Für Ingenieure bricht ein neues Zeitalter an. Ihre Entwicklungen dürfen nicht nur wenigen Privilegierten nutzen, die Technik von morgen muss Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fördern. Experten hoffen dabei auf die Lebenswelten der jungen Generation – und setzen auf alternative Modelle wie Biokratie und technische Ethik. Von André Boße
Angenommen, ein Ingenieur arbeitet an einer Lösung des Mobilitätsproblems in den Städten: Es gibt einerseits zu viele Autos und Emissionen, zu wenig Parkplätze und Platz auf den Straßen. Andererseits spielt ihm die Digitalisierung in die Hände: Apps und vernetzte Fahrzeuge bieten schon bald die Chance einer neuen urbanen Mobilität, die den Nutzer mit Hilfe kombinierter Mobilitätskonzepte ans Ziel bringt – und von denen das eigene Auto nur eines ist. Die Folge: weniger Stau, weniger Emissionen, weniger Stress. Klingt nach Zukunft. Unabhängig von der Frage der Technik, die damals noch nicht so weit war: Hätte dieser Ansatz auch schon vor 20 oder 30 Jahren funktioniert?
In einer Zeit, als der Besitz des eigenen Autos noch ein Statussymbol war – und man sich als Besitzer kaum vorstellen konnte, das Fahrzeug vor den Toren stehen zu lassen und auf andere Art in die Stadt zu fahren? Wohl kaum. Die modulare Mobilität wird erst heute zu einem Markt, in einer Zeit, in der der mobile Mensch nicht mehr unbedingt mit seinem eigenen Gefährt von A nach B fahren muss, sondern deutlich mehr Wert darauf legt, bequem unterwegs zu sein. Und wenn möglich: umweltfreundlich.
Unbewusste Treiber des Wandels
Für Prof. Dr. Thomas Heupel ist dies nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, wie sehr technische Innovationen, Umweltschutz und der individuelle Lebensstil der Jüngeren ineinandergreifen.
„Studien zeigen, dass die Generationen Y und Z für einen entmaterialisierten Konsum stehen“, verdeutlicht der Wirtschaftsprofessor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Essen. Dinge zu besitzen sei dieser Generation weniger wichtig als noch bei den Angehörigen der Generation X oder den Babyboomern, so Heupel. Statt Besitztümer anzuhäufen, sind die jüngeren Generationen in virtuellen Räumen der sozialen Netzwerke unterwegs.
Technik, Wandel, Zukunft
Die Technikexperten der verschiedenen Fraunhofer Institute haben ein Impulspapier zum Thema „Wandel verstehen, Zukunft gestalten“ veröffentlicht: Aus fünf Thesen zur Bedeutung von Innovationen im Jahr 2030 haben die Autoren Themen und Aufgaben für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft abgeleitet. Dabei komme es unter anderem darauf an, das Wissen für alle zu öffnen, Innovationsprozesse zu digitalisieren und Offenheit, Lernfähigkeit sowie Kooperation als Leitbilder von Innovation zu betrachten. Das Papier ist als PDF gratis unter folgendem Link verfügbar: s.fhg.de/innovation2030
„Dabei denken sie, wie unsere Ergebnisse zeigen, nicht einmal besonders ökologisch“, sagt der Professor. „Aber weil sie eben auf bestimmte Dinge wie ein eigenes Auto verzichten können, werden sie quasi unbewusst zum Treiber eines Wandels hin zu mehr Nachhaltigkeit.“
Festgestellt hat Thomas Heupel jedoch eine generelle Sensibilisierung für ökologische Themen: „Wohin man auch schaut: Es gibt Bio-Produkte oder ökologisch zertifizierte Geräte, auch Discounter und Elektrogroßmärkte kommen nicht mehr ohne aus.“ Das zeige: Es gibt einen Markt für Nachhaltigkeit. Und es gibt eine junge Generation, deren Lebensstil mit diesem Markt einhergehe. „Das wiederum“, so Heupel, „bringt einen Begriff auf die Agenda, der diese biologisch-ökologische Dimension des Marktes und der Gesellschaft weiter stärken kann: die Biokratie“.
Der Umweltökonom Georg Winter gilt als Pionier dieser Idee, der Natur Rechte zu verleihen. Winter definiert Biokratie auf seiner Website www.rechte-der-natur.de als eine „hypothetische Regierungsform, in der alles Leben eine mitbestimmende Funktion einnimmt“. Der Begriff beschreibt damit ein Konzept, das Fauna und Flora eine Teilhabe an der Staatsführung zuschreibt. Somit sei die Biokratie als Staatsform als eine Erweiterung der Demokratie zu sehen, „in der nicht allein die Menschen, sondern sämtliche Lebewesen als Staatsvolk anerkannt, mit Grundrechten ausgestattet und parlamentarisch vertreten sind“, so Winter. Drei Hauptaspekte der Biokratie sind laut dem Umweltökonom die Umweltwissenschaften, die (Umwelt-)Ethik sowie das Umweltrecht (inklusive Tierrecht).
