Auf die Frage, wie es mit der deutschen Wirtschaft wieder aufwärts gehen kann, finden junge Ingenieur*innen interessante Antworten. Statt über externe Hindernisse zu klagen, setzen sie auf Investitionen – in Innovationen und ins Personal. Ein Essay von André Boße
Es wird viel über den Nachwuchs gesprochen. Zeit, ihn selbst zu befragen. Das dachten sich auch die Autor*innen, die für den Verein Deutscher Ingenieure (VDI) die Metastudie „Wir gestalten Zukunft“ erarbeiteten, vorgelegt im Juli 2024. Die Untersuchung ist Teil der Initiative „Zukunft Deutschland 2050“, mit der sich der VDI das Ziel gesetzt hat, Wege aus der Wachstums- und Innovationsschwäche aufzuzeigen, die Deutschland aktuell ökonomisch bremsen. Damit sich die Bundesrepublik „auch in Zukunft als führende Industrienation im internationalen Standortwettbewerb positionieren kann“, wie es im Aufruf der Initiative heißt.
Bei Klima und Nachhaltigkeit vorne dabei
Wie innovativ arbeiten Unternehmen? Ein Indikator dafür ist die Zahl der Patente, die in bestimmten Bereichen angemeldet werden. Die Metastudie „Wir gestalten Zukunft“ des VDI (PDF) zeigt für den Bereich Nachhaltigkeit, Klima, Energie, Umwelt, dass die deutschen Unternehmen mit 616 Patenten im jüngsten Erhebungsjahr international auf Platz vier liegen – hinter Japan (2.341), den USA (1.190) und China (958). Weitere europäische Länder kommen auf 293 (Frankreich) und 123 (Großbritannien) angemeldete Patente in grünen Zukunftstechnologien.
Einen zentralen Teil der Studie widmen die Autor*innen den Perspektiven der VDI Young Engineers, dem Netzwerk des VDI speziell für Nachwuchskräfte. Dass die Ansichten von jungen Ingenieur*innen zum Thema Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes aktuell von hoher Bedeutung sind, liegt für den VDI auf der Hand: „Angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland und der im Vergleich zu den starken Babyboomer- Jahrgängen schwächer besetzten jüngeren Jahrgänge spielen die Nachwuchskräfte eine entscheidende Rolle für die zukünftige technologische Stärke Deutschlands“, heißt es im Report. Und wie ist die Stimmung beim Nachwuchs? Kurze Antwort: skeptisch. Aber aus interessanten Gründen.
Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit
Bereits seit einigen Monaten geistert die Warnung durch die Medien, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei in Gefahr. Als einen Grund dafür nannte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in seiner im Juni vorgestellten Studie „Wettbewerb der Steuersysteme“ die im Vergleich zu anderen Ländern deutlich zu hohe Steuerbelastung. Vertreter*innen von energieintensiven Industrien verwiesen zuletzt hingegen in erster Linie auf die hohen Energiepreise, die die Wettbewerbsfähigkeit bedrohen. So stellte die Wirtschaftsvereinigung Stahl in einem Positionspapier klar: „Die Stromkosten in Deutschland sind insgesamt zu hoch – nach wie vor.“ Ein Umstand, der den notwendigen Wandel der Stahlindustrie gefährde, denn: „Ausreichende Mengen an erneuerbarem Strom zu international wettbewerbsfähigen Preisen sind eine unabdingbare Voraussetzung für eine klimaneutrale Stahlproduktion in Deutschland“, heißt es im Positionspapier.
Zu viel Steuern, zu hohe Energiekosten – die beiden Verbände begründen die Probleme also anhand externer Faktoren. Interessant ist, dass die für die VDI-Studie befragten Young Engineers bei der Nennung der Punkte, die bestimmen, ob Deutschland wettbewerbsfähig bleibt oder nicht, als erstes einen internen Aspekt benennen: Fachkräfte. Wichtig sei eine genügend große Anzahl davon, gekoppelt mit einer guten Ausbildung sowie Möglichkeiten, sich stetig weiterzubilden und weiterzuentwickeln. Die jungen Ingenieur*innen verweisen also nicht auf die Rahmenbedingungen wie Steuern oder Energiepreise, sondern auf die Bedeutung des fachlichen Know-hows innerhalb der Unternehmen. Um den Namen der Publikation aufzunehmen: Die Menschen sind es, die Zukunft gestalten.
Nachwuchs sieht andere Kriterien
Wie aber ist es aus Sicht der Young Engineers in dieser Hinsicht um die Gestaltungskraft der deutschen Industrie bestellt? Noch einigermaßen gut. Mit Betonung auf „noch“. Bei der Frage, wie gut die Unternehmen im internationalen Vergleich bei der Entwicklung neuer Technologien mithalten können, geben sechs Prozent der Befragten an, Deutschland sei „sehr wettbewerbsfähig“ und 50 Prozent „eher wettbewerbsfähig“. Dieser halbwegs positiv Blick trübt sich bei der Frage, wie sich diese Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der neuen Technologien in den kommenden fünf bis zehn Jahren entwickeln wird. Wohin also geht der Trend? Hier gibt sich der Nachwuchs mehrheitlich pessimistisch: 67 Prozent der Befragten glauben, die Wettbewerbsfähigkeit werde sich „eher verschlechtern“, elf Prozent gehen sogar davon aus, sie werde sich „stark verschlechtern“. Diese Einschätzungen der Young Engineers sind ein echtes Alarmsignal.
