Herausforderung: Komplexität. Lösung: Innovative Querdenker. Wenn Andersmacher in der Welt der Kleinantriebe unterwegs sind, ermöglichen ihre unkonventionellen Ideen auf Formgedächtnislegierungen neuartige Antriebe. Von Dr.-Ing. Alexander Czechowicz, Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF), Forschungsgemeinschaft Werkzeuge und Werkstoffe e.V. (FGW), Remscheid
Mechatronische Systeme, ganz egal ob in Fahrzeugen, Flugsystemen oder im Maschinen- und Anlagenbau, werden kontinuierlich miniaturisiert, um den Anforderungen kleiner, leistungsstarker und leiser Antriebssysteme gerecht zu werden. Der Ingenieur von heute muss sich darauf einstellen, dass die Anforderungen hinsichtlich Bauraum und Gewicht, besonders in der Automobilindustrie, ständig ausgereizt werden. Daher werden Systeme immer weiter simplifiziert. Es heißt ja nicht umsonst schon beim Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.“ Nur ist es meist so, dass die unverzichtbaren Komponenten nicht mehr kleiner werden können. Denn jeglicher Drang nach Miniaturisierung muss sich oft den physikalischen Gesetzen beugen. Ein Elektromagnet mit bestimmter Leistung kann trotz des Einsatzes hochwertiger Materialien bei gegebener Last bis zu einem gewissen Grad verkleinert werden. Hier kommen aber durch den Einsatz von multifunktionalen Materialien, sogenannten Formgedächtnislegierungen (FGL), alternative Ansätze ins Spiel.
Doch was sind überhaupt Formgedächtnislegierungen? Wenn ein zunächst unscheinbarer Draht von zwei Millimeter Durchmesser (Eigengewicht 25 Gramm) eine Last von 140 Kilogramm hebt, steckt da nicht unbedingt ein Magier dahinter, sondern der Hightech-Funktionswerkstoff Nickel- Titan. Durch die Änderung der Drahttemperatur über Wärme oder elektrischen Strom ändert sich der Gefügezustand dieser FGL. Als Folge verkürzt sich das Material deutlich. Mehr noch: Während dieser Umwandlung ändert sich auch der elektrische Widerstand so stark, dass man diesen Effekt als Sensorgröße für geregelte Systeme verwenden kann. Diese heutzutage bereits in Großserie eingesetzte Technologie weist erhebliche Vorteile gegenüber Elektromagneten und Elektromotoren in feinmechanischen Anwendungen auf. So sind die FGL-Systeme um bis zu 90 Prozent leichter, deutlich kompakter, erzeugen weder Geräusche noch elektromagnetische Felder während der Betätigung, arbeiten mit geringen elektrischen Betriebsspannungen, können in explosionsgefährdeten Bereichen eingesetzt werden und bieten heutzutage oft Kostenvorteile gegenüber den konventionellen Lösungen.
Ein weiterer besonderer Vorteil ist die schnelle Auslösegeschwindigkeit dieser Elemente. Ein Formgedächtnisdraht kann eine Last von drei Kilogramm auf 15 Millimeter innerhalb von 15 Millisekunden bewegen. Messergebnisse bis hin zu einer Geschwindigkeit von 0,5 Millisekunden liegen ebenfalls vor. Über den elektrischen Strompegel können die Auslösedynamiken eingestellt werden. Werden gleichmäßig stellende Linearantriebe benötigt, so kann ein Formgedächtnisaktor über die Regelung der Stromzufuhr in seiner Auslösegeschwindigkeit variiert werden. Auch die Entriegelung eines einfachen Systems kann mit Formgedächtnisaktoren erleichtert werden: Etwas Kunststoff, ein Formgedächtnisdraht und eine Entriegelungsanwendung, und schon kann ein schwerer Elektromagnet ersetzt werden. So können beispielsweise Sauerstoffmaskenklappen im Flugzeug einfach durch einen Antrieb, der einem Schwan ähnelt, entriegelt werden.
Trotz eindeutiger technologischer Vorteile und erster Pionierprodukte in Serien in der Automobil- und Gebäudetechnik werden nur langsam neue FGLAnwendungen entwickelt. Das liegt am komplexen und oftmals unterschätzten Entwicklungsaufwand dieser Aktoren. Was wie ein kleiner unscheinbarer Draht aussieht, ist eben ein komplexes mechatronisches System mit thermischen, mechanischen und elektrischen Randbedingungen, die sich während der Aktivierung stark ändern können. Daher setzt das Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik an der Forschungsgemeinschaft Werkzeuge und Werkstoffe auf innovative Querdenker im gesamten Altersspektrum. Die Philosophie hierzu ist ganz einfach: Oft haben erfahrene Mitarbeiter sich über mehr als 20 Berufsjahre an bestimmte Standards gewöhnt, besitzen jedoch viel Expertise und Erfahrung. Die jüngeren Ingenieure bringen oft den Blickwinkel aus einer anderen Perspektive mit. So kann eine generationenübergreifende Forschungseinheit das Gute aus zweierlei Welten vereinen: die historisch erarbeitete und qualitativ hochwertige deutsche Entwicklungsarbeit mit unkonventionellen Ideen und Produktvorstellungen der Zukunft. Soll es vielleicht ein innovativer Plagiatschutz mit FGL sein? Oder vielleicht ein sich elektrisch bewegendes Zierinsekt einer Damenhandtasche? Vielleicht ist es nächste Woche der Leichtbauservomotor auf FGL-Basis für den Flugmodellbau, der weniger als ein Gramm wiegt?
Laut Nachrichten des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) vom Mai 2015 werden zum Ende der 2020er-Jahre 390.000 Ingenieure in Deutschland fehlen. Darum ist die Nähe zum wissenschaftlich- technischen Nachwuchs nicht nur für deutsche Unternehmer wichtig, sondern auch für Hochschulen und Forschungsinstitute. Mit regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen werden Studenten und technische Lehrlinge für die Formgedächtnistechnik geradezu begeistert. Der Drang, unkonventionelle Ideen auszuprobieren, ist sicherlich in der gesamten Forschungswelt eine stetige Motivation, jedoch schlägt jedem Nachwuchswissenschaftler, der zu Hause auch den Modellbau oder technische Spielereien schätzt, das Herz höher, wenn er an das technische Potenzial der Formgedächtnistechnik denkt.
Seminartipps
Konstruktionspraxis der Formgedächtnistechnik (Kompaktseminar)
am 12.11.2015 in RemscheidExperimentalworkshop Sensorik und Regelung
am 13.11.2015 in RemscheidInfos
Buchtipp
Sven Langbein und Alexander Czechowicz:
Konstruktionspraxis Formgedächtnistechnik.
Potentiale – Auslegung – Beispiele.
Springer Vieweg Verlag 2013.
ISBN 978-3834819574.
34,99 Euro