Interview mit Dr. André Stahl: Über Karriere und Inklusion

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karriereführer-Autorin Sonja Theile-Ochel im Gespräch mit Dr. André Stahl über seinen Werdegang als Jurist mit starker Sehbeeinträchtigung, die Herausforderungen des Betreuungsrechts und die Schlüsselrolle von Willensstärke und Offenheit.

Zur Person

Dr. André Stahl, Jahrgang 1988, kam mit einer starken Sehbeeinträchtigung auf die Welt: auf einem Auge komplett blind, auf dem anderen fast. Er kämpfte sich durch, machte sein Abitur, studierte danach in Münster Rechtswissenschaften und promovierte. Heute ist er Betreuungsrichter an einem Amtsgericht im Sauerland.

Herr Dr. Stahl, Sie haben mit Ihrer starken Sehbeeinträchtigung Rechtswissenschaften studiert, promoviert und arbeiten als Betreuungsrichter. Was hat Sie dazu bewogen, diesen Weg einzuschlagen, und wie haben Sie es geschafft, Hindernisse zu überwinden?
Mir war es immer wichtig, einen Beruf auszuüben, in dem ich das Gefühl habe, etwas erreichen zu können. Der Beruf des Richters ist sehr vielfältig und man beeinflusst – gerade als Betreuungsrichter – wesentliche Bereiche des Lebens anderer Menschen. Das Betreuungsrecht wird während des Studiums kaum gelehrt. Ich selbst wusste nicht, wie groß seine praktische Bedeutung ist, bevor ich als Betreuungsrichter gearbeitet habe. Für das Überwinden von Hindernissen gibt es kein Patentrezept, jedenfalls kenne ich keins. Es hilft aber, Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein und bei Misserfolgen nicht den Mut bzw. den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu verlieren. Letztendlich entscheidet oft die Willensstärke, ob es einem gelingt, Hindernisse zu überwinden, oder ob man irgendwann aufgibt.

Was umfasst das Tätigkeitsfeld eines Betreuungsrichters?
Als Betreuungsrichter entscheide ich darüber, ob jemand, der mit einer Erkrankung bzw. Behinderung lebt, einen rechtlichen Betreuer bekommt, der diesen bei der Wahrnehmung seiner Angelegenheiten unterstützt. Ich muss auch tätig werden, wenn es beispielsweise Konflikte zwischen dem Betreuten und seinem Betreuer gibt. Darüber hinaus kommt es zu Situationen, in denen psychisch kranke Menschen auf einer geschlossenen psychiatrischen Station behandelt werden müssen, weil sie sich selbst schweren Schaden beizufügen drohen, aufgrund ihrer Erkrankung aber nicht in der Lage sind, dies zu erkennen. Dann geht es um die Frage, ob jemand gegen seinen Willen unterzubringen ist oder zwangsweise Medikamente zu verabreichen sind. Es sind also oft Situationen, in denen die Betroffenen hoch belastet sind und in denen meine Entscheidungen weitreichende Konsequenzen für deren Zukunft haben können.

Wie beeinflusst Ihre Blindheit Ihren Alltag und Ihre Entscheidungsfindung als Richter?
Gibt es spezielle Strategien oder Technologien, die Ihnen bei der Arbeit helfen? Für mich sind Routinen sehr wichtig. Bei bekannten Abläufen bin ich nicht in gleicher Weise auf meine Sehfähigkeit angewiesen wie bei unbekannten Dingen. Ich profitiere davon, dass ich mein Gedächtnis seit frühester Kindheit trainiert habe und daher zumeist in der Lage bin, mir Sachverhalte gut einzuprägen. Denn alles, was in meinem Kopf gespeichert ist, muss ich nicht erst mühsam suchen und nachlesen. Dies kommt mir in meinem richterlichen Alltag zu Gute. Außerdem kann ich auf eine Vorlesesoftware zurückgreifen, wenn ich ein längeres Schriftstück, beispielsweise ein psychiatrisches Gutachten, nicht selbst lesen möchte. Überdies werde ich in meinem richterlichen Alltag durch eine Assistenzkraft unterstützt, die mich beispielsweise zu meinen Terminen begleitet oder handschriftliche Notizen in den Akten vorliest.

Willensstärke entscheidet, ob man Hindernisse überwindet oder aufgibt.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie Menschen begegnen, die von der Gesellschaft oft bemitleidet oder übersehen werden. Glauben Sie, dass Ihre eigene Behinderung Ihnen ein besonderes Einfühlungsvermögen verleiht, um mit diesen Menschen umzugehen?
Ich würde jetzt nicht pauschal behaupten, dass ich über mehr Einfühlungsvermögen verfüge als vollsehende Kollegen. Deshalb denke ich nicht, dass ich als Richter besser (oder schlechter) geeignet bin als andere Kolleginnen und Kollegen. Natürlich kenne ich das Gefühl, in bestimmten Situationen auf Unterstützung angewiesen zu sein. Dieses Gefühl empfinden auch viele Menschen, über die ich als Betreuungsrichter Entscheidungen treffe.

Herausforderungen oder auch Widerstände gab es während Ihrer juristischen Ausbildung?
Während des Studiums gab es natürlich Hindernisse, die ich nicht zu bewältigen gehabt hätte, wenn ich bessere Augen hätte – so war ich nicht in der Lage, PowerPoint- Präsentationen von der Wand zu lesen oder schnell einen bestimmten Paragraphen im Gesetz zu finden. Widerstände oder Vorbehalte in dem Sinne, dass man mich aufgrund meiner Einschränkung abgelehnt hätte, gab es aber keine mehr. Solche Widerstände sind vor allem während meiner Schulzeit aufgetreten, beispielsweise als meine Eltern versucht haben, mich an einer Regelgrundschule einzuschulen.

Wie wichtig ist es Ihnen, dass die Inhalte und Prozesse der Justiz für Menschen mit Behinderungen – nicht nur für Richter, sondern auch für Angeklagte, Zeugen oder andere Beteiligte – zugänglicher werden?
Die Justiz hat die Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen. Dazu gehört auch, dass sie ihre Entscheidungen verständlich erklärt, um bei rechtsuchenden Bürgern auf Akzeptanz zu stoßen. Daher muss es ein wichtiges Anliegen sein, die Inhalte ihres Tätigwerdens so darzustellen und zu erklären, dass jeder – egal mit welcher Einschränkung er lebt – die Möglichkeit hat, diese zu verstehen. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass bestimmte Inhalte in größerer Schrift oder leicht verständlicher Sprache bereitgestellt werden. Gelingt dies nicht, verliert die Justiz ihre Akzeptanz und damit letztendlich auch das Vertrauen der Bürger.

Als Betreuungsrichter müssen Sie schwierige Entscheidungen treffen, die das Leben anderer Menschen direkt beeinflussen. Gehen Sie aufgrund Ihrer Beeinträchtigung anders an Entscheidungen herangehen als sehende Kollegen?
Ich würde behaupten, dass ich mich gut in andere Menschen hineinversetzen kann. Dies erleichtert es mir, einen Zugang zu anderen Menschen zu finden und an ihrer Situation Anteil zu nehmen. Diese Fähigkeit hat aber nicht unbedingt etwas mit meiner fehlenden Sehkraft zu tun und unterscheidet mich daher nicht von vollsehenden Kollegen. Vielleicht gelingt es mir, der einen oder anderen Besonderheit im Leben der Betroffenen ein wenig mehr Verständnis entgegenzubringen, weil ich weiß, dass Lebenswege manchmal ungewöhnlich sein können. Daran, dass ich meine Entscheidungen anders treffe als vollsehende Kollegen oder selbst anders entscheiden würde, wenn meine Augen besser wären, daran glaube ich aber nicht.

Menschen mit Behinderungen, die ähnliche Herausforderungen durchleben wie Sie – was würden Sie ihnen mitgeben, wenn sie sich berufliche Ziele setzen? Gibt es Prinzipien oder Lebensweisheiten, die Ihnen selbst geholfen haben?
Diesen Menschen würde ich mitgeben wollen, dass sie nicht auf eine Einladung der Gesellschaft warten oder jemanden um Erlaubnis fragen sollten, bevor sie sich ihre eigenen Ziele setzen. Sie sollten ihr Leben planen und sich fragen: „Wo möchte ich in zehn Jahren stehen?“ Dann sollten sie damit beginnen, ihren Plan in die Tat umzusetzen, immer einen Schritt nach dem anderen. Wer es schafft, den Fokus zu halten, sich von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen und diszipliniert seine Ziele zu verfolgen, hat eine größere Erfolgswahrscheinlichkeit.

