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Jivka Ovtcharova: „Aus dem ‚Internet der Dinge‘ wird nun das ‚Internet der Talente‘“

Die Digitalisierung verändert all unsere Lebensbereiche und sie hat Einfluss auf unsere Gesellschaftsformen, die Technologie, Ökonomie und Wertesysteme. Und sie bietet Frauen ganz neue Karrieremöglichkeiten, wie Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. Jivka Ovtcharova im Interview erklärt. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. Jivka Ovtcharova zeichnet sich als Diplom-Ingenieurin mit zweifacher Promotion in Maschinenbau und Informatik durch ihre Expertise im Informations- und Datenmanagement in der Fertigungsindustrie aus. Sie ist Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI), Direktorin im Forschungszentrum für Informatik Karlsruhe (FZI) und Gründerin und Leiterin des Lifecycle Engineering Solutions Centers (LESC). In ihrem Spezialgebiet „Virtual Engineering“ bietet sie eine integrierte Prozess-System-Sicht auf den gesamten Produktlebenszyklus hinsichtlich Abstimmung, Bewertung und Mensch-Produkt- Interaktion in Echtzeit sowie in virtuellen Gestaltungsräumen an. Dies ermöglicht es unter anderem Entwicklern, Lieferanten, Herstellern und Kunden gleichermaßen, das zukünftige Produkt von der Spezifikation bis hin zu Service und Recycling virtuell zu handhaben und hinsichtlich seiner Eigenschaften und Funktionen realitätsnah zu beurteilen.

Frau Ovtcharova, Sie sind Halterin zweier Doktortitel: einen im Maschinenbau und einen in Informatik. Eine bessere Symbiose ist vor dem Hintergrund der Digitalisierung derzeit wohl nur schwer denkbar – geht es doch in jeder Branche derzeit um die Transformation, also eine jeweilige Branche plus Informatik. Oder?
Ja, die Informatik ist eine Basis- und Querschnittsdisziplin. Im Mittelpunkt der Informatik steht nicht der Computer, wie üblich gemeint, sondern der Digitalcode. Und der ist universell. Anders als in der Analogwelt, in der wir leben und produzieren, geht es in der digitalen Welt um völlig neue Gestaltungs- und Organisationsformen. Aus dem ursprünglichen Kommunikationsmittel für Menschen via Computer hat sich ein digitales „Allesnetz“, das Internet of Things (IoT), entwickelt. Dieses unterstützt allgegenwärtig und uneingeschränkt den Menschen bei seinen Tätigkeiten. Zu allererst drückt sich das in einem natürlichen Kommunikationsstil „Mensch-Computer“ oder „Mensch-Maschine“ aus, der auf Verständnis, Dialog und Assistenz basiert und die Vernetzung von mehreren Kommunikationskanälen voraussetzt. Der digitale Wandel ist im vollen Gang und birgt weitgehende Transformationen in allen menschlichen Lebensbereichen, Gesellschaftsformen, Technologie, Ökonomie und Wertesysteme in sich.

Wie verändert die Informationstechnologie derzeit die Arbeit der Ingenieure?
Die Arbeit der Ingenieure ist stark durch das Denken in Funktionen und Systemen geprägt, sowohl aus Produkt- als auch aus Prozesssicht. So prägt der Begriff „Systems Engineering“ (SE) seit Jahren die Arbeit der Ingenieure hinsichtlich des Zusammenwirkens der Domänen Mechanik, Elektrik, Elektronik und Softwaretechnik – was auch durch den Begriff Mechatronik zum Ausdruck kommt. Dabei handelt es sich um fachdisziplinübergreifende Ingenieurmethoden für die Integration von Systemen, deren Gesamtfunktionalitäten im Voraus festgelegt werden. Im Zeitalter der Industrie 4.0 erlangt jedoch die dynamische Vernetzung und die selbständige Kommunikation der einzelnen Systeme über das Internet eine wachsende Bedeutung. Eine Weiterentwicklung des Systems Engineering stellen die ssogenannten „Cyber Physical Systems“ (CPS) dar. Diese bezeichnen den Verbund mechanischer, elektrischer und elektronischer Softwaresysteme, die über eine gemeinsame IoT-Dateninfrastruktur kommunizieren. Die CPS sind durch einen sehr hohen Grad an Komplexität gekennzeichnet. Deren Anwendung setzen solide Mathematik- und Informatikkenntnisse voraus, genauso praktische Fähigkeiten im Umgang mit Internettechnologien.

