung von alternativen Modellen mit ihren Vorhaben beginnen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Bauingenieurinnen und Bauingenieure den Schlüssel für das weitere Wohlergehen unseres Planeten in der Hand haben – weil sie es sind, die mit ihrem Wissen das Bauen in eine neue, klimafreundliche Richtung bringen.
Das sagt die BAUINDUSTRIE zum Thema erforderliche Kompetenzen für Bauingenieur* innen auf die Frage „Wächst das erforderliche Kompetenz-Set für Bauingenieurinnen und Bauingenieure bei all den Herausforderungen an?“: „Es geht nicht darum, ob das notwendige Kompetenz-Set anwächst. Es geht vielmehr darum, ob die Möglichkeit der Kompetenzentwicklung sich erweitert, um neue gesellschaftlich relevante Aspekte mit dem Bauingenieurwesen zu verknüpfen. Und diese Frage ist eindeutig mit „Ja“ zu beantworten. Neue Aufgabenfelder machen den Beruf nicht schwieriger, den Weg durchs Studium nicht steiniger, sondern erfordern oft nur eine stärkere Spezialisierung im Studium oder im späteren Beruf, ohne dabei die nötigen Kernkompetenzen eines qualitativ hochwertigen Bauingenieur-Studiums zu vernachlässigen.“
Jana Nowak ist Tragwerksplanerin und Head of Sustainable Structures beim Ingenieurbüro knippershelbig. Im Interview erklärt sie, welchen Beitrag Bauingenieur*innen auf dem Weg zu klimaneutralem Bauen leisten können. Die Fragen stellte Christoph Berger
Wie schätzen Sie die Anstrengungen der Baubranche derzeit in Bezug auf Klimaschutz und klimaneutrales Bauen ein?
In den letzten zwei Jahren ist das Bewusstsein stark angestiegen, dass die Branche für einen Großteil der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist und wir deshalb auch einen großen Hebelarm im Kampf gegen den Klimawandel haben. Doch leider sind die tatsächlichen Veränderungen noch viel zu gering. Emissionen werden oft nur dort eingespart, wo durch eine gute Ökobilanz eine bestimmte Zertifizierung wie DGNB oder LEED erreicht werden kann oder die ESG-Kriterien eingehalten werden. Leider geht es dabei oft um Greenwashing, um ein Projekt damit zu bewerben oder in einen nachhaltigen Immobilienfonds zu packen.
Welchen Beitrag können Bauingenieure*innen leisten, um hier eine Absenkung, vor allem im Bereich der grauen Energie, zu erzielen?
Als Tragwerksplanerin bin ich für die Planung der tragenden Struktur verantwortlich – und die macht bei Gebäuden etwa die Hälfte der grauen Emissionen aus. In erster Linie kann das Senken der grauen Emissionen durch eine Reduzierung des Baumaterials erreicht werden. Dafür muss hinsichtlich des Ausnutzungsgrads von Bauteilen effizient geplant werden. Zudem geht es um die Nutzung emissionsarmer Materialien, also um Baustoffe, die regional verfügbar sind und damit kurze Transportwege haben, es geht um organische nachwachsende Materialien und Re-Use-Materialien. Außerdem müssen wir Bauingenieur*innen uns mit den anderen Planungsbeteiligten, mit Architekt*innen oder Bauherr*innen, abstimmen. Das erfordert Kompromissbereitschaft. Doch das Ziel ist nicht nur, graue Emissionen zu reduzieren. Als Bauingenieur*in hat man zusätzlich großen Einfluss auf die Kreislauffähigkeit der gebauten Welt.
„Wir machen uns Gedanken darüber, welche Auswirkungen unsere Bauwerke auf die Gesellschaft und das Klima haben. Daher haben wir ein Interesse daran, ganzheitlich nachhaltig zu bauen.“
Gibt es alternative Baustoffe, die nach dem Stand der Technik emissionsfreies Bauen möglich machen?