Cover Ohne Ansehen der Person von André StahlRedaktionstipp:

Ohne Ansehen der Person Wie ich als blinder Richter Menschen begegne Bonifatius Verlag, 280 Seiten, 2024, 22 €

Vom Paragraphen zur Palette: Der Weg zur Kunst und Freiheit

Juristin Annika Juds beendete nach über 10 Jahren ihre Karriere als Kanzleijuristin. Aus einem Hobby wurde eine Erfolgsgeschichte: Sie verkauft ihre Porträts heute im vier- bis hohen fünfstelligen Bereich. karriereführer- Autorin Sonja Theile- Ochel protokollierte ihre inspirierende Geschichte. Sie zeigt, dass sich Mut zum beruflichen Neuanfang lohnen kann.

Zur Person

Annika Juds war über acht Jahre lang Anwältin bei Linklaters und Latham & Watkins. 2020 hat sie sich mit ihrer Kunst selbstständig gemacht. www.annikajuds.de

Der klassische Karriereweg nach dem Jurastudium scheint oft vorgezeichnet: Kanzlei, Justiz, Verwaltung. Doch was, wenn dieser Weg nicht der eigene ist? Annika Juds wagte den mutigen Sprung vom Paragraphen zur Palette und etablierte sich erfolgreich als Künstlerin.

Der Wendepunkt: Von der Kanzlei zum Küchentisch

Annika Juds‘ Weg in die Kunst war kein abrupter Bruch, sondern ein organischer Prozess. Nach über zehn Jahren in der Verwaltung und einem berufsbegleitenden Jurastudium arbeitete sie in verschiedenen renommierten Kanzleien, zuletzt im M&A-Kontext mit Fokus auf Arbeitsrecht. Doch trotz äußerem Erfolg fehlte ihr die innere Perspektive. Der Aufstieg zur Partnerschaft schien unrealistisch, und der Gedanke, von externen Faktoren abhängig zu sein, widerstrebte ihr. „Ich wollte das nicht von anderen abhängig machen“, betont Annika.

Im Februar 2020 kündigte sie ihren sicheren Job – ironischerweise zwei Wochen vor dem ersten Corona-Lockdown. Plötzlich fand sie sich mit unerwartet viel freier Zeit konfrontiert. Statt sich in neue juristische Herausforderungen zu stürzen, wandte sie sich einer lange vernachlässigten Leidenschaft zu: der Malerei. Was zunächst als entspannende Freizeitbeschäftigung begann, entwickelte sich zu einer neuen Berufung.

Vom Gap Year zur Galerie: Eine neue Karriere entsteht

Die anfänglich geplanten drei Monate Auszeit dehnten sich auf sechs und schließlich auf ein ganzes Jahr aus. Eine Freundin organisierte ihre erste Ausstellung, und von diesem Moment an schien jede Woche eine neue, positive Entwicklung zu bringen. Eine Galerie zeigte Interesse an ihren Arbeiten, und ein unerwartetes Angebot einer Kreuzfahrtgesellschaft katapultierte ihre Kunst sogar auf die Weltmeere. „Es hat mich kalt erwischt“, erinnert sich Annika an das überraschende Angebot von Aida Cruises. Doch sie ergriff die Chance und verdiente plötzlich beachtliches Geld mit ihrer Kunst.

Nach etwa neun Monaten stand Annika vor der entscheidenden Frage: Jura oder Kunst? Die wachsende Unterstützung ihres Partners und die bereits sichtbaren Erfolge ermutigten sie, den Weg der Kunst mit Konsequenz weiterzugehen. Um sich das nötige unternehmerische Know-how anzueignen, absolvierte sie Online-Fortbildungen in Selbstständigkeit, Marketing und Buchhaltung. „Und dann habe ich es halt gemacht und das mit Vollgas“, fasst Annika ihren Entschluss zusammen.

Leben von der Kunst: Eine realistische Perspektive

Eine der häufigsten Fragen, die Annika gestellt bekommt, lautet: „Kann man von der Kunst leben?“ Ihre Antwort ist ein überzeugtes Ja. „Und zwar sehr gut“, fügt sie hinzu. Sie lebt und arbeitet mitten in München und erzielt in manchen Monaten sogar ein höheres Einkommen als in ihrer Zeit als Anwältin in einer Großkanzlei. „Nach oben gibt es kein Limit“, betont sie selbstbewusst. Der Schlüssel zu ihrem Erfolg liegt ihrer Meinung nach in einem klaren Plan und einer professionellen Herangehensweise. Die zusätzlichen Fortbildungen in betriebswirtschaftlichen Grundlagen waren dabei von entscheidender Bedeutung. Sie ermöglichten es ihr, ihre künstlerische Tätigkeit von Anfang an unternehmerisch zu gestalten und sich nicht nur als Künstlerin, sondern auch als erfolgreiche Unternehmerin zu etablieren.

Als Anwältin bin ich nie gefragt worden, ob ich davon leben kann.

Die größten Herausforderungen: Wertschätzung und Selbstbehauptung Der Wechsel von der angestellten Juristin zur selbstständigen Künstlerin war jedoch nicht ohne Herausforderungen. Die größte Hürde war die Frage der Wertschätzung. Im Gegensatz zur juristischen Expertise, deren Wert in der Gesellschaft allgemein anerkannt ist, wurde Annika oft mit der Erwartung konfrontiert, ihre Kunst und ihre Zeit kostenlos zur Verfügung zu stellen. Annika lernte, standhaft zu bleiben und den Wert ihrer Arbeit selbstbewusst zu verteidigen. Sie lehnte unbezahlte Aufträge ab und positionierte sich erfolgreich als professionelle Künstlerin, deren Werke und Expertise ihren Preis haben. Eine weitere Herausforderung bestand darin, sich selbstbewusst als Künstlerin zu bezeichnen und dies auch nach außen zu kommunizieren. „Ich bin Künstlerin. Punkt“, sagt sie heute mit Überzeugung.

Freiheit und Selbstbestimmung: Der größte Gewinn

Der größte Gewinn des Wechsels in die Selbstständigkeit ist für Annika die neu gewonnene Freiheit und Selbstbestimmung. Obwohl sie nicht weniger arbeitet als zuvor, fühlt sich die Arbeit anders an. „Ich bin immer mit dem Kopf oder mit den Fü.en irgendwie in der Kunst“, beschreibt sie ihren Zustand. Sie kann ihren Arbeitsalltag flexibel gestalten und Entscheidungen ohne Rücksprache mit Vorgesetzten treffen. „Ich mache es halt einfach jetzt, wenn ich da Bock drauf habe“, erklärt sie ihren neuen Arbeitsstil.

Annikas künstlerischer Prozess: Konzept und Handwerk

Annika arbeitet nicht intuitiv, sondern konzeptionell. Das bedeutet, dass sie sich im Vorfeld intensiv mit dem Thema und der Aussage ihrer Werke auseinandersetzt. „Ich überlege mir vorher, was will ich eigentlich sagen? Und die größte Herausforderung ist tatsächlich, wie schaffe ich das, in ein Bild wortlos zu integrieren?“, erklärt sie ihren Ansatz. Ein Beispiel dafür ist ihr Werk „Masterpiece and Work in Progress“, das den Betrachter daran erinnert, dass jeder Mensch sowohl ein Meisterwerk als auch ein Werk in Bearbeitung ist. Die Herausforderung bei diesem Werk lag darin, die Botschaft ohne das typische Portrait, das ihre Arbeiten sonst prägt, zu vermitteln. Stattdessen fokussierte sie sich auf die detailreiche Darstellung einer Bluse, die zum „Masterpiece“ des Bildes wurde.

Annika arbeitet mit Holz als Untergrund, das sie in einer Schreinerei in der Nähe von München fertigen lässt. Darauf trägt sie Acrylfarbe auf und malt anschließend die charakteristischen Portraits mit einem speziellen, wasserfesten Stift von Mitsubishi, den sie bereits aus ihrer Anwaltszeit kennt. Durch die Verwendung von Wasser erzeugt sie subtile Schattierungen und einen 3D-Effekt. Abschließend überzieht sie die Werke oft mit Epoxidharz, um einen glänzenden, hochwertigen Look zu erzielen.

Aktuell arbeitet Annika an einem Großauftrag für eine Villa auf Mallorca, der sie vor neue Herausforderungen stellt. Ein Werk von 2 Metern mal 1,50 Metern bedeutet für sie einen weiteren Schritt aus ihrer Komfortzone.