Immer wieder ist davon die Rede, dass Menschen mit dem digitalen Mindset benötigt würden. Sehen Sie das auch so?
Ja. Der Begriff „Digitales Mindset“ hört sich noch wie ein Buzzword an, aber wir verbinden damit schon unsere persönliche Einstellung zu der Digitalisierung, die Art wie wir denken, handeln oder fühlen. Dabei geht es auch um unsere Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen im Umgang mit der Digitalisierung, die wechselseitig zusammengehören. Im Ingenieurbereich richten sich die Digitalisierungsansätze immer noch an Maschinen oder Computer aus und nicht an uns Menschen als Mittelpunkt der Betrachtung. Doch durch die rasante Entwicklung der Internetplattformen, sozialen Netzwerke und Online-Dienste wächst entsprechend die Rolle der Menschen in direkter Kommunikation mit anderen Menschen, aber auch mit Maschinen und Computern. Der Schwerpunkt der Betrachtung geht vom „Objekt“ (Maschine, Computer) zum „Subjekt“ (Mensch). Neueste Trends weisen darauf hin, dass sich die Grenze zwischen „Online- und Offline-Sein“ für Menschen auflöst. Dadurch verändert sich die Vorstellung der Menschen von Realität im Raum und in der Zeit. Materielle und immaterielle Welten verschmelzen. Echtzeitfähige Anwendungen, unterstützt durch realitätsnahe Visualisierungstechnologien ermöglichen es, unsichtbare Phänomene sichtbar und frühzeitig validierbar für die Menschen zu machen um dadurch zum Beispiel neue Produkteigenschaften und -funktionen zu verwirklichen.

Doch wie ist es um das „digitale Denken“ der Informatiker bestellt – ist es dort an sich vorhanden oder sind Informatiker vor allem erst einmal die Ausführer von den Ideen der „Kreativen“?
Unsere Einstellung zu der Digitalisierung und dadurch auch unser digitales Denken hängen sehr stark vom konkreten Tätigkeitsfeld ab. Das digitale Denken der Informatiker ist sicherlich stärker durch die Entwicklung von IT-Werkzeugen bestimmt, das heißt durch Grundlagen und Formalismen der theoretischen, technischen und praktischen Informatik. Dabei geht es auch um Kreativität, um ideenreich und gestalterisch Soft- und Hardware zu entwickeln. Bei der „Kreativität“ in den Bereichen der bildenden und darstellenden Kunst geht es um das „Was“, bei den Informatikern um das „Wie“ der Digitalisierung. Wenn ein Schriftsteller den Roman schreibt, schreibt der Informatiker das Drehbuch.