Ganz emissionsfrei geht es Stand heute leider noch nicht. Solange der Strommix nicht vollständig dekarbonisiert ist, werden Herstellungsprozesse immer zu Emissionen führen. Und auch der Transport der Baumaterialien wird noch lange nicht emissionsfrei passieren. Aber Baumaterialien wie Holz oder Lehm haben im Vergleich zu Beton, Stahl und Kalksandstein keine prozessbedingten Emissionen, also Emissionen, die aus chemischen Reaktionen in der Herstellung entstehen. Bis weitere alternative Baustoffe entwickelt und genormt einsetzbar sind, ist der nachhaltigste Weg häufig eine Hybridlösung: Der Einsatz emissionsarmer Materialien wo möglich in Kombination mit emissionsintensiveren Materialien nur dort, wo nötig. Und dies alles am besten demontierbar.
Sehen Sie einen Unterschied in der Einstellung von jungen Bauingenieur*innen zum Thema gegenüber den „Etablierten“?
Ja. Das Klimabewusstsein der Generation, die jetzt ins Berufsleben startet, ist enorm groß. Gleichzeitig gibt es den Wunsch, Selbstwirksamkeit im Job zu erfahren und etwas Sinnvolles mit der täglichen Arbeit zu leisten. Das macht den Unterschied, denn daraus entwickeln wir eine Haltung zu dem, was wir planen und bauen. Wir machen uns Gedanken darüber, welche Auswirkungen unsere Bauwerke auf die Gesellschaft und das Klima haben. Daher haben wir ein Interesse daran, ganzheitlich nachhaltig zu bauen. Diese Haltung erkenne ich bei den Bauingenieur*innen meiner Generation. Und da bin ich sehr froh darüber, denn das Erreichen von Klimaneutralität für die gesamte Gesellschaft hängt wesentlich davon ab, wie wir Bauingenieur*innen unseren Job machen!
Aufbruch ins Abenteuer der Lieferketten: In Köln, kann sich das deutsche Bauwesen – wie in vielen andere Städten und Regionen auch – über mangelnde Aufträge nicht beschweren. Neue Rheinbrücken und Quartiere für Büro- und Wohngebäude, dazu Sanierungen und Erschließung neuer Baugrundstücke, im Tiefbau Straßen- und Kanalsanierungen. Alle diese Maßnahmen funktionieren nicht ohne Bauingenieur*innen, die sie planen und managen. Was aber auch benötigt wird, sind die passenden Materialien zur richtigen Zeit am korrekten Ort. Manche von ihnen, und seien sie noch so klein, haben einen weiten Weg hinter sich gebracht. Zum Beispiel eine Bauschraube. Wir zeichnen den Weg um die Welt nach – und zeigen, welche Herausforderungen und Chancen sich auf dem langen Weg von West-Australien bis nach Köln ergeben. Von André Boße
1. Western Australia
Foto: AdobeStock/Rafael-Ben-Ari
Australien zählt neben China zu den größten Produzenten von Eisenerz weltweit, das Rohmaterial für die Schraube wird in Minen gefördert, die meisten von ihnen befinden sich im Westen des fünften Kontinents.
Problem: Der Abbau von Eisenerz schadet der Umwelt: Wälder verschwinden, Transportwege werden gebaut, Wasser und Luft werden verschmutzt.
2. Port Herdland australische Küste
Mit der Bahn wird das Eisenerz vom Landesinneren an die Küste transportiert. Manche Züge haben eine Länge von mehr als sieben Kilometern.
3. Kaohsiung, taiwanische Küste
Foto: AdobeStock /kamontad123
Neben China, dem weltgrößten Stahlproduzenten, oder Südkorea nimmt Taiwan bei der Verarbeitung des Rohstoffes Eisenerz eine zentrale Rolle ein. Vom Hafen von Kaohsiung wird das Eisenerz in ein Stahlwerk transportiert, wo es im Hochofen zunächst in Roheisen und schließlich in verformbaren Stahl umgewandelt wird.
Problem: Globale Lieferketten stehen unter politischem Druck. Zölle werden zum Instrument, Taiwan könnte zum Brennpunkt eines kriegerischen Konfliktes mit China werden.
4. Tainan City
In der Metropolregion um den Hafen von Kaohsiung befinden sich eine Reihe von Schraubenherstellern, viele davon in der Millionenstadt Tainan. Hier werden die Bauschrauben nach den Vorgaben der Kunden geformt.
5. Hamburg, Hafen
Foto: AdobeStock/Marco2811
Mit einem Containerschiff gelangt die Bauschraube in den Hamburger Hafen.
