StartIngenieureKünstliche Intelligenz verändert das Antlitz der Digitalisierung

Künstliche Intelligenz verändert das Antlitz der Digitalisierung

Wer heute als Hochschulabsolvent ins Berufsleben startet, wird dort vermutlich früher oder später auf das Thema Künstliche Intelligenz, kurz KI, stoßen. Aber wie weit ist die Entwicklung im Bereich KI schon fortgeschritten? Von Nabil Alsabah, Bereichsleiter Künstliche Intelligenz beim Digitalverband Bitkom

Google-Chef Sundar Pichai hat Anfang 2020 beim Weltwirtschaftsforum in Davos erklärt, dass KI tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderungen auslösen wird als Feuer oder Elektrizität. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einem Zeitungsinterview der KI eine disruptivere Rolle zugeschrieben als der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert. Diese Erkenntnis ist auch in der Wirtschaft inzwischen weit verbreitet. Der Digitalverband Bitkom hat im Juni 2020 die Ergebnisse einer Unternehmensumfrage veröffentlicht. Demnach halten Unternehmer und Manager künstliche Intelligenz für herausragend wichtig. Drei Viertel der Unternehmen mit 20 oder mehr Mitarbeitern sehen KI sogar als die wichtigste Zukunftstechnologie. Gründe genug, sich mit KI etwas intensiver zu beschäftigen.

Angehende Ingenieure wissen, dass der Begriff „Künstliche Intelligenz“ eine Familie von Algorithmen umschreibt, mit denen Informatiker, Techniker und Ingenieure bestimmte kognitive Aufgaben wie Bild- und Spracherkennung, Schachspielen oder die Erstellung von Prognosen automatisieren können. Aber es gibt technische Grenzen. Diese haben sich über die Jahrzehnte oft verschoben. Als 1956 eine Gruppe brillanter interdisziplinärer Wissenschaftler künstliche Intelligenz ins Leben gerufen hat, war KI nur ein Traum. In den ersten fünf Jahrzehnten ihrer Existenz arbeitete sich die KI an Fragen der Bild- und Spracherkennung, autonomem Fahren und Robotik, Schach und Logik ab. Die Erfolge waren meistens Laborerfolge ohne nennenswerten wirtschaftlichen Nutzen.

In den 1970er- und 80er-Jahren gab es wiederholte Versuche, einsatzbereite KI-Produkte zu entwickeln: für die medizinische Diagnose, die Kaufberatung oder eine vorausschauende Wartung. Dabei haben KI-Entwickler die jeweiligen Experten befragt und Verhaltensregeln aufgeschrieben, um diese anschließend einzuprogrammieren. Ein Programm für die Diagnose und Behandlung von Infektionen wurde beispielsweise mit circa 500 Regeln eingespeist. Im Alltag haben sich diese sogenannten Expertensysteme selten bewährt. Deren Erfolge bestanden vielmehr darin, die Grundlagenforschung und die Entwicklung von KI-Algorithmen voranzubringen. In den ersten 50 Jahren seit ihrer Gründung hat die KI Zyklen von hoffnungsfrohen Frühlingen und enttäuschenden Wintern durchgemacht. Doch an der Spitze der digitalen Revolution stand sie nie. Das begann sich jedoch vor 15 Jahren zu ändern.

KI-Algorithmen findet man heutzutage in vielen digitalen Produkten. Oft arbeiten sie im Hintergrund und tragen zur Effizienzsteigerung bei.

Ein bislang verhöhnter Teilbereich der KI leitete seinen Eroberungsfeldzug ein, zunächst in die Forschungslabore und anschließend in die Großraumbüros der Entwickler. Das sogenannte maschinelle Lernen wurde in den 1950er-Jahren mit der Prämisse konzipiert, gewünschtes Verhalten nicht über Regeln einzuprogrammieren, sondern über Beispiele zu vermitteln. Doch der Mangel an Trainingsdaten und an Rechenressourcen hat dieses Konzept zum Scheitern gebracht. Die heutige Triade von Massendaten, Rechenleistung und Algorithmen haben eine Reihe von Anwendungen massenmarkttauglich gemacht: von Bilderkennung und Sprachverarbeitung über Empfehlungssysteme in Videoportalen und E-Commerce-Plattformen bis zu vorausschauender Wartung von Großanlagen. KI-Algorithmen findet man heutzutage in vielen digitalen Produkten. Oft arbeiten sie im Hintergrund und tragen zur Effizienzsteigerung bei.

