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Mit IT zu grenzenloser Digitalisierung

Wer davon ausgeht, die Digitalisierung sei irgendwann abgeschlossen, begeht einen großen Denkfehler. Das Gegenteil ist der Fall: Je weiter der Prozess fortschreitet, desto stärker verästelt er sich. Für die deutsche Vorgehensweise, die Sachen gerne abhakt, ist das ein Problem. Umso mehr ist ein Mindset gefragt, dass die transformative Dynamik immer weiter antreibt. Ebenso IT-Expertise, die für die Gestaltung des digitalen Wandels dringend benötigt wird. Wohlwissend, dass dadurch die Lösungen entstehen, die Wirtschaft und Gesellschaft dringend benötigen. Ein Essay von André Boße und Christoph Berger

Was als „digitalisiert“ gilt und was nicht, darüber gibt es verschiedene Auffassungen. In manch einer Schule oder Hochschule gelten Unterrichtsstunden oder Seminare schon dann als „hybrid“, wenn Lehrkraft oder Dozent*in mit ihrem Smartphone die Tafel abfilmen und anschließend Arbeitsblätter mailen, die man sich zu Hause ausdrucken soll. Und nicht wenige Verwaltungen verkaufen digitale Offensiven mit der neuen Möglichkeit, Vor-Ort-Termine nun auch online organisieren zu können – häufig mit Hilfe von Tools, die Erinnerungen an das Zeitalter des Uralt-Betriebssystems MS-DOS von Microsoft wecken.

Digitalisierung: Daten und Gesellschaft

Um auf einen Nenner zu kommen: Was also bedeutet Digitalisierung überhaupt? Bettina Distel ist Wissenschaftlerin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement an der Universität Münster, in einem Aufsatz für die Schriftenreihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für politische Bildung hat sie Digitalisierung wie folgt definiert: „Der Begriff der Digitalisierung bezieht sich einerseits auf die Umsetzung analoger Daten und Informationen in digitale Formate und andererseits auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die durch den Einsatz digitaler Informationsund Kommunikationstechnik entstehen.“ Ihr Text, erschienen im März 2022, trägt den Titel „Digitalwüste Deutschland? – Digitalisierung im internationalen Vergleich“.

Mit Blick auf die Wirtschaft stellt sie fest: „Trotz des voranschreitenden Ausbaus digitaler Infrastruktur in Deutschland liegt ihre Nutzung in deutschen Unternehmen häufig unter  dem EU-weiten Durchschnitt.“ Zwar liege die Nutzung von Künstlicher Intelligenz und Big Data leicht über dem Durchschnitt, doch sei der Grad der Robotisierung und Automatisierung gegenüber anderen EU-Staaten geringer. „Berücksichtigt wurden in der Auswertung nicht nur die Nutzung relevanter digitaler Technologien (3D-Druck, Robotics, Cloud Computing) durch Unternehmen, sondern auch die Anwendung von Big- Data-Analysen, die Unterstützung betrieblicher Prozesse durch Software, die Bereitstellung elektronischer Rechnungen sowie Aspekte der digitalen Infrastruktur“, schreibt Bettina Distel über die Kategorien.

IT als Business Enabler

Laut der Lünendonk-Studie 2022: Future of IT – Die Rolle der IT bei der Digital Business Transformation“ hat laut 83 Prozent der Studienteilnehmenden dazu geführt, dass Fachbereiche die digitale Transformation stärker forcieren. Gleichzeitig sagen 72 Prozent der IT-Verantwortlichen, dass sich die Wahrnehmung der IT geändert hat und Fachbereiche das Potenzial der IT als Business Enabler für die Entwicklung differenzierender und innovativer Produkte und Services sehen. Dem Bedeutungszuwachs geschuldet, erhalten 62 Prozent der befragten CIOs auch mehr Budget für Innovationen sowie Modernisierungs- und Transformationsprogramme der IT.

Durchschnitt wird allerdings nicht ausreichen, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben. Dringend sind Investitionen sowohl in IT-Budgets als auch den Aufbau des dazugehörigen Know-hows notwendig. Denn klar ist, dass sich die Rolle der IT in den letzten Jahren verändert hat. Dies haben die Analysten des auf Branchen- und Unternehmensanalysen spezialisierten Beratungsunternehmen Lünendonk & Hossenfelder in ihrer Studie „Future of IT – die Rolle der IT bei der Digital Business Transformation“ offengelegt. Demnach wird die IT immer mehr zu einem Enabler für Innovationen und die digitale Transformation. Was bedeutet, dass CIOs sich in den kommenden Jahren auf Transformationsprogramme in Feldern wie IT-Modernisierung, Cloud-Transformation, Datenmanagement und Prozessautomatisierung fokussieren werden. Gleichzeitig nehme die IT eine zentrale Rolle bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien (ESG) ein.