Netzwerken und Branding: Entscheidende Erfolgsfaktoren

Annika betont die Bedeutung von Netzwerken und Branding, insbesondere für Selbstständige. Sie rät jungen Juristinnen und Juristen, von Anfang an gezielt Kontakte zu knüpfen und sich ein klares Profil zu erarbeiten. „Wenn die Leute klar wissen, wer du bist und wofür du stehst, rufen sie dich eher an“, ist ihre Erfahrung. Ein prägnanter Elevator Pitch und ein Fokus auf ein bestimmtes Gebiet können dabei sehr hilfreich sein. Annika selbst hat erst als Künstlerin aktiv mit dem Netzwerken begonnen und nutzt LinkedIn intensiv für ihre Zwecke.

Das letzte Wort hat: Andreas Föhr, Jurist und Krimiautor

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Zur Person

Andreas Föhr ist Jurist und arbeitete bei der Rundfunkaufsicht sowie als Anwalt. Seit 1991 schreibt er zusammen mit Thomas Letocha Drehbücher für Fernsehserien wie „SOKO 5113“, „Ein Fall für zwei“ und „Der Bulle von Tölz“. Seine Kriminalromane über das Ermittlerduo Wallner & Kreuthner sind preisgekrönt und oft monatelang in den Top 10 der Bestsellerlisten. Zuletzt erreichte sein Roman „Herzschuss“ Platz 1 der Spiegel- Bestsellerliste. Die Fragen stellte Sonja Theile-Ochel

Sie haben einen spannenden beruflichen Weg hinter sich: Vom Anwalt zum gefeierten Autor. Was hat diesen Wechsel ausgelöst?
Nach dem Jurastudium arbeitete ich drei Jahre als Verwaltungsjurist und in einer Kanzlei. Dann fragte mich Thomas Letocha, ein alter Schulfreund, ob wir zusammen Drehbücher schreiben wollten. Ein Produzent suchte Autoren für eine Sketch-Show im Stil von „Spitting Image“, und Thomas wollte nicht allein schreiben. Zwar wurden die angefragten Drehbücher nie realisiert, aber eine TV-Produktionsfirma lud uns ein, an einer neuen Serie mitzuschreiben. So kamen wir ins Fernsehgeschäft. Ich merkte schnell, dass mir das Drehbuchschreiben mehr Freude bereitete als die juristische Arbeit. Damals begannen die privaten Sender, eigene Fiction zu produzieren, was den Bedarf an Drehbuchautoren enorm steigerte. Das waren Goldgräberzeiten.

Welche juristischen Fähigkeiten nutzen Sie heute beim Schreiben?
Mein juristischer Hintergrund half mir nicht nur fachlich, sondern auch in Sachen Lebenserfahrung beim Schreiben. Ich kenne den Alltag in Kanzleien und Behörden, was sich auf andere Arbeitsbereiche übertragen lässt. Zudem ermöglicht mir meine juristische Ausbildung, rechtliche Aspekte präzise und lebensecht darzustellen. Das ist bei Krimis je nach Format mal mehr, mal weniger wichtig. Bei „Der Staatsanwalt“ spielte es eine große Rolle, besonders bei einem Fall mit verzwicktem juristischem Hintergrund. In meinen Romanen um die Münchner Strafverteidigerin Rachel Eisenberg sind juristische Themen noch zentraler.

Was raten Sie jungen Juristen, die eine Karriere abseits der klassischen juristischen Pfade anstreben, beispielsweise im Bereich des kreativen Schreibens oder der Medien?
Einfach machen. Schreiben Sie ein Drehbuch, eine Kurzgeschichte oder einen Romananfang – oder gleich den ganzen Roman. Diese Werke kann man über einen Agenten anbieten. Wenn niemand Interesse zeigt, bleibt die Möglichkeit, das Werk als E-Book bei Amazon zu veröffentlichen. Selbst wenn der Erfolg ausbleibt, verbessert man sich als Autor. Schreiben lernt man durch Schreiben. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.

Zum Buch

Cover TotholzEine Leiche im Wald, eine verschwundene Zeugin und eine antike Kanone: »Totholz« ist der 11. bayerische Krimi aus Andreas Föhrs Feder. Verlag: Knaur, 2024, 16,99 €

Welche Herausforderungen mussten Sie als Autor meistern?
Als Thomas und ich die ersten Drehbuchaufträge erhielten, arbeitete ich abends und am Wochenende, da ich noch in einer Kanzlei angestellt war. Bald wurde es zu viel, und ich kündigte, nahm einen neuen Juristenjob an und bat um dreißig unbezahlte Urlaubstage. Doch das funktionierte nicht, und nach einem Jahr hörte ich ganz auf, als Jurist zu arbeiten. Damit fiel mein festes Gehalt weg. Es dauerte, den Verlust mit Drehbuchaufträgen auszugleichen. Als freier Autor schwanken die Einnahmen stark. Ich hatte 20.000 D-Mark Überziehungskredit und stand einmal an Silvester vor einem Geldautomaten, der mir kein Geld mehr gab. Das machte anfangs nervös. Doch irgendwann etablierten wir uns, und die Einkünfte wurden regelmäßiger.

Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach für Juristen, über den Tellerrand hinauszuschauen und interdisziplinäre Erfahrungen zu sammeln?
Das ist gerade für Juristen existenziell. Jura ist keine isolierte Wissenschaft, sondern beschäftigt sich mit so gut wie allen Dingen, die im täglichen und beruflichen Leben von Menschen vorkommen – und dann auch vor Gericht landen.

E-Paper karriereführer bauingenieure 2024.2025: Nachhaltig und digital – die Zukunft der Baubranche

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Die 3 Trends: New Work, Future Skills, Jobsicherheit

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3 Trends – 3 Fragen an Peter Hübner, Präsident der BAUINDUSTRIE

New Work ist nicht nur Schlagwort. Hochschulabsolventinnen und -absolventen haben Ansprüche an ihre Arbeitgeber. Sind die Unternehmen der Baubranche aus Ihrer Sicht darauf vorbereitet und was können sie bieten? Für uns als traditionsreiche, aber progressive Branche ist „New Work“ eine Herausforderung. Viele Unternehmen haben erkannt, dass sie sich anpassen müssen, um für Hochschulabsolventinnen und -absolventen attraktiv zu sein. Flexibilität, innovative Arbeitsmodelle und eine sinnstiftende Arbeit sind wichtige Erwartungen. Einige Unternehmen bieten bereits flexible Arbeitszeiten, Weiterbildungsprogramme und moderne Technologien an, um die Arbeit zu erleichtern und die Effizienz zu steigern. Es gibt jedoch noch Luft nach oben. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen digitale Lösungen, prozessorientiertes Handeln und die Förderung der Talente der Beschäftigten im Fokus stehen. Wem Verantwortung übertragen wird, wird auch verantwortlich für sein Unternehmen agieren und sich dabei selbst in seiner Tätigkeit finden.

Digitalisierung und Nachhaltigkeit verändern die Arbeit auch in der Baubranche. Was sind die neuen Future Skills, die Absolventinnen und Absolventen mitbringen sollten? Mehr Digitalisierung und unsere Selbstverpflichtung zur Nachhaltigkeit: All das erfordert einen Wandel unserer Arbeitsprozesse und der zugrundeliegenden Fähigkeiten. Nennen Sie es Change-Kompetenz – man muss offen sein für Neues. Digitale Kompetenzen sind essenziell: Absolventen sollten sich mit Building Information Modeling (BIM), digitalen Planungs- und Managementtools sowie Datenanalyse auskennen. Die Kombination aus technologischem Know-how und nachhaltigem Denken wird in der Zukunft der Baubranche entscheidend sein: Ein Verständnis für ökologische Bauweisen und die Fähigkeit, Nachhaltigkeitsstrategien in Projekte zu integrieren sowie die Kenntnis über den Einsatz nachhaltiger Baumaterialien und -methoden sind gefragte Skills. Darüber hinaus sollten Absolventinnen und Absolventen über Projektmanagementfähigkeiten, interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine starke Problemlösungskompetenz verfügen.

Man liest immer wieder von Investitionsstau, Insolvenzen, Firmenpleiten. Warum sollten junge Bauingenieurinnen und Bauingenieure trotzdem in der Baubranche ihre Zukunft planen? Gerade die Bauwirtschaft als Transformationssektor bietet unglaubliche Möglichkeiten, eigene Ideen zu verwirklichen oder an großen Lösungen mitzuwirken – etwa an der Entwicklung nachhaltiger Städte und Infrastrukturen. Damit prägt sie unsere zukünftige Gesellschaft. Zudem bieten der Fachkräftemangel und die Digitalisierung jungen Talenten hervorragende Möglichkeiten, schnell Verantwortung zu übernehmen und sich weiterzuentwickeln. Die Jobsicherheit ist ausgesprochen hoch, die Nachfrage nach Ingenieurinnen und Ingenieuren langfristig ungebrochen. Wer bereit ist, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, hat in der Baubranche immer die Chance, eine sinnstiftende und zukunftssichere Karriere aufzubauen.