Agilität ist ursprünglich eine Methode der Informationstechnologie, inzwischen aber ein Synonym für die Veränderung ganzer Unternehmenskulturen. Welche Rolle spielen heute agile Methoden, beispielsweise Design Thinking, für Unternehmen?
Bei den agilen Methoden geht es in erster Linie um zwei wichtige Aspekte: flexible Organisations- und Kommunikationsstrukturen sowie Mechanismen der Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz (Ambiguitätsmanagement, Ambiguitätstoleranz). Ohne den Einsatz von Netzwerken, Graphen und den entsprechenden Algorithmen wäre unser Internet-Alltag undenkbar. Unternehmensstrategien bauen traditionell auf Hierarchien. Hierarchische Strukturen sind, wie man aus der Informatik weiß, gut für den Aufbau und den Test von Systemen, deren Funktionalität im Voraus festgesetzt sind. Hierarchien sind auch gut für das Controlling. Sie sind aber nicht gut für den Change. In Bezug auf hohe Priorität, schnelle Reaktionsfähigkeit und Best Practices sind Design Thinking Labs, Makerspaces oder Sandboxes – wie wie in unserem Industrie 4.0 Collaboration Lab praktiziert – einzurichten. Dort lassen sich zum Beispiel neue Ideen leicht testen und durch weitreichende Durchführungs- und Öffentlichkeitsmaßnahmen untermauern.

Die Umsetzung von Ideen im Sandkasten symbolisiert dabei einen Ort des Zusammenkommens zum spielerischen Denken, Kommunizieren und Handeln. Ein Sandkasten wird als Think Tank gesehen, in dem die Menschen über Disziplinen und Organisationen hinweg eine gemeinsame Infrastruktur nutzen, um Lösungen zu kreieren, diese umzusetzen und zu vermarkten. Ganz nach dem Motto: „Face it!“ – auf den Punkt kommen, begreifen, pragmatisch und handlungsschnell vorgehen. Dabei geht es insbesondere um die Fähigkeit, mit Widersprüchlichkeiten, Unterschieden oder mehrdeutigen Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, umzugehen.

Jivka Ovtcharova: Drei Tipps aus meinem Berufsleben

  • Vorne ist wo sich noch keiner auskennt und dafür gibt es keine Roadmap. Unternimm alles, um deine Ideen zu verwirklichen – ganz gleich, was in einer Stellenbeschreibung steht.
  • Überholen geht nur, wenn man die Spur wechselt. Bleibe deinen Zielen treu, aber auch realistisch im Hinblick auf die Wege zu ihrer Erreichung.
  • Folge deiner Intuition bei den Menschen, die du dir aussuchst- und arbeite nur mit den besten.

Und wie steht es um die Veränderungen in der Gesellschaft: Können beispielsweise Frauen von diesen Veränderungen im Hinblick auf ihre Karrierewünsche profitieren?
Ja, denn der Digitalcode hat kein Geschlecht, Alter oder keine Nationalität. Anders als bei den „klassischen“ Analogberufen geht es in der digitalen Welt um völlig neue Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, unabhängig davon, ob es um Frauen oder Männer geht. ‚Die Ideen sind nicht verantwortlich für das, was die Menschen aus ihnen machen‘ hat einmal Werner Heisenberg, Physiker und Nobelpreisträger gesagt. So vielversprechend die Ideen und leistungsfähig die digitalen Technologien auch sein können, von jetzt ab stehen die Menschen und die Rückgewinnung derer unterschiedlichsten Fähigkeiten im Mittelpunkt der Betrachtung. Aus dem ‚Internet der Dinge‘ wird nun das ‚Internet der Talente‘. Durch digitale Bildung und Qualifikation verlieren Vorurteile, Traditionen und physische Randbedingungen – unter anderem die Verfügbarkeit und Präsenz vor Ort – an Bedeutung. Fähigkeiten des vernetzten Denkens, mit dem Blick für das große Ganze, sind wie nie zuvor gefragt.

Und was sind Ihre Tipps für Frauen, die in der doch noch sehr von Männern geprägten Welt der Informatik Karriere machen wollen?
Das Leben ist analog, die Kommunikation dagegen mehr und mehr digital. Dieser Trend entwickelt sich exponentiell und bietet ungeahntes Potenzial für neue Berufe und Qualifikationen. Das allerwichtigste ist, die alten Stereotype abzuschaffen und nach vorne zu blicken. Für ein erfülltes Berufslebens zählen persönliche Leidenschaft und Visionen, nicht irgendein Erfolgsmodell.

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