Zu denken gibt vor diesem Hintergrund Bettina Distels Fazit. Laut dem dürfe die digitale Transformation nicht zu mehr Ungleichheit führen, zum anderen nicht „als ein geschlossener Prozess“ verstanden werden, der mit einigen Strategien und Digitalpaketen zu bewältigen sei. „Sie ist vielmehr ein andauernder Prozess ohne klar definierte Start- oder Endpunkte.“

Haken dran und fertig? Klappt bei der Digitalisierung nicht

Gut möglich, dass genau hier ein sehr für Deutschland typisches Problem liegt: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft haben es in der Moderne so gelernt, dass Prozesse durch bestimmte Maßnahmen abzuarbeiten sind. Das gilt für Reformen in der Politik, Neuorganisationen in Unternehmen, Wandlungen in der Gesellschaft: Die Deutschen, so scheint es, haben es gerne, wenn etwas ein festes Ende hat. Haken dran – fertig, weiter zur nächsten Aufgabe. Jedoch haben wir es seit einigen Jahren auf vielen Ebenen mit Herausforderungen anderer Art zu tun.

Cyber Security ist aktuelle Kernherausforderung

Wie die Studie „CxO Priorities 2022“ der Managementberatung Horváth unter 280 Topmanagern und -managerinnen zeigt, bewerten 62 Prozent der Befragten Cyber Security als sehr wichtige Managementherausforderung. Weitere 28 Prozent erachten sie als wichtig. Somit landet Cyber Security mit 90-prozentiger Relevanz in der branchenübergreifenden Betrachtung noch vor Nachhaltigkeit (83 %). An erster Stelle steht unverändert die digitale Transformation (95 %). Industrieunternehmen für sich genommen geben die Prävention und Bekämpfung bei Cyber-Angriffen sogar als wichtigste Managementherausforderung an.

Ob die Globalisierung oder die Digitalisierung, ob Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die drohende Klimakatastrophe oder die Rückkehr des Angriffskriegs im Herzen Europas: Alle diese Entwicklungen scheinen kein klares Ende zu finden. Die Veränderungsprozesse sind stetig, die Krisen werden chronisch. Abhaken? Kaum möglich. Wie sehr es aber genau danach eine Sehnsucht gibt, zeigte die Corona-Pandemie mit ihrer häufig gestellten Leitfrage, wann denn eine Rückkehr zur Normalität möglich sei. Irgendwann wurde aus der Frage eine Forderung: Die Rückkehr müsse jetzt bald vollzogen werden. Als ob sich das Virus darum schere. Und machen wir uns nichts vor: Das Klima auf der Erde wird sich auch nicht darum scheren, ob die Menschheit ab einem bestimmten Punkt findet, jetzt sei es aber genug mit den Einschränkungen.

Lieferkette: Je tiefer der Einblick, desto mehr gibt’s zu tun

Wie die Politik und die Gesellschaft, so müssen auch die deutschen Unternehmen lernen, dass es die Normalität – wenn es sie denn überhaupt gab – nicht mehr geben wird. Insbesondere die Digitalisierung ist ein Fass ohne Boden. Mehr noch, sie ergibt überhaupt erst Sinn, wenn man sie als eine Entwicklung begreift, die kein Ende finden wird, die immer wieder aufs Neue Geschäftsmodelle, Prozesse und den Purpose des Unternehmens auf den Prüfstand stellt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Blick auf die Lieferkette: Unternehmen, die es mit dem Klimaschutz und den Menschenrechten ernst nehmen, analysieren jetzt ihre Supply- Chains, um Teile zu identifizieren, in denen Defizite offensichtlich werden. In der Folge werden Geschäfte mit langjährigen Partner-Unternehmen hinterfragt, manchmal sogar beendet.

Gleiches gilt für den Bereich der Cyber Security – die Bedrohungslage durch Angriffe auf IT-Systeme nimmt immer weiter zu. Das Thema hat damit laut der Horváth-Studie „CxO Priorities 2022“ dermaßen an Relevanz gewonnen, dass es noch vor der Nachhaltigkeit liegt.

Betrachtet man jedoch die Komplexität von Liefer- und Wertschöpfungsketten zum Beispiel von digitalen Geräten oder auch Dienstleistungen, wird schnell deutlich, dass es sich auch hier um eine Aufgabe unendlichen Ausmaßes handelt. Gleiches gilt für den Bereich der Cyber Security – die Bedrohungslage durch Angriffe auf IT-Systeme nimmt immer weiter zu. Das Thema hat damit laut der Horváth-Studie „CxO Priorities 2022“ dermaßen an Relevanz gewonnen, dass es noch vor der Nachhaltigkeit liegt. Ralf Sauter, Studienleiter und Partner bei der Managementberatung, sagte im Rahmen der Ergebnisvorstellung: „Steigende Cyberrisiken sind ein negativer Effekt der digitalen Transformation, die wiederum Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg ist. Dieser Effekt schlägt erst jetzt langsam durch und kann gerade bei Industrieunternehmen existenzbedrohlich werden – vor allem dann, wenn das Thema in der Vergangenheit vernachlässigt wurde oder aufgrund der Bewältigung von Krisenfolgen einfach nicht mit der notwendigen Priorität verfolgt werden konnte.“

