Grundlage für die großen Pioniertaten sind in der Regel echte Probleme, für die es Ideen braucht. Bekommen Querdenker genug Zeit und Freiraum, entstehen Lösungen mit enormem Innovationspotenzial. Unsere Beispiele zeigen: Es muss keine Millionen kosten, den Pioniergeist zu wecken. Häufig reichen kluge Konzepte, Neugier und Abenteuersinn – und mutige Ingenieure. Von André Boße
Zusammen mit drei Kollegen war Manfred Przybilla einige Jahre lang für einen großen deutschen Projektentwickler für Wind- und Solarparks tätig. 2011 erhielt das kleine Team einen Auftrag vom Arbeitgeber: Gesucht wurden neue Batteriespeicher für erneuerbare Energiesysteme. Gut zwei Jahre lang untersuchte Przybilla den Markt. Er sprach mit Chefs, Managern und Entwicklern der Top-Unternehmen aus der Batterie-Industrie. Eine Lösung fand er nicht: „Wir haben nichts Passendes gefunden, sind komplett am Markt verzweifelt“, erzählt der Ingenieur. Aus Verzweiflung kann sich lähmende Niedergeschlagenheit ergeben. Aber eben auch Pioniergeist.
„Wir saßen zu dritt zusammen und fingen zunächst einmal bei ganz banalen und grundlegenden Aspekten an“, erinnert sich Przybilla. Frage eins: Gehört den erneuerbaren Energien überhaupt die Zukunft, oder werden in ein paar Jahren doch wieder Kernkraftwerke gebaut? Das Team war sich sicher, dass den Erneuerbaren die Zukunft gehört. Auch auf die zweite Frage „Werden dafür neue Batteriesysteme gebraucht?“ fiel die Antwort leicht: „Ja, denn nur dann können sie überhaupt sinnvoll genutzt werden.“ Nach der Klärung der Grundfragen entstand der Pioniergeist: „Was müssten Batterien für erneuerbare Energiesysteme leisten, um nicht wie ein Formel-Eins-Auto aus den 90er-Jahren dahinzuruckeln, sondern den Anforderungen des Marktes und der Technik zu entsprechen?“
Pioniergeist kritisch hinterfragen
Die Idee der „AmbiBox“ war geboren. Przybillas Unternehmen entwickelte ein Gerät, das es ermöglicht, diverse Gleichstromgeräte miteinander zu verbinden – ohne Umweg über das Wechselstromnetz. „Als wir diesen technischen Geistesblitz hatten, waren wir selbst erstaunt, wie groß die Idee ist. Danach begann die Phase, in der wir versucht haben, die Sache kleinzureden“, sagt er. Dieses Vorgehen sei typisch für deutsche Ingenieure: „Man möchte halt auf gar keinen Fall auf die Nase fallen, daher sucht man intensiv nach etwas, das der Idee auf dem Weg zur Innovation im Weg stehen könnte.“ Nach intensivem Nachrechnen, Gesprächen mit Lieferanten und einer Patentrecherche war klar, dass diese Pionierleistung funktionieren kann.
Der Neugier-Index
Was kann Neugier bewirken? Wie wird aus Neugier Innovation? Wie trägt Neugier zur Lösung von Zukunftsfragen bei? Diesen Fragen will das Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck auf die Spur gehen. Der Konzern hat dazu einen Kreis aus Experten zusammengestellt, die sich eingehend mit dem Thema beschäftigen. Herausgekommen ist unter anderem eine Neugier-Studie, die zeigt, wie neugierig die Mitarbeiter von Merck auf der ganzen Welt sind und in welchem Maße Neugier von ihrem Arbeitgeber unterstützt wird. Vier Dimensionen wurden dabei gemessen: Wissbegierde, Kreativität, Offenheit und Stresstoleranz. Wer ebenfalls herausfinden will, wie neugierig er ist, kann einen Online-Test dazu machen:
https://curiosity.merck.de/interactive
Ende 2016 gewann das Unternehmen den Gründerpreis „Pioniergeist 2016“, jetzt steigt es in die Produktion ein. Neben der Idee ist das Erfolgsrezept aus Przybillas Sicht, dass das Dreierteam ideal aufgestellt ist: „Wir ergänzen uns perfekt, weil wir für alle nötigen Bereiche eines Unternehmens die richtigen Leute haben: einen Elektronikentwickler, jeweils jemanden für die Software, für das Patentwesen und für die kaufmännische Firmenführung.“
Diese Geschichte zeigt: Der Pioniergeist ist keine mysteriöse Erscheinung, kein Geist aus der Flasche. Man kann ihn fördern, indem ein Unternehmen bestimmte Faktoren gewährleistet. Allen voran ein echtes Problem, für das der Markt noch keine Lösung kennt. Auch wichtig ist ein unter den Gesichtspunkten der Diversity zusammengesetztes Team sowie genügend Zeit und Raum, damit diese Menschen mit ihrer Expertise und mit Blick auf das Problem die richtigen Fragen stellen können. „Auf diese Art wird der Pioniergeist zum Erfolgsrezept der Zukunft“ , sagt Franz Kühmayer, Trendforscher beim Zukunftsinstitut und Experte für die Zukunft der Arbeit.