Infos zu allen Themen, die die Branche bewegen:

www.bauindustrie.de

Ab zum Bau – gegen alle Widerstände

In der Baubranche gibt es viel zu tun – beispielsweise auch beim Zukunftsthema Digitalisierung. Was da für eine Karriere auf dem Bau spricht? Eine ganze Menge. Wo sich viel tun muss, gibt es für Talente viele Möglichkeiten, etwas zu bewegen. Und klar ist auch: Die Bauindustrie wird zurückkommen, muss aber auch selbst an ihrer Attraktivität arbeiten. Und auch dafür werden Zukunftspioniere gesucht. Ein Essay von André Boße

Eine kurze Presseschau über die Lage der Bauindustrie – und die Laune ist direkt im Keller. „Schwach“ sei die Branche, heißt es in der Thüringer Allgemeinen. Von „Bürokratie und Krisen“ gehemmt, charakterisiert die Märkische Oderzeitung. Kämpfe mit dem Abbau von Förderungen, rechtlichen Vorgaben und einem Entsorgungsnotstand aus Mangel an Deponien. Zwischendrin keine guten Meldungen aus dem Personalbereich: Dem Bau fehle es an Frauen, Fachkräften, Nachwuchs, Azubis. Na, kein Wunder, denkt man. Wer steigt denn jetzt in eine Branche ein, die mit so vielen Herausforderungen zu kämpfen hat?

Wir sollten bedenken, dass aktuell zwar wenig gebaut wird, aber grundsätzlich ein großer Bedarf besteht. Die Zahl der Bauaufträge wird somit früher oder später kräftig zunehmen.

Blick auf Neues statt Downsizing

Zeit für die Gegenstimme. Marvin Ronn ist Co-Geschäftsführer von Topeople, einer auf die Baubranche spezialisierten Personalberatung mit Sitz in Offenbach. In einem Meinungsbeitrag nennt er interessante Argumente, warum ein Einstieg auf dem Bau zu empfehlen ist. Nicht trotzdem, sondern gerade jetzt. Zunächst einmal hält er fest, dass der Begriff von einer Baukrise keine Übertreibung darstellt. Und dass auch nicht zu übersehen sei, dass viele Bauunternehmen darauf reagieren, indem sie ihre Kapazitäten verkleinerten und sich dabei auch von Mitarbeitenden trennten.

Foto: AdobeStock/sarushen
Foto: AdobeStock/sarushen

BIM-Pflicht für Bundes-Aufträge

Um für maximale Transparenz sowie Sicherheit in der Planung und bei den Kosten zu sorgen, ist bei öffentlichen Infrastrukturaufträgen seit 2020 BIM verpflichtend. Seit Anfang 2023 gilt das auch für vom Bund beauftragte Hochbauten. Durch diese Verpflichtung, so erhoffte sich die Politik, würden viele Bauunternehmen die Zeichen der Zeit verstehen und sich BIM auch bei privaten sowie vom Land oder den Kommunen vergebenen Hochbauaufträgen durchsetzen. Doch zeigen aktuelle Studien wie die von PwC, dass hier noch viel Potenzial ist.

Marvin Ronn hält das für eine verständliche, aber strategisch fragwürdige Maßnahme: „Entlassungen werden die Kosten natürlich senken, doch die Erfahrung zeigt uns, dass sich einmal abgebaute Kapazitäten nicht kurzfristig wieder aufbauen lassen. Die Fachkräfte kommen schließlich nicht einfach zurück, wenn sie die Firma ruft.“ Wobei der Experte davon ausgeht, dass genau dieser Moment kommen wird: „Wir sollten bedenken, dass aktuell zwar wenig gebaut wird, aber grundsätzlich ein großer Bedarf besteht. Die Zahl der Bauaufträge wird somit früher oder später kräftig zunehmen.“ Sein Rat an die Branche: „Anstatt auf Downsizing zu setzen, sollten die Bauunternehmen die Krise besser als Chance verstehen und sich auf neue Bautechnologien konzentrieren, die sie durch die schwere Zeit bringen und zugleich zukunftssicher machen.“

Für die Baubranche stehen damit jetzt die wichtigen Weichenstellungen an. Die Richtung ist klar: Der Bau muss erstens bei der Digitalisierung und konkret beim Thema BIM zulegen. Und er muss zweitens weiterhin die Nachhaltigkeit ins Zentrum seiner Arbeit stellen. Digital und nachhaltig – so muss der Bau in Zukunft aufgestellt sein. Wer an etwas anderes glaubt, verkennt die Entwicklungen der Branche und der Gesellschaft.

Es geht voran – zumindest bei der Nachhaltigkeit

Ob das bereits in Ansätzen der Realität entspricht, hat die aktuelle Studie „Die Bauindustrie in Krisenzeiten“ der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC untersucht. Das Fazit nehmen die Autorinnen und Autoren des Reports bereits im Untertitel vorweg: „Fortschritte bei ESG, Stillstand bei der Digitalisierung“ – wobei ESG für Environment, Social, Governance steht, sprich für den Stellenwert von nachhaltigen und ethischen Aspekten. Beginnen wir bei der halbwegs guten Nachricht: „Fortschritte – wenn auch in kleinen Schritten – macht die Bauindustrie im Bereich ESG“, stellt die Studie fest. Vorangetrieben werde diese Entwicklung durch gesetzliche Vorgaben und Anforderungen seitens der Auftraggeber, Kunden und Investoren. „Inzwischen haben 70 Prozent der Unternehmen allgemeine oder projektspezifische Nachhaltigkeitsstandards etabliert“, heißt es in der Zusammenfassung. Diese Entwicklung zeige laut den Autorinnen und Autoren deutlich: „Die Bauindustrie ist durchaus bereit, Veränderungen anzunehmen, wenn klare Anforderungen definiert sind.“

Digitale Bremse

Und damit zum Problemkind, der Digitalisierung. Tools wie BIM und andere IT-Systeme stehen dafür, Effizienz und Produktion zu erhöhen. Indem sie zum Beispiel die Kommunikation unter allen Akteuren vereinfachen, Daten verfügbar machen oder bestimmte Routinearbeiten automatisieren. Zugleich besitzen sie den Vorteil, die Bauindustrie attraktiv für Fachkräfte zu machen: Gerade der Nachwuchs bringt beim Einstieg den Anspruch mit, in einer Branche starten zu wollen, die digitalen Techniken zumindest offen gegenübersteht.

Foto: AdobeStock/stockgood
Foto: AdobeStock/stockgood

Klima schützen, Infrastruktur sanieren

Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) hat in einem Gutachten dargelegt, wie groß das Potenzial der Bauindustrie bei den Themen Klimaschutz und öffentliche Infrastruktur ist. Das Ergebnis kommuniziert das IW auf seiner Homepage: „Um die Klimaschutzziele zu erreichen, müssten in Wohn- und Nicht-Wohnbauten pro Jahr mindestens 33, besser 66 Milliarden Euro investiert werden“, heißt es in der Zusammenfassung der Studienergebnisse. „Im öffentlichen Bau – insbesondere zur dringend benötigten Sanierung und Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und der kommunalen Infrastruktur – müssten bis 2030 die Investitionen jährlich um   rund 75 Milliarden Euro gesteigert werden.“

Doch zeigt die PwC-Studie, dass der Bau in diesem Bereich weiter Nachholbedarf hat: So mache sich beim Thema Digitalisierung im Vergleich zur Vorjahresstudie von 2023 eine „gewisse Ernüchterung breit“, heißt es in der Zusammenfassung: „Trotz der weitreichenden globalen Veränderungen zeigen unsere Studienergebnisse ein nahezu unverändertes Bild zum Vorjahr. Der Digitalisierungsboom scheint vorbei, bevor er richtig Fahrt aufnehmen konnte. Die mit dem digitalen Wandel einhergehenden Chancen werden bisher nicht genutzt.“ Zwar, so die Studienautorinnen und -autoren, würden die Unternehmen weiterhin das Potenzial digitaler Lösungen erkennen. „Doch ihre Fähigkeiten im Umgang mit innovativen Technologien scheinen von Jahr zu Jahr geringer auszufallen.“ Der Hype um die Digitalisierung ebbe ab. „Stattdessen setzt ein gewisser Realismus ein“, heißt es im Report.

