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„Produktivität und Kreativität gehören zusammen“

Als langjähriger Leiter der psychosozialen Studierendenberatung in Heidelberg kennt der Mediziner Prof. Dr. Rainer Holm-Hadulla die Probleme der Studierenden. Im Interview erklärt der 62-Jährige, warum Kreativität auch in Prüfungssituationen wichtig ist und was verfaulte Äpfel oder seltsam aromatisierte Kräutertees mit seelischer Balance zu tun haben. Interview: André Boße

Zur Person

Prof. Dr. Rainer Holm-Hadulla, Foto: Privat
Prof. Dr. Rainer Holm-Hadulla, Foto: Privat

Prof. Dr. Rainer Holm-Hadulla, geboren 1951 in Peine, studierte Medizin und Philosophie in Marburg, Rom und Heidelberg. Nach einer ärztlichen und wissenschaftlichen Lehrtätigkeit an der Uni Heidelberg übernahm er 1986 die Leitung der Psychosozialen Beratungsstelle des Studentenwerks der Uni Heidelberg. 1996 habilitierte er zum Thema „Psychische Störungen von Studenten und ihre Behandlung“. Neben Beratung und Coaching ist die Kreativität sein zweites großes Forschungsthema, über das er eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen und Bücher geschrieben hat.

Herr Prof. Dr. Holm-Hadulla, wie charakterisieren Sie als Psychotherapeut die Zeit des Studiums?
Das Studium ist für junge Menschen seit jeher eine interessante Entwicklungszeit. Sie beginnt in der Regel in der Phase der Spätadoleszenz – eine besonders kreative Phase, die jedoch auch oft mit Unsicherheit und Orientierungslosigkeit verbunden ist. Es geht während der Studienzeit ja nicht nur um fachlichen Wissenserwerb, sondern auch um die persönliche Weiterentwicklung. Es bilden sich neue Werte und Freundschaften, die häufig ein Leben lang wichtig bleiben.

Kurz: Es ist eine prägende Zeit.
Ja, aber auch eine Zeit des Übergangs. Nicht nur zu Beginn des Studiums können Probleme entstehen. Wenn das Ende des Studiums abzusehen ist, muss man darauf vorbereitet sein, sich von dieser besonderen Lebensphase zu trennen, um sich auf das Berufsleben mit seinen eigenen Chancen und Risiken einzustellen. Hier entdecke ich einen Unterschied zwischen der heutigen Generation und den Studierenden von vor 20 oder 40 Jahren: Die jungen Menschen heute konzentrieren sich im Studium mehr auf das, was Institutionen und Unternehmen von ihnen erwarten. Diese Entwicklung hat Vor- und Nachteile: Es gibt junge Menschen, die dadurch wesentlich fokussierter, direkter und zielsicherer studieren. Andere verlieren durch diese Fokussierung wichtige Freiräume.

Welchen weiteren Unterschied zu früher beobachten Sie in Ihrer Beratungsarbeit?
Die Studierenden kommen heute früher zu uns – ganz klar ein Effekt der Studienreformen nach Bologna. Waren einige Studiengänge früher hoffnungslos unterstrukturiert, sorgt der Bachelor dafür, dass die ersten wichtigen Prüfungen nun schon nach wenigen Monaten anstehen. Die Studierenden bemerken daher eine eventuelle Prüfungsangst sehr viel früher – und kommen schon mit 19, 20 oder 21 Jahren zu uns. Das ist durchaus eine positive Entwicklung, die auch damit zusammenhängt, dass der Gang in eine psychosoziale Beratung heute viel weniger stigmatisiert wird als früher.

Sie sprachen gerade von den Freiräumen, die heute den Studierenden fehlen. Warum sind diese so bedeutsam?
Es ist wichtig, als Student den zeitlichen Freiraum zu besitzen, auch mal bei einem anderen Fach vorbeizuschauen. Zudem benötigen junge Menschen mehr denn je kreative Freiräume. Empirische Studien zeigen, dass die Fähigkeit zu flüssigem, originellem und kombinatorischem Denken seit 1990 deutlich abgenommen hat. Wir benötigen aber nicht nur kompetente Fachleute, sondern auch Menschen, die neue Problemstellungen bewältigen können. Personen, die nicht nur fleißig studieren, weil sie dafür mit guten Noten belohnt werden, sondern eine intrinsische Motivation und Freude am Denken verspüren. Diese Freude geht verloren, wenn man vier Jahre lang nur mit Powerpoint- Folien arbeitet.

Bei aller Kreativität: Zum Studium gehört eine gewisse Produktivität und Effektivität mit dazu. Wie bringt man beides zusammen?
Es ist ein Vorurteil, dass sich Produktivität und Kreativität ausschließen. Im Gegenteil: Beides gehört zusammen. Nur durch konzentriertes Arbeiten erschafft man sich die Voraussetzungen, die nötig sind, um dann das Wissen kreativ neu zu kombinieren. Diese Vorbereitung ist die erste Phase der Kreativität: Man muss etwas wissen und können, um kreativ zu sein. Nehmen Sie Picasso, der schon als Fünfjähriger akribisch immer wieder Tauben zeichnete und anschließend grandiose technische Fertigkeiten entwickelt hat – und dem dann in einer großen Lebenskrise der Sprung in seine „Blaue Periode“ gelungen ist.

