Die generative künstliche Intelligenz besitzt das Potenzial, die menschliche Arbeit produktiver denn je zu machen. Für Unternehmen stellt sich daher nicht die Frage, ob sie auf diese Technik setzen – sondern in welcher Intensität. Von André Boße
Mit der Metapher des „iPhone-Moments“ beschreiben Miriam Meckel und Léa Steinacker in ihrem Buch „Alles überall auf einmal – Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“ die gegenwärtige Situation: Die Technologie sei erstmals für jede und jeden verfügbar, kostenlos zum Ausprobieren, kostengünstig für alle, die sich länger damit beschäftigen wollen. Diese Verfügbarkeit gebe es auch im geschäftlichen Umfeld, wie Meckel und Steinacker schreiben: „Wer heute mit digitalen Tools arbeitet, kann sich bei fast allem tatkräftig durch generative KI unterstützen lassen“, heißt es im Kapitel „Hurra, die Produktivität ist wieder da! KI und das neue Wirtschaftswachstum“.
Zeit dafür, sich die Unterstützung der KI zu sichern, wird es. Nicht nur mit Blick auf die schwachen Wachstumsprognosen in Deutschland, sondern auch bei näherer Beschäftigung mit der Frage, ob denn die digitale Transformation bislang ihre Erfolgsversprechen eingehalten habe. Und hier fällt die Bilanz erstaunlich nüchtern aus: Bislang, so die Autorinnen, sei der versprochene Produktivitätsschub eben nicht eingetreten. Zwar seien die Investitionen in die digitale Technik rasant gestiegen. Wirklich produktiver wird in den Unternehmen aber nicht gearbeitet.
KI kann 100 Stunden im Jahr bringen
Das Beratungsbüro des Instituts der Deutschen Wirtschaft, IW Consult, hat in einer Studie das Wertschöpfungspotenzial von KI-Lösungen für die deutsche Industrie in Zahlen gefasst. Das Kernergebnis der Studie „Der digitale Faktor“: „330 Milliarden Euro könnte generative KI in Zukunft zur Bruttowertschöpfung in Deutschland beitragen.“ Die Produktivitätssteigerungen durch die Nutzung generativer KI-Tools können dazu führen, dass „eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer in Deutschland in Zukunft im Durchschnitt 100 Stunden im Jahr durch diese Anwendungen einsparen könnte“.
„Wir sehen das Computerzeitalter überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken“, zitieren Meckel und Steinacker in ihrem Buch den Ökonomen und Nobelpreisträger Robert Solow. Warum das so ist, dafür lassen sich nur Indizien finden. Im Verdacht steht zum Beispiel der Umstand, dass die digitale Transformation gerade zu Beginn viel Zeit kostet, und wenn nach der Implementierung der Moment gekommen wäre, die Effizienz zu steigern, steht schon wieder eine neue Technik ins Haus oder sorgen Regulierungen und Security-Fragen dafür, dass der Produktivitätsschub weiter ausgebremst wird.
Nun aber könne die generative KI dafür sorgen, dass sich das Paradox auflöst – und die Digitalisierung wirklich für mehr Effizienz sorgt. KI sei vergleichbar mit der Erfindung der Dampfmaschine oder der Elektrizität, schreiben Miriam Meckel und Léa Steinacker in ihrem Buch – zwei Entwicklungen, die für große Produktivitätsschübe verantwortlich waren. Die aber auch dafür sorgten, dass Unternehmen im Zuge dieser technischen Revolutionen umdenken mussten. „Solche Technologien“ – und zu diesen zählt laut Meckel und Steinacker eben auch die generative KI – „stören nicht nur die kontinuierliche Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen auf den bekannten Pfaden. Sie verändern radikal, wie wir leben, arbeiten und wirtschaften.“ Die Vermutungen der beiden Autorinnen werden von neuen Studien zum Einsatz von generativer KI gestützt. So legte das Beratungsunternehmen McKinsey die Studie „The economic potential of generative AI“ vor, der Untertitel gibt die Richtung vor: „The next productivity frontier“ – „die nächste Stufe der Produktivität“. Die Studienautor*innen prognostizieren, dass Anwendungen mit generativer KI eine zusätzliche Wertschöpfung in Höhe von bis zu 4,4 Billionen US-Dollar erzielen können.
Die generative KI ist eben kein System, das aus eigenem Antrieb heraus arbeitet oder Dinge erschafft.
Nun sind Potenziale nur dann wirksam, wenn sie auch gehoben werden. Und hier kommt der Mensch ist Spiel: Die generative KI ist eben kein System, das aus eigenem Antrieb heraus arbeitet oder Dinge erschafft. Bei der Wirksamkeit kommt es immer auf das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine an. Darauf, dass der Mensch die generative KI als einen neuen Kollaborateur begreift, mit dem er zusammenarbeitet. Im Umgang mit dieser Technik spricht man weniger von Nutzerinnen und Nutzern als von Co-Kreateuren. Was danach verlangt, dass man sich der generativen KI mit einem anderen Mindset widmet als es bei üblichen IT-Anwendungen der Fall ist.
Es wäre grundverkehrt, die generative KI als Tool zu betrachten, das „von sich aus“ für mehr Produktivität sorgt. Das Gegenteil muss passieren: Die Menschen müssen sich der generativen KI widmen. Sie müssen experimentieren, sich weiterbilden, Verständnis für die Potenziale und Risiken entwickeln. Und hier sind auch die Unternehmen gefragt: Auch sie müssen mehr tun, als nur darauf zu hoffen, dass die generative KI neue Geschäftsmodelle entwickelt und die Produktivität nach oben treibt. Sie sind gefragt, ihre Mitarbeitenden fit für diese Zukunftstechnologie zu machen. „Wenn wir in einer immer komplexeren Welt mithalten wollen“, schreiben Miriam Meckel und Léa Steinacker in ihrem Buch, „dann müssen wir auch unsere menschliche Intelligenz erweitern“. Das Schöne ist: Auch dabei kann uns die generative KI mit ihren Möglichkeiten helfen. Wobei es in den Unternehmen darauf ankommt, dass die Führungsebenen dies zulassen. Was auch heißt: Die Affinität für die künstliche Intelligenz ist ab jetzt eine wesentliche Fähigkeit.
Buchtipp
Miriam Meckel & Léa Steinacker: Alles überall auf einmal. Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können. Rowohlt 2024. 26 Euro