Dies ist wenig verständlich, vor allem, wenn man bedenkt, dass in der Baubranche die Digitalisierung – konkret: die Nutzung von BIM – in vielen Bereichen sogar rechtlich vorgeschrieben ist (siehe Kasten S. 12). Dennoch geben laut Studie nur 63 Prozent der befragten Bauunternehmen BIM eine „große Relevanz“, das sind 16 Prozentpunkte weniger als bei der Umfrage im Vorjahr. Woran es liegt? Die Studienautorinnen und -autoren von PwC glauben, dass das Umsetzungsproblem innerhalb der Unternehmen eine große Rolle spielt: Es fehle an Know-how, bedingt durch den Fachkräftemangel – 85 Prozent der befragten Unternehmen benennen dies als Hauptgrund für die BIM- und Digitalbremse. Bauen die Unternehmen nun im Zuge der Krise weiter Personal ab, um Kosten zu reduzieren, verliert die Branche noch weiter an Know-how, nimmt die Attraktivität weiter ab – und droht die Abwärtsspirale weiter an Dynamik aufzunehmen.

Impulse von außen sind gefragt

Wie sich dieser Prozess aufhalten lässt? Denken wir an die vergleichsweise gute Entwicklung im Bereich ESG: Dort waren es laut Studienergebnis bestimmte Akteure, die für eine größere Bereitschaft zum Wandel gesorgt haben, konkret: Auftraggeber, Kunden und Investoren. Sehr wahrscheinlich könnte man in dieser Aufzählung auch die Mitarbeitenden ergänzen: Untersuchungen wie die von der Bertelsmann-Stiftung vorgelegte Studie „Nachhaltigkeit aus Sicht der Arbeitnehmer:innen“ zeigen, dass das Thema Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnt. Ein ähnlicher Hebel muss nun auch beim Thema Digitalisierung bedient werden. Wenn es vielen Bauunternehmen aktuell nicht gelingt, von sich aus den Wandel einzuleiten, helfen Impulse von außen.

In Frage kommen dabei zum Beispiel Pionier-Unternehmen aus der Branche, die bei den Themen Digitalisierung und BIM bereits sehr gut aufgestellt sind. Diese sollten sich nun der Aufgabe stellen, weitere Baufirmen dazu zu motivieren, es ihnen gleichzutun, indem sie bei der Umsetzung der Digitalisierung eine positive Dynamik entwickeln. Und zwar auch aus Eigeninteresse der Zukunftspioniere heraus, schließlich profitieren von einer komplett digitalisierten Wertschöpfung am Bau alle Akteure. Auch die digitalen Vorreiter. Diese können auf diese Art auch die Aufgabe übernehmen, ein wenig Positivität ins Bauwesen zu bringen: Wer heute digitale Erfolgsgeschichten erzählt, ob im Netz, in Fachzeitschriften und Karrierenetzwerken oder auf Kongressen, hilft dabei, die Branche aus dem Stimmungsloch zu holen. Die Bauindustrie braucht Best-Practice-Beispiele für gelungenen Wandel!

Wer heute digitale Erfolgsgeschichten erzählt, ob im Netz, in Fachzeitschriften und Karrierenetzwerken oder auf Kongressen, hilft dabei, die Branche  aus dem Stimmungsloch zu holen.

Auch hier ist der Nachwuchs gefragt, der im Change- Management erste gute Erfahrungen gesammelt hat. Wer also Lust hat, wirklich schnell etwas zu bewegen, dem bietet die Bauindustrie aktuell beste Chancen. Der Bedarf an digitalem Know-how ist groß. Wem es als Youngster gelingt, mit guten Argumenten die Vorzüge des Wandels darzustellen, wird erkennen, wie attraktiv es sein kann, in eine Branche einzusteigen, in der das eigene Können und Wissen rar ist.

Der Bau wird wiederkommen

Das alles wäre nichts wert, wenn die Krise des Bauwesens eine wäre, die bliebe. Zum Beispiel, weil die Branche selbst keine Zukunftsaussichten hat. Wer jedoch die Nachrichten bei Themen wie Straßen- und Wohnungsbau verfolgt oder auf den Brücken oder in den kleinen und großen Städten des Landes unterwegs ist, der weiß: Das ist hier nicht der Fall. Es muss gebaut werden, im großen Stil, im Tief- und Hochbau. Und es wird auch gebaut werden, dazu gibt es schlicht keine Alternative. Jedoch – auch das zeigt die Krise: Es wird nicht mehr so gebaut wie immer. Sondern nachhaltiger und digitaler. Beides sind zwar notwendige, aber keine schlechten Veränderungen. Deshalb: Der Bau ist für den Nachwuchs deutlich attraktiver, als es das aktuelle Nachrichtenbild vermittelt. Was die Branche braucht, sind Menschen und Unternehmen mit Gestaltungskraft. Dann klappt’s auch mit dem Weg, raus aus der Krise.

Foto: AdobeStock/spiral media
Foto: AdobeStock/spiral media

Frauen fördern

Der Bauindustrie fehlt es an Azubis und Fachkräften – besonders aber fehlt es ihr an Frauen. Eine statistische Analyse des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie zeigte, dass lediglich 14 Prozent der Beschäftigten im Wirtschaftszweig Baugewerbe weiblich sind. Bei keiner anderen Branche ist der Anteil so niedrig. Bei den Studierenden des Fachs Bauingenieurwesen liegt der Frauenanteil laut Studie bei 30 Prozent, bei den Absolventinnen und Absolventen, die schließlich in den Unternehmen arbeiten, bei 28 Prozent. Ein Ungleichgewicht herrscht laut Befragung bei der Bezahlung: Der Hauptverband informiert, dass das Gehaltsniveau von hochqualifizierten Frauen nur bei 83 Prozent (Expertin) bzw. 86 Prozent (Spezialistin) im Vergleich zum Niveau der männlichen Kollegen liegt.

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Katharina Klemt-Albert im Interview

Digitalisierung als Motor für Effizienz und Nachhaltigkeit. Der Bau einer 450 km langen Hochgeschwindigkeitsstrecke durch die Wüste Saudi-Arabiens oder die Beratung des Verkehrsministers von Brasilien zum Open Access des brasilianischen Schienenverkehrsnetzes sind zwei Megaprojekte, die Dr. Katharina Klemt-Albert als Führungskraft bei der Deutschen Bahn AG verantwortet hat. 2016 wechselte sie in die Wissenschaft. Als Universitätsprofessorin setzt sie sich für die nachhaltige Digitalisierung in Bau und Infrastruktur, für Automatisierung und Robotik im Bauwesen sowie die digitale Transformation ein. Warum das wichtig ist und wie das gelingen kann, verrät sie im Interview. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Katharina Klemt-Albert studierte Bauingenieurwesen an der Ruhr- Universität Bochum und promovierte an der TU Darmstadt. Ab 2001 verantwortete sie bei der Deutschen Bahn AG zahlreiche Groß- und Megaprojekte. 2016 folgte Dr. Klemt-Albert einem Ruf der Leibniz Universität Hannover. Im gleichen Jahr gründete sie die albert.ing GmbH, einen spezialisierten Anbieter für Digitale Transformation und BIM. 2021 wurde sie an die RWTH Aachen University als Direktorin des Instituts für Baumanagement, Digitales Bauen und Robotik im Bauwesen berufen. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der nachhaltigen Digitalisierung und Automatisierung der Baubranche mit einem integralen und interdisziplinären Ansatz. Sie ist Sprecherin des Präsidiums von buildingSMART Deutschland.

Sie haben in den 2000er- und 2010er-Jahren diverse internationale Megaprojekte im Bereich der Bahn verantwortet. Verfolgen Sie noch, wie diese Projekte heute laufen?
Natürlich, das ist ja das Spannende an unserem Beruf, dass wir etwas bauen und gestalten können, das viele Jahrzehnte oder vielleicht noch länger hält. Es ist erfüllend zu sehen, wie sich diese Projekte entwickeln und welchen Einfluss sie auf die Infrastruktur und Mobilität in den jeweiligen Regionen haben.

Warum haben Sie sich 2016 für einen Wechsel in die Forschung und Wissenschaft entschieden?
Durch meine Erfahrungen in der Praxis habe ich die Chancen der Digitalisierung erkannt, die mich schon damals fasziniert haben. Ich habe mich für einen Wechsel entschieden, weil ich dadurch die Chance hatte und habe, etwas Neues aufzubauen und aktiv mitzugestalten. Durch unsere Arbeit in der Wissenschaft können wir einen Beitrag dazu leisten, die Digitalisierung der Baubranche in Deutschland voranzubringen. Die Kombination aus Forschung und Lehre hat mich besonders gereizt, denn so kann ich gleichzeitig neue Erkenntnisse gewinnen und mein Wissen weitergeben. Es ist faszinierend, nicht nur selbst Neues zu lernen, sondern auch junge Ingenieurinnen und Ingenieure auszubilden und zu begeistern.

