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Interview mit Gartenbauingenieurin Heike Boomgaarden

Heike Boomgaarden zählt zu den ausgewählten Social Entrepreneurs in Deutschland, ist eine der Ashoka-Fellows 2014 und Preisträgerin im Wettbewerb „Mut zur Nachhaltigkeit“. Ihre Lieblingspflanze ist der Apfelbaum und sie hat die Stadt Andernach „essbar“ gemacht. Das Projekt der „Essbaren Stadt“ hat im Jahr 2014 sowohl die Lenné-Medaille wie auch den Zeit Wissen-Preis erhalten. Das Interview führte Meike Nachtwey.

Heike Boomgaarden Foto: privat
Heike Boomgaarden, Foto: privat

Sie sind Gartenbauingenieurin – war das schon immer Ihr Berufswunsch?
Ich wollte schon immer etwas mit Obstbau machen und habe zunächst eine Ausbildung zur Obstbauerin gemacht, anschließend habe ich das Diplom-Studium Gartenbau absolviert. Gleichzeitig mit dem Aufbau meines Ingenieurbüros startete ich meine Familienplanung. Beides zusammen war sehr anstrengend und fordernd. Aber es hat alles gut geklappt, und ich kann nur jeder jungen Frau raten, nicht auf Familie oder Job zu verzichten, wenn sie beides will.

Sie haben das Konzept der „Essbaren Stadt“ entwickelt. Was verbirgt sich hinter dieser Idee?
Es handelt sich um ein ganzheitliches Konzept, mein Arbeitstitel dazu war „ökohumanes Leben“. Ziel ist es, Natur und Stadt wieder zusammenzubringen, um die Defizite, die wir heute im urbanen Leben haben, auszugleichen: Entfremdung von der Natur, Depressionen, kompletter Wegfall der Biodiversität, Verwahrlosung der Grünflächen, fehlendes Geld zur Pflege der Standardgrünflächen, Erhitzung der Städte, Feinstaubprobleme. All diese Themen haben wir in Augenschein genommen und daraus die „Essbare Stadt“ gemacht. Andernach ist die erste Stadt, die dieses Konzept mit uns umsetzt.

Wie funktioniert die „Essbare Stadt“ Andernach?
Wir machen zunächst die Pflanzpläne und stellen Pflanzen zusammen, die pflegeleicht sind, für die Stadt wenig Kosten verursachen und die standortgerecht sind – dabei ist gartenbauliche Kompetenz gefragt. Nach der Abstimmung mit der Stadt und der Kommune werden in ganz Andernach insgesamt etwa 8000 Quadratmeter mit Gemüsepflanzen und dazu das Drei- oder Vierfache an Obstflächen bepflanzt. Im größten Lehrgarten Deutschlands, einer 14 Hektar großen Permakulturanlage in Kassel, werden Assistenten, zum Beispiel Langzeitarbeitslose, ausgebildet, die in Andernach zum Teil die Pflegemaßnahmen für das Gemüse und das Obst übernehmen. So erhalten Menschen neue Perspektiven und haben eine sehr hohe Wiedereingliederungsrate. Aber auch die städtischen Gärtner und Bürger der Stadt übernehmen die Pflege. Es gibt zum Beispiel Kindergärten, die sich um das Gießen aller Blumen kümmern.

Wie kamen Sie auf die Idee der „Essbaren Stadt“?
Wir haben nicht nur viele Probleme in den Städten und mit der Urbanisierung, auch die Menschen entfernen sich immer weiter voneinander. Ich sage immer: Wenn wir zusammen im Garten stehen, sind wir alle gleich. Egal welche Nationalität, welches Alter: Jeder kann helfen und mitmachen. So helfen wir uns Menschen und der Natur. Das war der Grundgedanke.

Im öffentlichen Raum besteht immer auch die Gefahr des Vandalismus. Wie gehen Sie damit um?
Vandalismus ist ein großes Problem in den Städten. Aber wenn man gemeinsam eine lebenswerte Umgebung gestaltet, dann passen alle gemeinsam auch darauf auf. Das hat mit sozialer Kontrolle zu tun. Die Flächen sind mitten in der Stadt, dort ist immer jemand, der ein Auge darauf wirft. Außerdem haben wir Jugendliche mit ins Boot geholt, indem wir sie zu „Wächtern der Gärten“ ernannt und ihnen klargemacht haben, dass es ihre Stadt ist, ihre Umgebung, ihre Pflanzen und sie diejenigen sind, die hier etwas verändern können. Wenn durch solche Maßnahmen eine ethnobotanische Bindung, wie ich es nenne, geschaffen wird, wird auch nichts zerstört.