Welche Phase der Kreativität folgt auf die Vorbereitung?
Die zweite Phase der Kreativität ist die Inkubation. Also die Zeit, in der meine Ideen zu reifen beginnen und in der festes Wissen labilisiert und manchmal sogar zerstört wird, um es dann wieder neu aufzubauen. Dafür benötigt man kreative Freiräume: Spazieren oder schwimmen gehen, in einem Café herumsitzen oder sich in eine Wolkenformation versenken. Die Konzentrationsareale im Gehirn regulieren herunter, der Ruhemodus des Gehirns wird dominant – und es findet kombinatorisches Denken statt. Es ist wichtig, sich auch in stressigen Prüfungszeiten diese Freiräume zu schaffen.

Warum ist Kreativität wichtig, wenn ich mich auf eine Prüfung vorbereite?
Kurze Konzentrationsunterbrechungen, bei denen ich meine Gedanken schweifen lasse, behindern nicht meinen Lerneffekt. Im Gegenteil: Sie erhöhen meine Leistungsfähigkeit. Man nennt diese Pausen „Random Episodic Silent Thinking“, kurz REST, und wir kennen ihre Wirkung aus dem Alltag: Angenommen, Sie lesen ein Fachbuch und merken, dass Ihnen langsam, aber sicher die Konzentration verloren geht. Sie müssen Sätze zwei- oder dreimal lesen, verlieren immer häufiger den Faden und müssen daher andauernd zurückblättern. Es gibt dann zwei Möglichkeiten: sich am Riemen reißen, was jedoch sehr anstrengend ist. Oder mal kurz für eine Minute aus dem Fenster schauen – und Sie sind anschließend wieder zurück in Ihrem Fachbuch.

Wie kann es gelingen, Konzentration und kreativen Ausgleich miteinander zu verbinden?
Entscheidend ist es, eine Balance aus Konzentration und Gedanken-Schweifen- Lassen herzustellen. Rituale helfen, diese Balance zu finden. Ich kann meine Arbeitsphasen ritualisieren, aber auch die Zeiten, in denen ich mir den Raum nehme, etwas ganz anderes zu machen – wobei diese Zeit genau den gleichen Wert hat wie die Arbeitszeit. Hier kommt also die Disziplin ins Spiel. Sie ist eben nicht die Feindin der Kreativität, sondern ihre Gehilfin. Es gibt viele Künstler, die unglaublich diszipliniert arbeiten. Gabriel García Márquez zum Beispiel. Seine Texte lesen sich wie aus einem Gefühl heraus geschrieben, doch er schreibt hoch ritualisiert, da muss auf seinem Schreibtisch jede Blume am rechten Platz sein.

Angenommen, jemand steht vor der Aufgabe, eine wichtige Denkarbeit zu beginnen – und merkt: Nichts geht. Was raten Sie ihm?
Den Rechner zuklappen. Sich vornehmen, morgen früh um 9 Uhr die Arbeit wieder aufzunehmen. Den Tag dann mit etwas ganz anderem verbringen. Und schließlich am nächsten Morgen um 9 Uhr den Rechner wieder öffnen, um mit der Arbeit zu beginnen.

Und das klappt?
Die Chancen stehen gut, wobei ich davor warnen möchte, das Thema Kreativität zu sehr zu verallgemeinern. Die richtige Balance zwischen Konzentration und Kreativität zu finden, ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Es ist daher wichtig, eigene individuelle Rituale zu finden. Das dürfen auch seltsam riechende Kräutertees sein. Nur die verfaulten Äpfel, wie Friedrich Schiller sie in seinem Schreibtisch aufbewahrte, würden wahrscheinlich die Kommilitonen in der Bibliothek stören. (lacht)

Wie sieht das mit dem entspannenden Wein oder Bier am Abend aus?
Das Problem sind nicht alkoholische Getränke in angemessenen Mengen. Das Problem ist, dass in bestimmten Bereichen – und dazu gehört unter Umständen auch das Studium – destruktive Rituale an Bedeutung gewinnen. Dazu zählen das rauschhafte Trinken, andere Drogen, aber auch Medikamente. Die Ausarbeitung von Ideen wird durch Alkohol und alle bekannten Drogen erschwert oder unmöglich gemacht.

Können Sie einen kurzen Einblick in die Inhalte Ihrer Beratung geben?
Der Studierende und der Berater suchen gemeinsam nach Arbeits- und Freizeitritualen, die individuell angemessen sind. Dabei kann man beobachten, dass es sehr viele mögliche Rituale gibt. Man muss also tatsächlich gezielt die geeigneten auswählen. In der Regel sind feste Arbeitszeiten in einer angenehmen Bibliothek mit persönlichen Gesprächsmöglichkeiten in den Pausen sinnvoll. In der Freizeit sind unterstützende persönliche Beziehungen wichtig, kulturelle Aktivitäten, Sport, lange Spaziergänge. Auch Medienkompetenz ist gefragt: Wie erwähnt, findet kombinatorisches Denken im REST-Zustand statt, doch dieser wird durch affektgeladene visuelle Informationen gestört. Ein weiterer wichtiger Aspekt in unserer Beratung ist es, den jungen Menschen nahezubringen, dass es sich lohnt auch anstrengende Phasen des Lernens anzunehmen. Es lohnt sich, körperlich und geistig aktiv zu sein. Denn eines zeigt sich immer wieder in Studien: Leute, die ihr Leben als Gestaltungsaufgabe auffassen und dabei in der Lage sind, ein gutes Maß an Stress zu akzeptieren, leben zufriedener und gesünder.

Bücher von Rainer Holm-Hadulla

Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung.
Vandenhoeck & Ruprecht 2011. ISBN 978-3525404331. 19,99 Euro

Kreativität – Konzept und Lebensstil.
Vandenhoeck & Ruprecht 2010. ISBN 978-3525490730. 19,99 Euro

www.holm-hadulla.de

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