Geht man an einer Baustelle entlang, ist dort noch immer wenig von Digitalisierung zu sehen. Täuscht das?
Das stimmt, im Vergleich zu anderen Sektoren ist die Bauindustrie noch wenig digitalisiert. Das hat aber seine Gründe: Anders als in der Produktionsindustrie sind Bauwerke in der Infrastruktur oder im Hochbau fast immer Unikate. Die Arbeit auf der Baustelle ist daher noch sehr individuell und manuell geprägt. Dennoch hat es in den letzten Jahren wichtige Entwicklungen in der Branche gegeben. In der Planung werden heute vermehrt digitale Prozesse eingesetzt, was viele Arbeitsabläufe beschleunigt und vereinfacht hat.

In der Ausführung hingegen besteht noch Bedarf an Digitalisierung und Automatisierung, aber auch hier sind interessante Fortschritte zu erkennen: Im Stahl- und Holzbau ist die computergesteuerte Herstellung von Bauteilen durch Vorfertigung im Werk bereits weit verbreitet. Dank digitaler Planung auch in der Ausführungsphase können innovative Technologien wie 3D-Druck und Robotik bereits auf der Baustelle eingesetzt werden. Diese Impulse aus der digitalen Planung und die Vorteile der industriellen Einzelfertigung werden nun zunehmend auf die Baustelle übertragen, um durch digitalisierte und automatisierte Fertigungsprozesse hochindividualisierte Bauwerke produktiver, effizienter und nachhaltiger herstellen zu können.

Alle wünschen sich, dass gebaut wird – aber bitte nicht vor der eigenen Haustür! Wie können digitale Plattformen wie BIM dabei helfen, mehr Akzeptanz für Bauprojekte zu gewinnen?
Im Zuge des Strukturwandels sind Bauprojekte und Veränderungsprozesse notwendig, die derzeit vermehrt auf Widerstand stoßen, teils weil die Öffentlichkeit sich nicht eingebunden fühlt. Um die Akzeptanz der Bevölkerung für diese Bauvorhaben zu gewinnen, sind Kommunikationsprozesse notwendig, die einerseits das Projekt erklären und andererseits eine partizipative Gestaltung durch die Bevölkerung ermöglichen. In diesem Bereich führen wir zum Beispiel ein Forschungsprojekt durch, das die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Gestaltung einer nachhaltigen und öffentlichen Mobilität im Zuge des Strukturwandels fördert.

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Katharina Klemt-Albert, Foto: Anna Wawra
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Katharina Klemt-Albert, Foto: Anna Wawra

Dazu können digitale Bauwerksmodelle genutzt werden: Beispielsweise kann die Öffentlichkeit über eine Beteiligungsplattform frühzeitig erste Einblicke in Planungsoptionen erhalten und sich aktiv in die Planung einbringen. Darüber hinaus bieten digitale Methoden unter anderem die Möglichkeit, die verschiedenen Bauphasen und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung, wie zum Beispiel Verkehrssperrungen oder Nachtarbeiten, bereits in der Planungsphase zu simulieren und damit genauer zu planen. Auch Bauzeiten und Kosten von Maßnahmen können bereits in den früheren Planungsphasen viel genauer bestimmt werden, was für die Akzeptanz solcher Maßnahmen in der Bevölkerung einen enormen Faktor darstellt.

Welche aktuellen Innnovationen im Bereich des digitalen Bauens und der Robotik im Bauwesen faszinieren Sie derzeit besonders?
Aktuell befinden wir uns in einer wirklich spannenden Phase. Die Baubranche, die traditionell durch manuelle Arbeitsschritte und Entscheidungen vor Ort geprägt war, bewegt sich zunehmend in Richtung interdisziplinärer digitaler Planung. Um das volle Potenzial der Digitalisierung auszuschöpfen, müssen digitale Modelle für die Steuerung von Maschinen nutzbar gemacht werden. Dies gilt sowohl für die Vorfertigung als auch für die (Teil-)Automatisierung auf der Baustelle. Zum Beispiel können Roboter eingesetzt werden, wo Arbeiten für den Menschen gefährlich, körperlich anstrengend oder einfach schwierig sind. Da gibt es noch viel Potenzial.

Wir merken jetzt schon, dass die Digitalisierung sich positiv auf die Attraktivität der Baubranche auswirkt. Jüngere Ingenieurgenerationen sind offener für Veränderungen und wollen an innovativen Lösungen für die Gesellschaft mitwirken.

Inwieweit öffnet die Digitalisierung des Baus die Disziplin für eine junge Generation an Bauingenieurinnen und -ingenieuren auf der Suche nach Jobs mit Purpose?
Wir merken jetzt schon, dass die Digitalisierung sich positiv auf die Attraktivität der Baubranche auswirkt. Jüngere Ingenieurgenerationen sind offener für Veränderungen und wollen an innovativen Lösungen für die Gesellschaft mitwirken. Nachhaltigkeit ist für sie ein sehr wichtiges Thema. Die Digitalisierung wird dazu beitragen, die negativen Auswirkungen des Bauens auf die Umwelt zu reduzieren. Durch intelligente Planung können Bauprozesse über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks – von der Errichtung über die Sanierung bis hin zum Abriss – optimiert werden. Die digitale Dokumentation aller verwendeten Materialien ermöglicht zudem die Wiederverwendung und das Recycling von Baustoffen am Ende der Lebensdauer eines Gebäudes. So kann effizienter und ressourcenschonender gearbeitet werden, was unseren Beruf für junge Menschen attraktiver macht.

In der Baubranche haben junge Ingenieurinnen und Ingenieure die Möglichkeit, direkt an Projekten mitzuarbeiten, die das Leben der Menschen und ihre Umwelt verbessern. Die Digitalisierung eröffnet ihnen neue Wege, um durch innovatives und effizientes Planen positive Veränderungen herbeizuführen, z. B. bessere Wohnungen, gute und nachhaltige Mobilität und schönere Schulen. Dadurch ergeben sich neue Chancen für junge Mitarbeitende, die sich für einen Beruf mit gesellschaftlichem Nutzen interessieren, denn Bauen ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Lebensweise.

Bei welchem Bau eines Bauwerks aus der Geschichte der Menschheit wären Sie sehr, sehr gerne beteiligt gewesen – und warum?
Der Aachener Dom wäre ein Bauwerk, an dem ich sehr gerne mitgewirkt hätte. Ich hätte gerne die Herausforderungen und die innovativen Techniken kennengelernt, die im 9. Jahrhundert erforderlich waren, um ein solch beeindruckendes und symbolträchtiges Bauwerk zu errichten. Außerdem wäre es eine einzigartige Gelegenheit gewesen, an einem Bauwerk mitzuwirken, das so viele Jahrhunderte überdauert hat und ein Zeugnis der europäischen Geschichte und kulturellen Entwicklung darstellt.

Kuratiert

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Digitalisierung der Bauindustrie

Die Deutsche Bauindustrie hat ein Leitbild zur Digitalisierung entwickelt. Anlass ist es, Lösungen für die großen gesellschaftlichen Aufgaben zu finden: Nachhaltigkeit, Klimagerechtigkeit, Wohnungsbau, Kreislaufwirtschaft, Energie- und Verkehrswende, Fachkräftemangel und demografischer Wandel. Eine konsequente Digitalisierung aller Prozesse bei allen Akteuren soll helfen, den erforderlichen Anstieg der Produktivität und Nachhaltigkeit zu erreichen.

Cashewschalen als Maltene

Mit Biobitumen CO₂-reduzierten Niedrigtemperaturasphalt herstellen – das ist das Ziel, das Strabag gemeinsam mit dem GreenTech-Start-up „B2Square“ verfolgt. Statt erdölbasiertem Bitumen werden die Komponenten Asphaltene und Maltene im Instant-Verfahren als mindestens gleichwertiger Bindemittelersatz verwendet. Die Asphaltene gewinnt B2Square aus einem Kohlenwasserstoff-Harz, als Maltene kommt ein Extrakt aus gepressten Cashewschalen zum Einsatz. Die positiven Effekte: Die Produktionswärme kann deutlich verringert werden, es entsteht – ohne weitere Verfahrensänderungen – ein temperaturabgesenkter Asphalt, der CO₂- Fußabdruck des Asphalts wird insgesamt reduziert. Durch die niedrige Einbautemperatur wird zudem die Arbeitssicherheit erhöht, da die Bauteams vor Ort weniger Aerosolen ausgesetzt sind.

