Prof. Dr. Annelie Keil, ehemalige Dekanin der Universität Bremen, kennt das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Als Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin hat sie erforscht, in welcher Beziehung Gesundheit und Krankheit zu Biografie und Lebenswelt stehen. Ihr Rat für Einsteiger: sich bei aller Leistungsbereitschaft nicht selber aus dem Auge zu verlieren. Das Interview führte André Boße.
Zur Person
Prof. Dr. Annelie Keil, 73 Jahre, studierte in Hamburg Soziologie und Politikwissenschaft. 1968 promovierte sie, arbeitete zunächst als akademische Rätin in Göttingen und wurde 1971 an die neu gegründete Uni Bremen berufen, wo sie eine Professur für Sozial- und Gesundheitswissenschaften antrat. Nach schweren Erkrankungen fokussierte sich die spätere Dekanin auf den Bereich Gesundheitswissenschaft und Krankenforschung in Biografie und Lebenswelt. Annelie Keil ist Autorin mehrerer Bücher und war Expertin in der NDR-TV-Sendung „Gesundheitswerkstatt“. Sie engagiert sich in der Hospiz-Bewegung und erhielt 2004 das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre ehrenamtliche Arbeit in den Bereichen Bildung, Jugend und Gesundheit.
www.anneliekeil.de
Frau Professor Keil, eines Ihrer Bücher heißt „Auf brüchigem Boden Land gewinnen“. Beobachten Sie, dass junge Menschen davon überrascht werden, wie brüchig das Leben ist?
Junge Menschen glauben – wie übrigens auch viele ältere Menschen –, das Leben sei komplett planbar. Dass man alles im Griff haben kann, wenn man sich nur bemüht und gut organisiert. Aber das Leben ist immer wieder unberechenbar. Ein guter Schul- oder Hochschulabschluss zum Beispiel garantiert nicht unbedingt eine erfolgreiche Karriere. Gerade die stärksten Lebensumbrüche melden sich nicht an. Krankheiten ignorieren seit jeher jeden Terminkalender, auch die plötzlich eintretende Liebe kann viel Zeit kosten – und muss dabei der Karriere nicht förderlich sein. (lacht)
Wie überstehe ich Phasen der Orientierungslosigkeit?
Indem ich nach einer neuen Ordnung im eigenen Leben suche. Mit Krankheiten und Krisen umgehen zu können, ist ein Lernprozess. Es geht um die Schwierigkeit, das Leben als Ganzes in seiner ständigen Wandlung zu begreifen, die unterschiedlichen Seiten zueinander in Beziehung zu setzen. Ob im Beruf oder zu Hause, als Mitarbeiter oder als Chef: Ich bin immer in verschiedener Mission unterwegs. Einerseits als jemand, der aus unterschiedlichen Gründen mit oder ohne Erfolg arbeitet, und andererseits als Mensch, der sein Privatleben lebt, Beziehungen pflegt, Kinder oder Eltern versorgt, mit mehr oder weniger Geld auskommen muss.
Ich habe vor einiger Zeit einen Psychosomatik-Workshop mit jungen Führungskräften durchgeführt. Beruflich bestens geschulte Leute, blitzgescheit mit Topkarrieren und ungemein fit darin, eigene Leistungen einzuschätzen, Kollegen zu beurteilen und Konkurrenzen abzuschätzen. Aber familiäre Konflikte? Die Folgen ihrer häufigen Abwesenheit für ihre sozialen Beziehungen? Das waren Tabu- Themen nach dem Motto: Es wird schon gut gehen. Diese Routinen spielen aber eine immens große Rolle in unser aller Leben, und in dem Augenblick, in dem ein Partner nicht mehr mitspielt oder ein beruflicher Konflikt entsteht, kracht das für stabil gehaltene Kartenhaus zusammen. Daher ist es so wichtig, über sich selbst, das engere Umfeld, seine Gefühle und Verhaltensweisen Bescheid zu wissen.
Schützt mich das Wissen über mich selbst auch vor dem, was man als Burnout-Syndrom bezeichnet?