Was beim AmbiBox-Team funktionierte, ist jedoch nicht die Regel. Pioniergeist ist wichtiger denn je, doch der Praxis-Check zeige, dass er es in vielen technischen Unternehmen weiterhin schwer hat. Kühmayer: „Führungskräfte sind in den vergangenen Jahren ständig mit Hiobsbotschaften konfrontiert: Euro-Krise, politische Unsicherheiten, digitale Disruption – irgendwo lauert immer das Unheil.“ Und in solchen unsicheren Zeiten schlage dann eher die Stunde der Bremser und Reformverweigerer. „Man geht lieber auf Nummer Sicher. Dabei scheitern viele Unternehmen gerade deswegen, weil sie nicht den Mut haben, etwas zu riskieren.“ Bequeme Stabilität könne jedoch zu einer fatalen Starre führen. Kühmayer: „Ich bin daher davon überzeugt: Wir leben in einer geradezu prototypischen Aufbruchzeit, die einen fruchtbaren Boden für frische Ideen liefert. Auch wenn es paradox klingt: Es ist grundvernünftig, gerade jetzt mutig zu denken und zu handeln.“
In der Krise wohlfühlen
Woher den Mut nehmen, wenn die Stimmung in den Unternehmen eher ängstlich ist? Kühmayer rät jungen Ingenieuren, sich nicht von der negativen Stimmung anstecken zu lassen. „Wir sind gut beraten, dem Wort Krise seinen Schrecken zu nehmen“, sagt der Trendforscher. „Krisen sind reinigende Katalysatoren für künftige Entwicklungen – und daher also produktive Zustände. Allerdings nur dann, wenn man bereit ist, seine Komfortzone zu verlassen und sich der Unbequemlichkeit des Neuen, Unbekannten und Irritierenden zu stellen.“ Das funktioniere nicht nur in jungen Unternehmen der Start-up-Szene. „Auch in den meisten Dinosaurier-Unternehmen gibt es sehr bewegliche, leichtfüßige Einheiten.“
Generation Global
Nach der Generation Y und der Generation Z haben Trendforscher des Zukunftsinstituts die nächste Gruppe junger Menschen ausgemacht: die Generation Global. Ihr sind Statussymbole wie teure Autos nicht mehr wichtig – viele von ihnen machen nicht mal mehr ihren Führerschein. Reisen, Umweltbewusstsein und Fair Trade sind die Themen, mit denen sich die Generation Globalbeschäftigt. Globale Probleme beschäftigen die jungen Leute heute mehr als persönliche Sorgen. Sie teilen, statt neu zu kaufen, und suchen sich Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen: Menschen, die die gleichen Werte und Interessen haben wie sie – auch über Landesgrenzen hinweg. Mehr über die Generation Global im Zukunftsreport 2017 des Zukunftsinstituts: www.zukunftsinstitut.de/artikel/zukunftsreport/die-generation-global
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/lebensstile/generation-global-die-neuen-kosmopoliten/
Der Schlüssel dafür, deren Potenzial freizusetzen, sei mehr Mut zur Partizipation: Gerade innovationsbereite Ingenieure müssten einen Drang entwickeln, sich an der Lösung von Problemen zu beteiligen. „Ob das klappt, ist nicht nur eine Frage der Strukturen, sondern auch der Unternehmenskultur. Es ist eine Frage des Menschenbildes, das sich Führungskräfte zurechtgelegt haben: nämlich ob man daran glaubt, dass die Menschen in der Organisation bereit und willens sind, sich einzubringen.“ Interessant ist, dass Kühmayer den Begriff Führung anders definiert: Führung sei heute nicht mehr eine „richtungsweisende Aufgabe“, sondern eine „dienende“. „Leadership wird zum Dienst am Mitarbeiter, um ihn in die Lage zu versetzen, nicht nur Klarheit zu seiner eigentlichen Aufgabe und persönlichen Entwicklung zu haben, sondern um ihn darüber hinaus in die Lage zu versetzen, Einfluss zu nehmen.“