Young Engineers wollen ein Umfeld vorfinden, in dem alle Generationen die Möglichkeiten und die Motivation mitbringen, Dinge zu lernen und sich zu entwickeln.
Die Studienautor*innen baten die Befragten auch, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie der Innovationsstandort Deutschland gestärkt werden könnte. Und auch mit Blick auf die Lösungen bestätigt sich der Fokus des Nachwuchses auf die Menschen, die in den technischen Unternehmen tätig sind: Die Young Engineers schlagen zum Beispiel vor, die Investitionen in Innovationen zu steigern – besonders von öffentlicher Seite – sowie bürokratische und regulative Hürden zu beseitigen, um somit das Gründen von Unternehmen zu vereinfachen. Sprich: eine bessere Start-up-Kultur zu etablieren.
Menschen statt Technik
Dass die Gestaltungskraft der technischen Unternehmen gesamtgesellschaftlich benötigt wird, zeigen die Aufgaben der nahen Zukunft. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) stellt in seiner Arbeitsmarktanalyse „Ingenieurmonitor 2024“ in Aussicht, dass in den kommenden Jahren der Bedarf an Beschäftigten in Ingenieurberufen durch die Aufgabe bei den Themen Digitalisierung und Klimaschutz deutlich zunehmen werde. Dazu sei mit einem stark steigenden demografischen Ersatzbedarf zu rechnen, weil die Babyboomer in den Ruhestand gehen. „Sorge macht daher, dass die Anzahl der Studienanfänger*innen in den Ingenieurwissenschaften in den letzten Jahren stark rückl.ufig ist“, schreiben die Expert*innen in ihrem Report.
Umso wichtiger ist es für die Unternehmen, die Nachwuchskräfte, die sie für sich gewinnen konnten, auch tatsächlich zu halten. Eine große Fluktuation kann dadurch verhindert werden, dem Nachwuchs eine gute Perspektive zu geben – und ihn in Entscheidungen einzubeziehen. Prof. Dr. Michael Weyrich, Vorsitzender der VDI/VDE-Gesellschaft für Messund Automatisierungstechnik, weist in einem Meinungsbeitrag im VDI-Blog darauf hin, dass seiner Auffassung nach aktuell zwei Fragen zu wenig diskutiert werden, wenn es um die Zukunftsaussichten der deutschen Unternehmen geht: Wie begeistern wir junge Menschen? Und wie bekommen wir unsere Leistungsträger von morgen?
Die brillantesten Analysen, was technologisch machbar ist, sind hinfällig, wenn es zu wenig Leute gibt, die die deutsche Ingenieurskunst vorantreiben.
„Ich glaube, das ist die wichtigste Frage in und für Deutschland – fast wichtiger als die Entscheidung, welche Zukunftstechnologien wir anpacken und welche nicht“, schreibt Weyrich. Es werde viel über die notwendigen Themenfelder diskutiert, die die Zeitenwende auslösen, „da geht es dann um KI, Digitalisierung, Quanten und andere Schlagworte“. Die brillantesten Analysen, was technologisch machbar sei, seien jedoch hinfällig, wenn es in den Unternehmen zu wenig Leute gebe, die die deutsche Ingenieurskunst vorantreiben.
Statt also vorrangig über die Technik möchte Michael Weyrich verstärkt über die Menschen reden. So gelte es, über die Generationen hinweg „Kooperationen zu fördern und gemeinsam neue Technologien zu gestalten“. Sein Plädoyer: Jede Generation anzunehmen, wie sie ist – mit ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen. Das mache die Ansprache der jungen Menschen kompliziert, weil sich die Generationen Y, Z und die kommende Generation Alpha voneinander unterscheiden. „Dennoch ist es wichtig, Brücken zwischen den Generationen zu bauen und einen Austausch zu ermöglichen, von dem alle Beteiligten profitieren“, schreibt Weyrich in seinem Beitrag.
