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„Wir haben nicht viel Zeit“

Der „Cradle-to-Cradle“-Ansatz von Prof. Dr. Michael Braungart: Hat sich ein Produkt abgenutzt, leben alle seine Komponenten und Ressourcen in anderen Produkten weiter. Statt linear zu denken, nimmt der Chemiker und Verfahrenstechniker den Begriff Recycling ernst und setzt auf einen ewigen Kreislauf. Die Fragen stellte André Boße.

Prof. Dr. Michael Braungart, Foto: Enith Stenhuys
Prof. Dr. Michael Braungart, Foto: Enith Stenhuys

Zur Person

Michael Braungart, 54 Jahre, ist promovierter Chemiker und Verfahrenstechniker. Er gründete 1987 das Umweltforschungsinstitut EPEA in Hamburg und entwickelte zusammen mit dem US-amerikanischen Architekten und Designer William McDonough das „Cradle-to-Cradle“-Konzept. Er ist Querdenker, Mit- und Vordenker und sucht nach Lösungen für die drängendsten Fragen dieser Erde: Wie kann der Mensch sich in das Leben auf der Erde wirklich integrieren? Wie kann er nicht nur wenig Schaden anrichten, sondern wie kann er nützlich sein?
www.braungart.com

Herr Professor Braungart, wie intelligent produzieren und verwerten wir in Deutschland?
Deutschland ist ein Land, in dem es viele zwar gut meinen, dabei jedoch auf das falsche Pferd setzen. Man denkt nämlich, man schützt die Umwelt, wenn man möglichst wenig zerstört. Fahre weniger Auto! Erzeuge weniger Müll! Verbrauche weniger Wasser! Aber wirklicher Schutz muss mehr sein, als nur darauf zu achten, Dinge etwas weniger zu zerstören. Etwas weniger schlecht bedeutet nicht, dass es auch gut ist. Das Problem ist, dass sich in Deutschland viele blendend darauf verstehen, das bestehende System zu optimieren.

Was verstehen Sie unter dem bestehenden System?
Man denkt, man könnte Umweltprobleme mit einer effizienten Müllverbrennungsanlage aus der Welt schaffen. Das Prinzip lautet: Von der Wiege bis zur Bahre. Sprich: Ein Produkt hat irgendwann das Ende seiner Lebenszeit erreicht, dann ist es Abfall. Natürlich gibt es in Deutschland ein Recyclingsystem. Doch dieses geht nicht weit genug. Wir müssen dahin kommen, dass wirklich alle Bestandteile eines Produkts endlos wiederverwertet werden können – und zwar ohne jegliche Qualitätseinbuße. Das Prinzip lautet: Von der Wiege bis zur Wiege. Cradle to Cradle.

Können Sie Beispiele für erfolgreiche Cradle-to-Cradle-Produkte nennen?
Der niederländische Teppichhersteller Desso produziert Bodenbeläge, deren Komponenten entweder vollständig biologisch abbaubar sind oder sich für ein neues Produkt wiederverwerten lassen. Es entsteht also keinerlei Müll. Auch das chinesische Unternehmen Goodbaby, ein Hersteller von Produkten für Babys und Kleinkinder, produziert eine Reihe von Waren nach dem Prinzip „Cradle to Cradle“.

Warum hat sich das Cradle-to-Cradle-Prinzip noch nicht in allen Branchen durchgesetzt?
Weil der Dialog zwischen Ingenieuren und Naturwissenschaftlern auf der einen und Managern auf der anderen Seite noch deutlich intensiver werden muss. Wobei die technischen Experten dann die Aufgabe haben, aufzustehen und zu sagen: Was wir da über Jahre gemacht haben, ist falsch – auch, wenn es vielleicht auf den ersten Blick richtig erscheint.

Können Sie dafür konkrete Beispiele nennen?
Auf den ersten Blick ist es eine gute Sache, wenn ein Hersteller von Küchenböden beginnt, PVC-Beläge zu recyceln, denn so sichern wir die Rohstoffbasis und verringern unsere CO2-Bilanz. Aber die Sache hat einen Haken: PVC war von Anfang an die falsche Wahl für einen Bodenbelag, denn er ist ein umweltund gesundheitsschädliches Polymer. Anstatt also weiterhin besser darin zu werden, das Falsche zu machen – nämlich recyclebare PVC-Böden zu entwickeln –, sollten wir Materialien verwenden, die nach der Nutzung als Bodenbelag komplett für andere Produkte verwertet werden können. Ein zweites Beispiel: Autoreifen halten heute doppelt so lange wie vor einigen Jahren. Da denkt zunächst einmal jeder: „Ist doch klasse für die Umwelt.“ Sie werden aber viele gute Ingenieure und Naturwissenschaftler finden, die diese Entwicklung kritisch sehen, weil sie wissen, was in diesen Autoreifen drinsteckt.

Was steckt denn in den Autoreifen drin?
Für jeden Autoreifen werden bis zu 800 Chemikalien verwendet; 500 von denen dürften eigentlich nie in die Umwelt gelangen. Als die Reifen noch schneller auf die Halde wanderten, blieben sie im geschlossenen System. Heute, bei den längeren Nutzungszeiten, geraten sie aber an die Luft. Wir atmen diesen gesundheitsschädlichen Feinstaub ein, was vor allem bei Stadtbewohnern höhere Zahlen von Bronchitiserkrankungen zur Folge hat. Ein solcher Autoreifen hat ein Qualitätsproblem.

Wie definieren Sie die Qualität eines Produktes?
Wenn ich ein Produkt entwickle, das – damit es sich wirtschaftlich rechnet – in Fabriken zusammengeschraubt werden muss, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, dann ist dieses Produkt nicht hochwertig. Auch ein Produkt, das zu großen Teilen aus schadstoffhaltigen Rohstoffen besteht, ist nicht hochwertig. Klar, so eine Produktion mag auf den ersten Blick effizient wirken. Aber schon morgen kann Ihnen die Sache um die Ohren fliegen, wenn nämlich jemand die lausigen Produktionsbedingungen oder die Schadstoffbelastungen heraus findet. Die schlechte Qualität ihrer Produkte wird für Unternehmen zu einem echten Risikofaktor.

Wie stellen Sie sich in Deutschland einen Umweltschutz konkret vor, der seinem Namen auch wirklich gerecht wird?
Wir sollten uns zunächst einmal andere Ziele setzen. Positive Ziele. Heute arbeiten viele Städte und Unternehmen darauf hin, klimaneutral zu sein. Man pflanzt die Anzahl der Bäume, die man am Ort A abgeholzt hat, am Ort B wieder ein; das Traumauto der Zukunft soll ein Fahrzeug sein, das null Emissionen erzeugt. Nur: Haben Sie schon einmal einen klimaneutralen Null-Emissions- Baum gesehen? Nein, denn jeder Baum kann mehr. Er ist klimapositiv. Sollen wir Menschen uns trotz aller Intelligenz damit zufriedengeben, weniger zu können als ein Baum? Wir müssen uns von unserer Bescheidenheit befreien. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Menschen das Potenzial besitzen, Dinge herzustellen, die der Umwelt nutzen.

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