Eine Währung, die dabei besonders wichtig ist, ist das Vertrauen. Gerade junge Ingenieure, die sich an der Uni im Idealfall mit Pioniergeist ausgerüstet haben, profitieren in den ersten Jahren enorm vom Geschenk des Vertrauens, wenn es ihnen von Führungskräften entgegengebracht wird. „Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich der überwiegende Teil der Führungskräfte nach wie vor auf Führungsprinzipien verlässt, die auf Verhaltenskontrolle beruhen“, sagt der Arbeitsexperte vom Zukunftsinstitut. Das heißt, es wird vor allem beobachtet, wie sich Mitarbeiter am Arbeitsplatz verhalten, welche Arbeitsweisen sie an den Tag legen oder wann sie wie viel arbeiten. „Die auf Pioniergeist ausgerichtete Führungskraft wird sich stattdessen an den Ergebnissen des Ingenieurs orientieren und ihm dabei weitreichende Freiheiten einräumen.“ Dazu gehörten wertschätzendes und offenes Feedback sowie gemeinsames Lernen aus Fehlern. „Gerade hochqualifizierte Wissensarbeit lebt von intensiven Rückkopplungen und braucht den Austausch.“
Neue Räume für neue Ideen
Besonders die großen Konzerne entdecken daher aktuell, dass sie für diesen Austausch den organisatorischen Rahmen schaffen müssen. Will heißen: Wer Pioniergeist entwickeln möchte, benötigt Zeit und Raum. Im Hauptsitz des Bayer-Konzerns in Leverkusen gibt es seit einiger Zeit das Kreativraumkonzept „icorner“. Ideengeber ist Dr. Ouelid Ouyeder, der als Operational Excellence Consultant im Konzern die Aufgabe hat, Arbeitsprozesse zu optimieren. Dabei erinnerte er sich an einen Ansatz, der ihm im Rahmen eines „Design Thinking Workshops“ gefallen hatte – ein Raum, der Freiräume bietet, weil er sich von der Innengestaltung bis zur Ausstattung von den anderen unterscheidet. Der „icorner“-Raum mit seinen zwei Fensterfronten und dem flexiblen Mobiliar unterscheidet sich fundamental von üblichen Konferenzräumen. „Alles ist darauf angelegt, dass man hier kreativ und innovativ arbeiten kann“, sagt Ouyeder. Es gibt ein White Board, die Sitzmöbel haben keine Rückenlehne und zeigen damit sinnbildlich, dass die Mitarbeiter hier „gedanklich immer dynamisch sind“, wie Ouyeder sagt. Zudem verfügt der Raum über einen gut ausgestatteten Materialkasten, sodass gerade die Ingenieure, die sich im Raum treffen, an Ort und Stelle einen Prototyp ihrer Idee konstruieren können.
Gekostet habe dieses Raumkonzept nicht viel, sagt Ouyeder. „Und das muss auch gar nicht sein, denn eine zu perfekte Ausstattung kann wiederum blockieren.“ Es dauerte nur ein paar Monate, dann hatte sich „icorner“ als neue Heimat der Bayer-Pioniere im Konzern herumgesprochen. „Heute ist der Raum nahezu ausgebucht“, sagt Ouelid Ouyeder. Er biete damit ein Beispiel, dass Innovationen und Pioniertaten längst nicht nur in top-ausgestatteten Laboren der Forschungs- und Entwicklungsabteilung stattfinden. Ouyeder: „Pioniergeist entsteht dort, wo Experten verschiedener Gebiete frei miteinander ins Gespräch kommen, um ein Problem zu lösen.“ Das Bayer-Beispiel zeigt: Der Aufwand, Räume dieser Art zu schaffen, ist überschaubar.
Fluggeräte, die die Luftfahrt revolutionieren werden
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