Die Bauwirtschaft in Zahlen

Ende 2023 gab es in den mehr als 70 verschiedenen Bauberufen rund 116.000 offene Stellen für Personen mit entsprechender Ausbildung – fast doppelt so viele wie Ende 2010. Besonders viele Fachkräfte werden in der Bauelektrik und dem Tiefbau gesucht. Beide Jobs zählen zu den fünf größten Engpassberufen in Deutschland.

Skills für die Zukunft

Die Bauwirtschaft befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Es herrscht Fachkräftemangel. Daher müssen die Ressourcen effizienter genutzt und der Nachwuchs gezielter in digitalen Fähigkeiten gefördert werden. Denn: Mit digitalen Methoden, Tools und Prozessen lassen sich Teile der zu bewältigenden Aufgaben leichter, effizienter und effektiver erledigen. So beschreibt Dr. Cornelius Preidel, Vorstandsvorsitzender von buildingSMART Deutschland und Professor an der Hochschule München, die aktuelle Situation in Folge 15 des Podcasts bSD Talk mit dem Titel „Frischer Wind für die Ausbildungslandschaft“. Worauf es in Zukunft ankommt: ingenieurtechnisches Wissen, Kompetenzen in Richtung Software, die Fähigkeit zur kollaborativen und kommunikativen Zusammenarbeit, Offenheit für neue Themen. Welche weiteren Skills in Zukunft gebraucht werden, verraten die weiteren Interviewpartner in dem Podcast.

von Dr. Marion Steinbach

„Schwimmoper“ Hamburg Sanierung mit Fingerspitzengefühl

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Die Alsterschwimmhalle ist einer der größten Schalenbauten Europas. Da das 1973 eingeweihte Gebäude an die Oper in Sydney erinnert, wird sie von den Hamburgern liebevoll „Schwimmoper“ genannt. Mit Spannweiten von bis zu 96 Metern zählt das spektakuläre Schalendach bis heute zu den weltweit größten seiner Art. Das mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Gebäude dürfte in der bestehenden Form nicht mehr gebaut werden. Jedoch genießt es Bestandsschutz, solange es nicht verändert wird. Da wundert es wenig, dass die Sanierung die Konstrukteure vor einige Herausforderungen stellte. Von Dr. Marion Steinbach

Die Alsterschwimmhalle im Überblick

Grundfläche: 4.500 qm

Schalendach: 96 Meter Spannweite

Höhe: bis zu 24 Meter

Dicke: teilweise 8 cm

Drei Stützfundamente

Beteiligte Unternehmen (Auswahl)

Bauherrschaft Bäderland Hamburg GmbH

Architekten gmp · Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Hamburg

Tragwerksplanung schlaich bergermann partner (sbp)

Haustechnik/ TGA Eneratio GbR

Bauphysik von Rekowski und Partner mbB (vRP)

Fassadenberatung DS-Plan GmbH

Brandschutz Ing. T. Wackermann GbR

Landschaftsplanung Lichtenstein;Landschaftsarchitekten & Stadtplanung PartGmbB

 

Vollständige Liste der beteiligten Firmen: https://www.gmp.de/ash

Die Schalenkonstruktion des Hallendaches, das aus zwei hyperbolischen Paraboloiden besteht, schwingt sich auf einer Grundfläche von 4.500 Quadratmetern an den Spitzen 24 Meter weit in die Höhe. Gehalten wird sie von drei Diagonalstützen. Zwei der drei Stützenfundamente sind durch ein Zugband unterhalb des Schwimmbads verbunden.

Alarm bei Erschütterung

Die große Herausforderung hinsichtlich der Statik bestand darin, Teile des Schwimmbades abzureißen und neu zu bauen, ohne dabei das bestehende Dach zu verändern oder durch die Bauarbeiten zu sehr zu erschüttern. Schließlich ist die Dachschale teilweise nur acht Zentimeter dünn. Schale und Zugband durften während der Baumaßnahmen nicht erschüttert werden. Das Zugband zwischen den Fundamenten durfte nicht berührt werden und musste während der gesamten Bauarbeiten ständig überwacht werden. Bei zu großen Erschütterungen des Bandes wurde Alarm ausgelöst und die Baustelle war sofort zu evakuieren. Dies geschah während der Abrissarbeiten manchmal mehrfach am Tag.

In enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz

Die Sanierung erfolgte in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz, beispielsweise auch bei der Festlegung der neuen Abdichtung für das Dach. Es wurde ein Kathodisches-Korrosionsschutz-System (KKS) installiert. Es schützt das Dach mit Schwachstrom gegen Korrosionsschäden durch das aufsteigende Chlor, die hohe Luftfeuchtigkeit und die warmen Temperaturen im Schwimmbad. Um die originalen Aluminium-Fachwerkstützen der Glasfassade erhalten zu können, wurde ein neues, belastungskonformes Teleskop-Kolben-Auflager als beweglicher Anschlusspunkt zwischen Fassade und Dach entwickelt. So können temperatur- und windbedingte Verformungen der Dachschale ausgeglichen werden.

Einsatz von BIM

Bei der Sanierung der Alsterschwimmhalle setzten das Team und die Fachplanenden Building Information Modeling (BIM) ein, um die komplexen Anforderungen effizient zu bewältigen. Die Planung begann mit der Modellierung gemäß der Bestandsunterlagen. Diese wurde präzisiert durch wiederholten Abgleich mit Punktwolken Aufmaßen. Dabei werden mithilfe von 3D-Scannern Punktwolken erzeugt, die eine sehr genaue Konstruktionsgrundlage für ein Gebäude simulieren.. Tragwerksplaner, Haustechniker, Fassadenplaner und Planer der Unterdecke arbeiteten gemeinsam im BIM-Modell. Das ermöglichte eine nahtlose Integration aller Gewerke. Kollisionsprüfungen anhand des Koordinationsmodells halfen, potenzielle Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu beheben. So erfolgte zum Beispiel die Schalplanerstellung basierend auf dem Architekturmodell.

Auch die Bauablaufplanung wurde modellbasiert abgestimmt. Informationen zu Abbruch- und Erstellungsterminen wurden direkt an den Modellelementen verknüpft, und Visualisierungen der Bestandseingriffe und Zwischenzustände dienten der Abstimmung mit allen Beteiligten. Unter Wahrung der Balance zwischen Erhalt, funktioneller Umgestaltung und Nutzungsanpassung der Schwimmhalle wurde ihre bauliche Identität erhalten. Im November 2023 wurde sie nach dreijähriger Sanierung wiedereröffnet.

Weltweit erste Netzwerkbogenbrücke mit Carbonhängern im Eisenbahnverkehr

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2024 wurde das größte brandenburgische Brückenvorhaben abgeschlossen. 130 Meter spannt sich die Netzwerkbogenbrücke stützenfrei über die Oder bei Küstrin. An die Strombrücke schließen sich drei Vorlandbrücken an. Insgesamt erreicht die Brücke so eine Länge von 260 Metern. Das Netzwerk aus sich kreuzenden Zugstäben im großen Brückenbogen besteht aus kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen (Carbon). Damit ist das neue Bauwerk die weltweit erste Netzwerkbogenbrücke mit Carbonhängern im Eisenbahnverkehr. Von Dr. Marion Steinbach

Die Oderbrücke an der deutsch-polnischen Grenze zwischen Küstrin-Kietz und Kostrzyn wurde bereits 1867 errichtet. Die Eisenbahnüberführung als Teil der sogenannten Ostbahn ist ein Symbol für das Zusammenwachsen Europas und ein Ort, an dem sich Deutschland und Polen in der Mitte eines Flusses begegnen. Die neue Oderbrücke ist – wie die alte Brücke – zweigleisig und zudem auf die nachträgliche Elektrifizierung der Strecke ausgelegt. Sie besteht aus einem 130 Meter langen Stromfeld. Damit ist der überspannte Bereich des Flusses gemeint. Daran schließen sich drei Vorlandbrücken an. Dabei handelt es sich um Brücken über den Bereich, der zum Flussbett gehört und nur zeitweise mit Wasser gefüllt ist. Diese Vorlandbrücken reichen bis zur alten Küstriner Festungsmauer am Ostufer.