Problem: Die Folgen der Pandemie haben weiterhin Auswirkungen auf die Hafen- und Container-Logistik, eine erneute Verschärfung oder gar ein neues Virus kann niemand ausschließen.
6. Ruhrgebiet
Foto: AdobeStock/Marina-Ignatova
Zumeist im gleichen Container geht die Reise mit dem Güterzug oder einem Lkw weiter zu einem der Großhändler für Schrauben in Deutschland, von wo aus sie direkt zum Kunden oder in den Baustoffhandel gehen – in unserem Beispiel: ins Ruhrgebiet.
Chance: Nichts ist schlimmer, als wenn’s am Bau nicht voran geht, weil ein einfaches Teil fehlt. Zum Beispiel eine bestimmte Bauschraube. Ein digitales Beschaffungsmanagement – in Verbund mit einfachen KI-Systemen – sorgt dafür, dass das nicht passiert.
7. Köln
Das verantwortliche Bauunternehmen bestellt die für die Errichtung des Bauvorhabens notwendigen Teile und verschraubt diese. Das fertige Gebäude fungiert nun auch als eine Art Rohstofflager.
Chance: Digitale Baupläne und Tracking- Systeme sorgen dafür, dass jedes wiederverwertbare Teil in einem Gebäude erfasst werden kann.
8. Köln
Foto: AdobeStock/Franz
Steht der Rückbau an, ist die Bauschraube Teil der Ansammlung von Altmetall. Damit ist sie kein Müll, sondern ein wertvoller Rohstoff: Jedes Kilo Altmetall, das durch Urban Mining Teil eines Verwertungskreislaufes ist, muss nicht von Australien aus den langen Weg nach Deutschland starten.
Chance: Urban Mining schützt die Umwelt, spart Wasser, verringert den CO2-Fußabdruck von Bauprojekten.
Christian H. D. Haak ist ein gefragter Redner, wenn es um die Transformation des Bauwesens geht. Zudem ist er Mitherausgeber des führenden Branchenpodcastst #Zukunft. Bauen. In seinem Gastbeitrag erklärt er, vor welchen gewaltigen Herausforderungen die Bauindustrie steht: Ihr muss eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit und Digitalisierung gelingen – und das im Bann von Krisen und eines Mangels an Fachkräften. Wie das gelingen kann? Zum Beispiel damit, das eigene Tun besser zu verkaufen. Von Christian Haak, Experte für die Entwicklung und Umsetzung von Zukunftsstrategien für Unternehmen aus der Bauindustrie.
Zur Person
Christian Haak, Foto: Haak
Christian H. D. Haak, studierte in Hamburg BWL mit den Schwerpunkten Personalwirtschaftslehre, Organisation und Wirtschaftspsychologie. 1991 gründete er seine eigene Unternehmensberatung, hier berät er mit dem Schwerpunkt Strategie und Strategische Transformation Großund mittelständische Unternehmen, viele davon aus dem Segment der Bauindustrie. Er ist ebenso als Keynote-Speaker präsent und Mitherausgeber des führenden Branchenpodcastst #Zukunft.Bauen. An diversen Hochschulen (u.a. an der HAW Hamburg) ist er als Dozent zu Themen wie Personalführung oder Projektmanagement tätig.
www.christianhaak.de
Wenn über die größten Herausforderungen der Baubranche gesprochen wird, fallen schnell zwei Begriffe: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Beide sind zentral, keine Frage. Doch möchte ich eine dritte Herausforderung ins Spiel bringen, die mindestens genauso essenziell ist: der Fachkräftemangel. Es muss dringend gelingen, die Branche für potenzielle Mitarbeiter*innen sichtbarer zu machen. Mit allen ihren spannenden Facetten, die sie zu bieten hat. Denn benötigt werden nicht nur die Menschen, die sowieso schon in der Bauindustrie tätig sind. Attraktiv sein müssen die Unternehmen auch für Talente, die noch gar nicht wissen, welche interessanten Job-Profile die Branche zu bieten hat.