Biokratie: Der Natur eine Stimme
Man dürfe das Wort Biokratie jedoch nicht mit einem dogmatischen Kampfbegriff verwechseln, sagt Thomas Heupel. Mit einer von oben verordneten Öko-Diktatur habe die Biokratie nichts zu tun. „In ihr steckt die Demokratie, die hier nun ergänzt wird, indem sie genauso wie die Bürgerinnen und Bürger mit Rechten ausgestattet wird.“ Die Biokratie wird damit zu einer um eine grüne Dimension erweiterten Demokratie: Die Natur erhält eine Stimme. Und die hat sie auch bitter nötig.
„Wenn heute von Nachhaltigkeit die Rede ist, dann meinen wir damit häufig das Konzept der ,Schwachen Nachhaltigkeit’“, differenziert Thomas Heupel. Diese stehe dafür, dass die Nachhaltigkeit verhandelbar sei: „Betreiben wir Raubbau an der Natur, verbessern damit aber die Infrastruktur oder die sozialen Gegebenheiten, gilt dieser Prozess dennoch als nachhaltig.“ Ein Beispiel ist der Bau einer neuen Autobahn durch ein Waldgebiet: Die Natur leidet, aber der Schaden wird ausgeglichen, weil die Region die neue Verkehrsader nutzt, sich neue Firmen dort ansiedeln, dadurch neue Arbeitsplätze entstehen.
„Die Biokratie setzt dagegen auf die ,Starke Nachhaltigkeit’“, so Heupel. Der Schutz der Natur sei hier eben nicht verhandelbar: Die Natur habe quasi ein Veto-Recht für Projekte, die ihr Schaden zufügten. „Ich glaube“, sagt Thomas Heupel, „dass wir diese ,Starke Nachhaltigkeit’ dringend benötigen, um den Klimawandel und die Umweltzerstörung in den Griff zu bekommen.“ Eine von oben verordnete Biokratie sei jedoch eine problematische Option, weil sich die Menschen ungern Dinge vorschreiben ließen.
Daher hofft der Ökonom so sehr auf den „natürlichen Wandel“, angetrieben vom Lebens- und Arbeitsstil der jungen Generation: „Auch die jungen Ingenieure denken von sich aus weniger materialistisch. Sie sind das digitale Arbeiten gewohnt, bringen ein Gespür für die Notwendigkeit von Naturschutz mit, denken bei Kunden weniger an Besitzer als an Nutzer.“ All dies könne die Entwicklung einer Technik im Sinne der Biokratie fördern.
Technik für mehr Weltgerechtigkeit
Wie wichtig diese „Starke Nachhaltigkeit“ ist, beziffert Prof. Michael Lauster, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) in Euskirchen im Rheinland. Die Erde stehe vor drei großen Herausforderungen, sagt Lauster: Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Urbanisierung. „Diese Trends beruhen auf sehr stabilen und langwelligen Veränderungsraten, sodass sie mit hoher Zuverlässigkeit prognostiziert werden können.“
Zwischen zehn und elf Milliarden Menschen werden bis Mitte dieser Dekade die Erde bevölkern, die mittlere Temperatur auf dem Planeten steigt an – „Das muss als Fakt anerkannt werden“, fordert Lauster –, der Trend zur Verstädterung setze sich fort: Die Anzahl der Megacities, also von Städten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, werde von heute 30 auf mehr als 50 anwachsen. „Wobei mit dem ungesteuerten Wachstum zahlreicher Stadtregionen erhebliche Probleme bei der Versorgung der Einwohner mit Nahrung, hygienischen Verhältnissen, Medizin und Sicherheit verbunden sind“, wie der promovierte Ingenieur und Inhaber des Lehrstuhls für Technologieanalyse an der RWTH Aachen sagt.
Die einzelnen Probleme verstärkten sich nun noch dadurch, dass sie auf der Erde ungerecht verteilt seien. „So findet das größte Bevölkerungswachstum in Regionen statt, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind“, sagt Lauster. Gerade diese Analyse führt dazu, dass bei der Entwicklung und beim Einsatz neuer Techniken ein Paradigmenwechsel stattfinden muss. „Technologieentwicklung darf zukünftig nicht mehr nur unter dem Aspekt stattfinden, dass es einer begrenzten Anzahl privilegierter Regionen deutlich besser geht als anderen“, sagt der Techniktrend-Analyst.