Vor Krankheiten kann uns niemand bewahren. Aber das Wissen kann mich davor schützen, leichtfertig in Fallen zu tappen. Zu einem Burnout können unterschiedliche Probleme führen. Der Begriff selbst mausert sich allmählich zu einem Unwort, zu einer Modediagnose. Vieles, was wir ursächlich nicht gleich erklären können und was mit Erschöpfung, Angstzustand oder plötzlicher Überforderung zu tun hat, wird unter diesem Wort zusammengefasst. Wir sprechen oft von einer Burnout- Erkrankung, ohne überhaupt zu wissen, ob der Betroffene jemals wirklich für etwas gebrannt hat oder welche Gründe ihn in die Leere, die Langeweile oder die Enttäuschung seiner Ideale geführt haben. Gefährdet können auch Menschen sein, die einen zu hohen Leistungsanspruch an sich selber haben, immer mit ihrer Arbeit beschäftigt sind, gar nicht merken, was sie mit sich machen und auch nicht spüren, wenn Beziehungen wegbrechen. Wer erschöpft ist oder nicht den richtigen Arbeitsplatz gefunden hat, ist aber nicht gleich krank. Menschen sind und bleiben für ihr Leben verantwortlich. Sie müssen auf sich selbst achten und ihre Stärken und Schwächen einschätzen lernen.
Was raten Sie diesbezüglich Einsteigern?
Sich mit Biss und Engagement ins Arbeitsleben einzubringen, aber sich dabei selbst im Auge zu behalten. Sich immer wieder entspannt zurücklehnen und für einen Moment darüber nachdenken, wer man eigentlich ist, wo man steht und wohin man möchte. Wie man sich selbst im Weg steht und wo andere Menschen und Lebensziele zum Hindernis werden. Sie werden sehen, wie gut es dem eigenen Wohlbefinden und der Selbsteinschätzung tut, wenn man sich besser kennenlernt, Erfahrungen macht und aus diesen lernt – was übrigens genau die Stärke ist, die mit dem Alter kommt und die man Lebenserfahrung nennt.
Absolventen lernen zum ersten Mal den Rhythmus der modernen Arbeitswelt kennen. Welche Rolle sollte dabei die Pause spielen?
Jeder Mensch besitzt das grundsätzliche Bedürfnis nach Unterbrechung, aber jeder braucht andere Pausen. Es gibt Menschen, die springen morgens aus dem Bett, huschen in die Dusche – und sind danach einsatzbereit. Das ist okay – aber ich bin da anders! (lacht) In Konflikten braucht man manchmal Verhandlungspausen. Wenn es dauerhaft zu laut ist, braucht man zur Abwechslung ein wenig Stille. Wichtig ist, dass man nicht der Versuchung erliegt, jede Minute des Tages möglichst effizient sein zu wollen. Ich kenne Leute, die dauernd online sind, aber nie erreichbar. Die sich gegenseitig nicht mehr zweckfrei begrüßen, sondern nur noch fragen, wer angerufen hat. Diese Menschen leben ohne Pausen – aber auch ohne Bezug zu anderen Menschen. Sie nehmen nur noch sich selbst wahr, verlieren letztlich den Kontakt zur Realität. Das geht langfristig nur auf Kosten der Leistungsfähigkeit und wird zur gesundheitlichen Gefahr.
Buch-Tipp
Unser Leben ist ein fortwährender Prozess der Wandlung, unvorhersagbar und voller Überraschungen. Zwischen Chaos und Ordnung, Anpassung und Widerstand, Freiheit und Abhängigkeit sind wir ohne Navigator in der Fremde unterwegs und herausgefordert, eine einzigartige biografische Welt zu gestalten, die unseren Namen trägt.
Das Buch erzählt von geglückten und gescheiterten Versuchen, inmitten der konkreten Lebenswelt die eigene Person und ihre Biografie zu erfinden. Und wie es gelingen kann, sich trotz Bruchstellen und Krisen immer wieder neu mit dem Leben zu verabreden, sich selbst auf die Spur zu kommen und der eigenen Kraft, Lebenskompetenz und Fantasie zu vertrauen.
Annelie Keil: Auf brüchigem Boden Land gewinnen. Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen. Kösel 2011. ISBN 978-3466309078. 17,99 Euro