Wie das gelingen kann? Zum Beispiel, indem man endlich über das Thema „Sinn“ spricht. Was philosophisch klingt, hat einen ökonomischen Hintergrund: Unternehmen, die in 10 bis 15 Jahren nicht nachhaltig wirtschaften, werden vom Markt verschwinden. Dieser Druck ist Motor für Veränderungen: Sobald Unternehmen die wirtschaftlichen Vorteile nachhaltiger Geschäftsmodelle erkennen, ergibt es für sie überhaupt keinen Sinn mehr, das Thema nur halbherzig anzugehen.
„Sinn“ hat aber noch eine zweite Bedeutung, und hier kommen wir wieder auf die Menschen zu sprechen: Alle Unternehmen stehen heute vor der Aufgabe, ihren Mitarbeiter*innen den Sinn ihres Tuns zu verdeutlichen. Und hier hat der Bau gegenüber anderen Branchen einen großen Vorteil. Schließlich geht es darum, die Lebenswelten der Zukunft positiv mitzugestalten. Ganz konkret, mit Häusern und Straßen, Brücken und Parks, Plätzen und Trassen. Es gibt Branchen, die sehr gut darin sind, ihre Wirksamkeit zu verkaufen. Die Bauindustrie hat hier noch Nachholbedarf. Mein Eindruck ist, dass sich die Branche bis vor wenigen Jahren nie gefragt hat, warum es wichtig sein sollte, zu vermitteln, wie faszinierend und wichtig die eigene Arbeit ist.
Woran’s liegt? Auf dem Bau herrscht häufig eine besondere Kultur. Man ist eher bescheiden, arbeitet sachbezogen an technischen Lösungen. Doch das reicht heute nicht mehr aus. Es ist notwendig, den Sinn, den man als Bauingenieur*in mit der Arbeit erfüllt, wahrnehmbarer zu machen. Wer Gutes tut, sollte das auch nach außen verkaufen! Der Fachkräftemangel führt uns vor Augen, wie wichtig das ist. Nach und nach beginnen die Unternehmen, die guten Dinge, die sie früher ganz selbstverständlich getan haben, selbstbewusst ins Schaufenster zu stellen. Nicht übertrieben. Aber schon so, dass man sie sieht.
„Es muss dringend gelingen, die Branche für potenzielle Mitarbeiter*innen sichtbarer zu machen. Mit allen ihren spannenden Facetten, die sie zu bieten hat.“
Der Vorteil der Baubranche: Sie muss dabei keine Schaumschlägerei betreiben. Sie muss eigentlich nur zeigen, was sie tut, was sie kann. Das beginnt in meinen Augen schon bei der Sprache. Schon heute nutzt das Bauwesen Zukunftstechniken wie Automatisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik. Bau – das ist digitales Hi-Tech. Es gibt auf Baustellen mit Tablets gesteuerte Baumaschinen, die mit smarter Sensorik ausgerüstet sind und von Satellitentechnik gestützt werden. Und wie nennt man diese Maschinen vor Ort? Weiterhin Bagger oder Raupe. Noch ein Beispiel: In der Baubranche wird die in den Baustoffen eines Gebäudes gebundene Energie weiterhin als „graue Energie“ bezeichnet. Klar, das ist der korrekte Fachbegriff aus dem Studium, aber er klingt nicht besonders werthaltig.
In der Abfallwirtschaft ist man bereits weiter, da spricht man nicht mehr über Müll, sondern von Wertstoffen. Also: Weg von der „grauen Energie“, hin zu einem Begriff, der diese Energie aufwertet. Sprache ist keine Nebensächlichkeit. Sie prägt die Attraktivität der Branche. Gefragt sind hier auch die Hochschulen. Sie müssen dem Nachwuchs vermitteln, dass es dazugehört, den eigenen Marktwert sichtbar zu machen. Das ist auch wichtig für die eigene Karriere, denn wenn ich das nicht für mich selbst kann, dann kann ich es auch nicht für meine Produkte oder meinen Arbeitgeber. Jeder ist ein Unternehmer seiner eigenen Talente! Ich habe als junger Bauingenieur schon selbst die Aufgabe, sichtbar zu machen, warum es sich lohnt, mich einzustellen, mir ein Projekt anzuvertrauen oder mich zu beauftragen. Jedoch gibt es in den Studiengängen häufig überhaupt kein Bewusstsein für diese Kompetenz. Das muss sich ändern. Denn der Skill, anderen zu zeigen, was man kann, lässt sich nicht über Nacht einfach abrufen – den muss man trainieren.