„Es muss die Einsicht erzielt werden, dass alle Menschen ernährt, mit hygienischen Verhältnissen versorgt und in sicheren Lebensumständen untergebracht werden müssen.“ Sprich: Ingenieure müssen nicht nur Technik und Ökologie, sondern auch Technik und Gerechtigkeit zusammen denken. „Sonst“, sagt der Fraunhofer-Institutsleiter, „zerstören die Industrienationen ihre Lebensgrundlage selbst.“
Ingenieure müssen Ethik entdecken
Damit erhält das Thema Ethik Einzug in die Arbeitswelt der Ingenieure. Neu ist das nicht: Schon immer besaß die Entwicklung einer neuen Technik einen direkten Bezug zum Thema Verantwortung. Spätestens war das ab dem Zeitalter der Atomkraft der Fall. „Moderne Technologien sind in der Lage, Wirkungen zu erzeugen, die nicht nur lokal, sondern – im schlimmsten Fall – sogar global sind“, sagt Michael Lauster.
ARD-Themenwoche
„Gerechtigkeit“ Vom 11. bis 17.11.2018 behandelt die ARD das Thema Gerechtigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln: von Armut bis Zeitarbeit, politisch, philosophisch, persönlich. Mehr zur Themenwoche: www.ard.de
Weitere Beispiele sind Nano- und Gentechnologien, deren Auswirkungen bislang nur schwer abzuschätzen sind. Verschärft wird die ethische Debatte durch Ansätze, die mit Hilfe neuer Techniken in das Weltklima eingreifen wollen. Das klingt attraktiv: Ingenieure und Forscher retten die Welt, indem es ihnen zum Beispiel gelingt, CO2 aus der Atmosphäre zu entziehen – oder ein ähnliches technisches Wunder zu vollbringen.
Der Trendanalyst vom Fraunhofer INT warnt jedoch davor, diese technischen Eingriffe in ihrer Wirkung zu unterschätzen. „Diese Technologien sind mit komplexen Systemen verknüpft, deren kennzeichnendes Merkmal ist, auf einfache Eingaben mit vielfältigen, teilweise schwer- oder unvorhersehbaren Antworten zu reagieren – deshalb nennen wir sie ja komplex.“ Das Problem sei jedoch, dass man die Mechanismen vieler dieser Systeme bis heute noch nicht vollständig verstehe. Daher könne auch die Wirkung von Eingriffen in diese Systeme bislang noch nicht abgeschätzt werden.
„Eingriffe mit unvorhersehbaren und eventuell sogar irreversiblen Folgen zu tätigen, würde deutlich ethische Grenzen überschreiten“, sagt Michael Lauster. Entsprechend rät er jungen Ingenieuren, neben den üblichen Fahigkeiten, die man für eine gute Karriere benötigt, zwar stets offen für Neues zu sein. Wichtig sei es darüber hinaus aber auch, „auf die Bedürfnisse der Menschen zu sehen, den Blick in die Zukunft zu richten und die Auswirkungen des gegenwärtigen Handelns abzuschätzen – sprich: Verantwortung für sich und andere zu übernehmen“. Vorsprung darf also nicht an anderer Stelle Nachteile erzeugen. Weder für Menschen noch für die Natur – die im Sinne der Biokratie eine Stimme erhalten soll.
Buchtipps
Digitaler Humanismus
Die Bestseller-Autorin Dr. Nathalie Weidenfeld und ihr Mann, der Philosoph und ehemalige Staatsminister Prof. Dr. Julian Nida- Rümelin, zeigen mit dem Buch „Digitaler Humanismus“ eine, so der Untertitel, „Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“. Mit einem Brückenschlag zwischen philosophischen Gedanken und Zukunftsszenarien legen die beiden Autoren einen Gegenentwurf zur Ideologie im Silicon Valley vor, wo die Künstliche Intelligenz zu einem Manna der Fortschrittsgläubigen zu werden droht – zumal bei einem reinen Blick auf die Nutzbarkeit fürs Business. Ingenieuren bietet das Buch Impulse, wie es gelingen kann, den technischen Fortschritt im ethischen Kontext zu betrachten. Julian Nida-Rümelin/Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus: Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Piper Verlag 2018. 24 Euro
Nachhaltigkeit und Digitalisierung
Das Fachbuch „Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter“ zeigt für die Begriffe Innovation, Steuerung und Compliance auf, wie sich Ökonomie, Technik und Umweltschutz mit der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft verbinden lassen. Unter anderem verdeutlicht Prof. Dr. Thomas Heupel in einem Kapitel, warum mit der Biokratie ein neues Konzept der Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der Generationen Y und Z sowie der künftigen Megatrends eine Chance erhält. Andreas Gadatsch, Hartmut Ihne, Jürgen Monhemius, Dirk Schreiber (Hrsg.): Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter. Springer Gabler 2018. 54,99 Euro
Jahrbuch Nachhaltigkeit 2018. Nachhaltig wirtschaften. Einführung, Themen, Beispiele. Metropolitan 2018. 14,95 Euro