Die in die „Unendlichkeit“ reichende Digitalisierung lässt sich anhand eines Sprungs in die fraktale Geometrie verdeutlichen: Der Mathematiker Benoît Mandelbrot machte 1968 mit einem Aufsatz auf sich aufmerksam, in dem er die banale Frage stellte, wie lang die Küste Großbritanniens sei. Seine Antwort: Kommt drauf an. Arbeitet man mit Mess-Abschnitten von 200 Kilometern, ergibt sich eine Gesamtlänge von rund 2350 Kilometern. Nutzt man 100-Kilometer-Abschnitte, kommt man auf 2775 Kilometer, sind die Mess-Abschnitte nur 50 Kilometer lang, ergeben sich 3425 Kilometer. Kurz gesagt: Je kleinteiliger man misst, desto mehr Küstenstrecke ergibt sich. Betreiben kann man dieses Mess-Spiel bis in die Unendlichkeit. Ganz ähnlich ist es bei Analyse der Lieferketten von komplizierten Produkten: Digitale Tools, die mit ihrer Untersuchung immer weiter in die Tiefe gehen, werden in den Supply-Chains immer neue dunkle Ecken oder zumindest Graubereiche finden. So ambitioniert das Nachhaltigkeitsmanagement eines Unternehmens im Verbund mit seinen Digital-Expert*innen auch an der „Optimierung von Lieferketten“ arbeiten mag – der Prozess endet nie.

Bedarf an Beschäftigten in Informatiker*innen-Berufen

Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft wird aufgrund des Klimaschutzes und der Digitalisierung der Bedarf an Beschäftigten in Ingenieur- und Informatikerberufen in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. Aktuell sei der Ukraine-Krieg mit einer konjunkturellen Eintrübung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage verbunden, was in den kommenden Monaten einen Rückgang der Engpässe in den Ingenieur- und Informatikerberufen verursachen könnte. Zugleich entstehe ein großer Anpassungsdruck bei der Energieversorgung, der wiederum zu einer hohen Nachfrage in den Ingenieurberufen der Energie-und Elektrotechnik führen dürfte.

Digitales Mindset der Fachkräfte nutzen

Wer als Nachwuchskraft in Unternehmen startet, hat echte Vorteile, wenn man dieses Mindset mitbringt und in die Teams einbringt. Digitalisierung ist kein Schalter, der eines Tages umgelegt sein wird. Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Was sich daher entwickeln muss, ist ein besseres „digitales Ökosystem“, wie Florenz Kasen, Digital-Spezialist beim Personalberatungsunternehmen TechMinds, schreibt. In seinem Fachbeitrag „Digitalisierung in Deutschland. Wie digital sind wir 2022?“, abzurufen auf der TechMinds-Homepage, stellt er fest, dass das heimische digitale Ökosystem starke Defizite verzeichnet: „Die schlechte Verfügbarkeit von Risikokapital ist in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich stärker ausgeprägt – es wird kaum in junge Startups investiert.“ Dazu komme, dass die deutsche Bevölkerung grundsätzlich eher negativ gegenüber unternehmerischen Risiken eingestellt sei. „Zudem werden viel zu selten die Kompetenzen der verfügbaren Informations- und Kommunikations- Fachkräfte genutzt – hier liegt Deutschland ganz klar unter dem europäischen Durchschnitt.“

Verstärkt werde das Problem durch den Fachkräftemangel im IT-Sektor: „Der Fachkräftemangel wird nicht ansatzweise ausreichend bekämpft“, urteilt Florenz Klasen. Um die Digitalisierung in Angriff nehmen zu können, müssten nicht nur IT-Professionals aus dem Ausland rekrutiert werden, sondern auch einheimische Talente gefördert werden. Wie gravierend die Situation hierbei ist, macht zudem der Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ des Instituts der Deutschen Wirtschaft deutlich. Darin heißt es, dass der Fachkräftemangel bei Informatikexpertinnen und -experten ein Rekordniveau erreicht habe. Zudem sei die Stellenbesetzung hier am schwierigsten. Dabei, so die Autor*innen, werde „IT-Expertise zur Gestaltung des digitalen Wandels in fast allen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung dringend benötigt“. „Deshalb sollte schon an den deutschen Schulen, Berufsschulen und Hochschulen eine bessere digitale Infrastruktur sowie Pädagogik etabliert werden“, fordert Klasen. Das sei nicht nur wichtig für die Wirtschaft, sondern auch für die Gesellschaft. Seine These: „Digitale Rückständigkeit hinterlässt die Bürger müde und wütend.“ Die Digitalisierung Deutschlands ist also längst nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches Projekt. Wer es – ob in großen Unternehmen, dynamischen Start-ups oder Behörden – voranbringt, erfüllt einen Job mit einem Purpose, der weit über das Geldverdienen hinausgeht.

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