Der KI-Erfolg geht weit über Produkte für Endanwender hinaus. In den letzten Jahren ist eine agile KI-Wirtschaft entstanden, die den Markt für Unternehmenskunden bedient. Ein Unternehmen bietet zum Beispiel KI-Module für die automatische Textgenerierung an. Mithilfe dieser Module lassen Banken, Nachrichtenportale und Werbeagenturen nach Vorlagen Texte formulieren. Ein anderes Unternehmen macht die Produktivitätsverluste von Anlagen mit Hilfe von KI-Technologien messbar. Es optimiert die Anlagenproduktivität durch Vollauslastung von Maschinen. Ein Start-up betreibt mit KI ein Scouting von Zulieferern für die Automobilbranche. Bei all diesen Beispielen liefern die Dienstleister mithilfe von KI hochwertige maßgeschneiderte Lösungen an den Kunden.

Ein Programm, das mit Beispieldaten trainiert wird, kann zur Erkennung von Betrugsfällen etwa in der Versicherungsindustrie eingesetzt werden.

Der Erfolg des maschinellen Lernens hat eine weitere, oft übersehene Komponente: Die Machine-Learning-Community stellt quelloffene und kostenlose Programmiergerüste, sogenannte Frameworks, zur Verfügung. Mit diesen können Entwickler ohne tiefes Vorwissen einfach und unkompliziert KI in ihre Apps einbauen. Ein Programm, das mit Beispieldaten trainiert wird, kann zur Erkennung von Betrugsfällen etwa in der Versicherungsindustrie eingesetzt werden. Frameworks wie TensorFlow, PyTorch und Create ML nehmen den Entwicklern einen wichtigen Teil der Arbeit ab. Diese Frameworks bieten auch Nicht-Informatikern, etwa Ingenieuren, die Chance, mit vergleichsweise geringem Aufwand selbst KI-Anwendungen zu entwickeln.

Der renommierte KI-Pionier Kai-Fu Lee argumentiert, dass wir im Zeitalter der KI-Implementierung leben. KI-Forschung ist weniger wichtig als KI-Einsatz. Wir haben bereits zuverlässige Algorithmen der Bilderkennung, Sprachverarbeitung und Datenanalyse. Nun gilt es, industrielle Use Cases zu konzipieren und umzusetzen. Die oben zitierte Bitkom-Studie zeigt nicht nur, dass die Wirtschaft KI für außerordentlich wichtig hält, sondern auch, dass sie sich schwer damit tut, KI praktisch zu nutzen. Gerade einmal sechs Prozent der Unternehmen setzen KI selbst ein. Nur rund jedes fünfte Unternehmen plant die KI-Nutzung oder diskutiert zumindest darüber. Politik und Wirtschaft ergreifen konkrete Maßnahmen, um dies zu ändern. Innovative Unternehmen stellen branchenspezifische Anwendungsfälle als Blaupausen zur Verfügung. Start-ups zeigen mit ihrem KI-Vorsprung etablierten Unternehmen, wie sie KI erfolg- und ertragreich nutzen können. Und die internationale Forschungsgemeinschaft verschiebt die Grenzen des Machbaren jeden Tag aufs Neue.

Der KI-Campus

Im Oktober 2019 wurde der Startschuss für den Aufbau einer digitalen Lernplattform zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) gegeben. Dabei handelt es sich um ein auf drei Jahre angelegtes und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Pilotprojekt. Motivation und Ziel des Projekts „KI-Campus – die Lernplattform für Künstliche Intelligenz” ist es, eine breite Befähigung im Umgang mit KI zu vermitteln, um für die Herausforderungen den damit verbundenen technischen und gesellschaftlichen Veränderungen gewappnet zu sein. Der KI-Campus soll diesem Bedarf durch die Entwicklung einer offenen Lernplattform begegnen, auf der sich die Nutzer untereinander sowie mit Professoren und anderen Fachexperten vernetzen und sich mit hochwertigen, digitalisierten Lernangeboten weiterbilden können.

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