Start-uPs attraktiV Für Ingenieur*innen
Eine Studie der University of Illinois at Urbana-Champaign und der ESMT Berlin hat nach Faktoren gesucht, die die Berufswahl von High Potentials im Bereich der Ingenieurwissenschaften beeinflussen. Obwohl Mitarbeitende in Start-ups rund 20 Prozent weniger verdienen als ihre Kolleg*innen in großen, etablierten Unternehmen, seien die Mitarbeitenden von Start-ups im Durchschnitt besser qualifiziert als die Beschäftigten etablierter Unternehmen – was die Studie anhand der Rangliste der Promotionsprogramme gemessen hat. Bei der Suche nach den Gründen fand die Untersuchung heraus, dass diese Einsteiger*innen besonders schätzten, autonom und an Spitzentechnologien zu arbeiten. Start-ups profitieren von diesem Trend: Sie haben von Beginn an die Chance, hochqualifizierte und motivierte Mitarbeitende zu finden – und zwar ohne beim Gehalt mit den großen Unternehmen mithalten zu müssen.
Fachkraft als „Digitalisierungstool“
Wie zentral diese Aufgabe ist, darauf verweist Thomas Appolonio, Gesch.ftsführer des Beratungsunternehmens 123C Digital Consulting. In einer Studie zur Digitalisierung der deutschen Unternehmen habe man festgestellt, dass bei der Entfesselung der Gestaltungskraft beim Thema Digitalisierung der Faktor Mensch eine herausragende Rolle spiele. „Wir waren überrascht, dass der Mensch als wichtigstes Digitalisierungstool, noch vor der Technik selbst, wahrgenommen wird. Das klingt zwar paradox, bietet aber große Chancen“, formulierte er es bei der Vorstellung der Studienergebnisse. Für ihn gehe es insbesondere darum, das Mindset der Mitarbeitenden positiv zu ändern. „Die Fachkompetenz ist das eine. Für den Erfolg der Digitalisierung im Unternehmen ist die Haltung der Mitarbeitenden von hoher Bedeutung. Der Change-Gedanke muss in den Köpfen aller ankommen und im besten Fall gelebt werden“, sagt Appolonio.
Wer es ernst damit meint, etwas für die Zukunft Deutschlands als Standort für Industrie und technische Unternehmen zu tun, sollte also unbedingt bei den Menschen anfangen. Klar, Steuern und Energiepreise geben dem unternehmerischen Handeln wichtige Rahmen. Und die Digitalisierung ist und bleibt der Motor für neue Geschäftsmodelle und höhere Effizienz. Die Gefahr ist jedoch, dass man so intensiv über Regulationen klagt und über die Technik spricht, dass man darüber die Menschen vergisst, die nötig sind, neue Wege zu finden und zu gehen – und dabei möglichst viele mitzunehmen.
Investitionen in Innovation
„Zukunft Deutschland 2050“ hat der VDI seine Initiative genannt. Bis dahin sind es noch gut 25 Jahre. Wie hoch dann die Steuerbelastung ist? Wie es um die Energiepreise bestellt ist? Komplett offen – und abhängig von Faktoren wie politischen Wahlen oder internationalen Konflikten, über die Unternehmen keine Kontrolle ausüben können. Was sie jedoch beeinflussen können, ist ihr Zugang zu den Menschen. Eine Nachwuchskraft, die heute mit 25 Jahren als Ingenieurin oder Ingenieur einsteigt, wird 2025 knapp über 50 sein – und damit mit recht hoher Wahrscheinlichkeit Führungsverantwortung besitzen. Die Unternehmen stehen damit vor der Aufgabe, schon heute in diese Führungskraft von morgen zu investieren.
Um sie für ihren Beruf zu begeistern, ihr eine Perspektive zu geben. Was dafür nötig ist, auf diese Fragen haben die Young Engineers des VDI in der Befragung ja einige Antworten gegeben. Der Nachwuchs will Investitionen in Innovationen – damit es nicht heißt: „Können wir nicht machen, weil das Geld fehlt.“ Er will eine positive Start-up-Kultur – damit es möglich ist, eigene Ideen in eine Gründung einfließen zu lassen, die kein Risiko darstellt, sondern eine Rampe für die eigene Karriere. Und schließlich wollen die Young Engineers ein Umfeld vorfinden, in dem alle Generationen die Möglichkeiten und die Motivation mitbringen, Dinge zu lernen und sich zu entwickeln. An dieser Stelle sind die Unternehmen gefragt: Nicht nur klagen, auch machen. Dann klappt’s auch mit der Zukunft.
Der Ausweg aus der Polykrise
Die Schlüsselthemen Künstliche Intelligenz, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Arbeitsmarkt und Bildung konfrontieren Menschen mit vermeintlichen Widersprüchen. Wer sich als Unternehmer, CEO oder Führungskraft einen Überblick über aktuelle Herausforderungen zu verschaffen versucht, kann durchaus Angst bekommen. Die sechs Expert*innen, allesamt in der Wirtschaftswelt versiert, lösen die vermeintlichen Widersprüche auf und zeigen, wie Deutschland sich jetzt neu erfinden muss. Anahita Thoms, Sebastian Dettmers, Gülsah Wilke, Fabian Kienbaum, Magdalena Oehl, Hauke Schwiezer (Hrsg): Zukunft im Widerspruch. Wie Deutschland sich jetzt neu erfinden muss. Campus 2024. 26 Euro