Redaktionstipp

Unternehmen punkten bei der Generation Y mit Nachhaltigkeit, das ergab die Studie „The big green talent machine“ von Bain & Company. Die Studie kann auf der Homepage von Bain kostenlos als PDF heruntergeladen werden.

Kann eine „Essbare Stadt“ dabei helfen, Armutsprobleme zu lösen?
Eine „Essbare Stadt“ kann Bewusstsein wecken, aber ganze Familien können wir davon nicht ernähren. Es geht auch mehr darum, dass zum Beispiel die Kinder lernen, was Granatäpfel sind, welche Bohnensorten es gibt und so weiter. In den größeren Städten mit mehr Flächen kann man durchaus auch Ernährungsprobleme lösen. Paris hat beispielsweise begonnen, seinen Bürgern große Nutzflächen zur Verfügung zu stellen. Angefangen hat eigentlich alles mit dem Guerilla Gardening, bei dem öffentliches Grün wieder zum persönlichen Eigentum gemacht wurde. Nicht mehr „Rasen betreten verboten“, sondern „Betreten erwünscht und Pflücken erlaubt“ lautet jetzt das Motto.

Welche Probleme sollten Ihrer Meinung nach von Ingenieuren noch gelöst werden?
Energietechnische Probleme in der Stadt könnten auf regionaler Ebene gelöst werden. Ein gutes Beispiel ist „Urban Farming“. Das ist eine Art Hochhaus in der Stadt, in dem Gemüse wächst. Hier wird auf großer Fläche in der Vertikalen mit geringem Aufwand in Bioqualität produziert. Das wird in Zukunft eine gefragte Ingenieurleistung sein.

Verraten Sie uns Ihr nächstes Projekt?
Städte haben Riesenprobleme: Sie sind zu voll, zu laut, kämpfen mit Slumbildung, Verwahrlosung, dem Abwandern von Fachkräften … Sie müssen sich etwas einfallen lassen, sonst sind sie nicht mehr lebens- und liebenswert. Sie müssen etwas tun, damit man sich wieder in ihnen zu Hause fühlen kann. Im Projekt „Mut zur Lücke“ wollen wir Baulücken anders nutzen, damit Bürger ihre Plätze bekommen, zum Beispiel einen Boule-Platz oder Gemeinschaftsgärten, um miteinander neue Lebensformen leben zu können. Ich bin dann dafür zuständig, dass es schön wird.

Was können junge Ingenieure von Ihnen lernen?
Ausgefahrene Wege zu verlassen und Mut zur Innovation zu haben. Ich denke, Ingenieure, die eine breite Ausbildung und gleichzeitig die Möglichkeit haben, sich weltweit zu informieren, auszuwählen und abzuwägen, können selektieren und müssen nicht die alten Wege gehen. Ich plädiere zum Mut zur Idee. Die Zeit dafür war noch nie so gut wie heute.

Andernach – Die essbare Stadt

Im bundesweiten Innovationswettbewerb „Ausgezeichnete Orte im Land der Ideen“ 2013/14 wurde die Stadtverwaltung Andernach für ihr Projekt „Andernach – Die essbare Stadt“ ausgezeichnet. Zum Thema „Ideen finden Stadt“ liefert das Projekt eine Antwort auf die Frage, wie öffentliche Parks zu Obst- und Gemüsegärten für die Einwohner werden können. Ob Erdbeeren, Salat oder Zwiebeln: Die Stadtverwaltung lässt überall Gemüse, Obst und Kräuter anbauen – und jeder darf sich bedienen. So werden öffentliche Parks und Grünanlagen zum Garten für die Bürger. Die öffentlichen Nutzpflanzen zeigen, wie man sich gesund ernährt und steigern die Wertschätzung für regionale Lebensmittel. Ob jäten oder ernten: Jeder darf mitmachen.
Quelle: www.andernach.de

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