Insgesamt verfügt das Bauwerk über 88 Hänger. Jeder Hänger wiegt 96 kg, kann aber eine Last von bis zu 300 Tonnen tragen. Durch den elastischen Stoff und die innovative Bautechnik besteht das Bauwerk aus einer materialsparenden und umweltfreundlichen Konstruktion. Sowohl bei der Planung als auch dem Bau benötigte die neuartige Konstruktion viel Fingerspitzengefühl. Eine große Rolle spielten vor allem die Umwelteinflüsse, genauer gesagt die nicht vorhersehbaren Pegelstände der Oder. Bereits beim Abbau der alten Brücke, beim sogenannten Ausschwimmen, hat sich gezeigt, dass die Wasserstände der Oder eine größere Herausforderung darstellten als ursprünglich durch die Expertinnen und Experten angenommen. Um mögliche Risiken für den Aufbau der neuen Brücke zu minimieren, wurde die Bautechnologie so angepasst, dass das Einschwimmen und der Einbau unabhängig vom Wasserstand der Oder ablaufen konnten.

Ziel des Infrastrukturprojekts ist es, die Streckenkapazitäten zu erhöhen und deutlich
verkürzte Fahrtzeiten zu ermöglichen.

Nach knapp zweijähriger Bauphase erfolgte im Herbst 2023 der Einschub der 130 Meter langen Stahlkonstruktion der neuen Brücke über die Oder. Beim Einschub glitt die neue Brücke über Wippen in ihre endgültige Position. Nach weiteren Arbeiten in den Folgemonaten wurde die Brücke im Juli 2024 samt der Odervorflutbrücke als leistungsfähige Grenzverbindung in Betrieb genommen.

Ziel des Infrastrukturprojekts ist es, die Streckenkapazitäten zu erhöhen und deutlich verkürzte Fahrtzeiten zu ermöglichen. So können Züge statt mit bisher 30 km/h das Bauwerk mit einer Geschwindigkeit von bis zu 120 km/h passieren.

Ausschreibung Brückenwettbewerb: 2015
Baubeginn Hauptbauarbeiten: 16. November 2021
Inbetriebnahme:td> 2024
Gesamtlänge (drei Vorlandbrücken, Stromfeld): 260 m
Länge Netzwerkbogenbrücke (Stromfeld): 130 m
Gewicht der alten Brücke: 200 t
Gewicht der neuen Brücke: 1.000 t
Gleise 2
Elektrifizierung berücksichtigt
Zulässige Geschwindigkeit: 120 km/h
Materialverbrauch: Beton 10.400 m3, Stahl 2.350 t
88 Carbon-Hänger: 1.150 m
Verschubtechnologie: Self-Propelled Moving Transport
Zuglinien: 2024 RB 26
Gesamtwertumfang: rund 50 Mio. Euro
Architekten: Schüßler-Plan und Knight
Architects
Ausführungsplanung: Schüßler-Plan und schlaich
bergermann partner (sbp)
Bauausführung: Sächsische Bau GmbH
Mammoet Deutschland GmbH
Mostostal Wechta Sp.z.o.o
Buchwald GmbH
Gerüstbau Otto GmbH
Peri Vertrieb Deutschland GmbH

FOUR: Vertical City mit DGNB-Zertifikat

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FOUR Frankfurt ist ein herausragendes Hochhausquartier mitten in der Frankfurter Innenstadt mit einem europaweit einzigartigen Nutzungskonzept: Wohnungen, Hotels sowie vielfältige Gastronomie-, Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten sollen in den vier Türmen untergebracht werden. 2024 sind die ersten Mieter eingezogen, 2025 soll der Gebäudekomplex fertig sein. Von Dr. Marion Steinbach

Zahlen und Fakten

2018 Die ehemaligen Gebäude der Deutschen Bank werden abgerissen.
2019 Beginn der Tiefbauarbeiten. Aushebung der Baugrube sowie Erstellung der unterirdischen Stockwerke und Tiefgarage.
2022 Beginn Hochbau
2024 Einzug der ersten Mieter
2025 Fertigstellung

 

233 Meter misst der Turm 1 und ist eines der höchsten Gebäude Deutschlands.
53 Stockwerke über der Stadt liegt die Dachterrasse in Turm 1
213.000 Quadratmeter Geschossfläche
97.000 Quadratmeter Büroflächen
Ca. 300 Firmen waren am Bau beteiligt.

Die vier Wolkenkratzer fußen auf einem mehrstöckigen Podium, das den Kern des neuen Viertels bildet. Auf den ca. 213.000 Quadratmetern werden bis zu 1.000 Menschen wohnen und ca. 4.000 Beschäftigte arbeiten.

Vier Türme zum Wohnen, Arbeiten und Leben

Turm 1 ist mit 233 Metern eines der höchsten Gebäude Deutschlands. Auch der zweite Turm stellt einen Rekord auf: Er zählt mit seinen 173 Metern zu den höchsten Wohnhochhäusern in Deutschland. Etwa die Hälfte der entstehenden Flächen ist für neuen Büroraum vorgesehen. Daneben werden ca. 600 Wohnungen sowie Hotels, Gastronomie, Einzelhandel und öffentlich zugängliche Erholungsflächen entstehen. Darüber hinaus entstehen zwei neue Stadtplätze, eine Kita, eine Foodhall und ein Dachgarten.

Letzte Herausforderungen

Mit dem Einzug der ersten Mieter2024 ist das Projekt in eine entscheidende Phase getreten. Fast alle Gewerke arbeiten parallel auf der Baustelle – vom Rohbau über die Fassade bis hin zum Ausbau und der Fertigstellung der Außenanlage. Täglich sind nahezu 1.500 Beschäftigte aus über 300 beauftragten Firmen auf der Baustelle am Werk. Bis zu 90 LKWs fahren täglich auf die Baustelle, um entladen zu werden.

Zentrales Thema Nachhaltigkeit

Auch in Bezug auf Nachhaltigkeit handelt es sich bei FOUR um ein innovatives Projekt: Zum ersten Mal seit dem Bestehen vergab die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) 2020 ein Rückbau-Zertifikat an das Hochhausquartett. Denn das Thema Nachhaltigkeit wird beim Projekt FOUR auch nach dem Rückbau großgeschrieben. Während des Bauprozesses werden DGNB-konforme Materialien verwendet, wo möglich wird das Cradle- to-Cradle-Prinzip angewendet. In Sachen Materialien setzen das Team von Groß & Partner und der GP Con zum Beispiel auf Alu-Glas-Fassaden und möglichst nachhaltigen Stahlbeton – für diesen wird ausschließlich Zement genutzt, der CO₂-arm hergestellt und vom CSC zertifiziert wurde. Der verwendete Stahlbeton wird im Anschluss in der sogenannten Stahlbeton-Skelett- Bauweise verarbeitet.

Fakten zur Nachhaltigkeit

FOUR hat als erstes Projekt für den kompletten Rückbauprozess die DGNBPlatin-Zertifizierung für einen nachhaltigen Rückbau erhalten.

Das FOUR erhält als erste Quartiersentwicklung das DGNB-Zertifikat „Vertical City“, das alle relevanten Themen des nachhaltigen Bauens erfasst.

Bei der Erstellung der FOUR wird für den Stahlbeton ausschließlich Zement verwendet der CO₂-arm hergestellt und vom (CSC) zertifiziert wurde.

FOUR ist von der Allergy Friendly Buildings Alliance GmbH (AFBA) mit dem ECARF-Qualitätssiegel für allergikerfreundliches Bauen zertifiziert worden. Das Qualitätssiegel wird vergeben von der European Centre for Allergy Research Foundation (ECARF).

www.4frankfurt.de
baustelle.4frankfurt.de

The Cradle – der Name ist Programm

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Über 50 Prozent der weltweiten Abfallproduktion und fast 40 Prozent der globalen CO₂-Emissionen entfallen auf die Immobilien- und Baubranche. Diese harten Zahlen zeigen den Handlungsbedarf und auch die Verantwortung, die die Branchen mit sich tragen. Von Sascha König, Arrow Global Germany GmbH

Das Projekt The Cradle im Düsseldorfer Medienhafen steht als Leuchtturmprojekt für nachhaltige Baukultur. Der Name verdeutlicht die hochgesteckten Ziele einer engagierten Umsetzung des Cradle- to-Cradle-Konzepts. Das Gebäude ist Ausdruck einer ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigen Zukunft. Die Einhaltung des Cradle-to-Cradle-Prinzips hat bei The Cradle höchste Priorität: Demnach dürfen die Materialien und Verbindungen keine giftigen Stoffe enthalten, wofür eine sogenannte „banned list“ die Grundlage ist. Dieses konsequente Vorgehen kommt der Umwelt und der Gesundheit der Nutzerinnen und Nutzer im Gebäude zugute. Die banned list führt jene Chemikalien und Substanzen auf, die für die Verwendung in Cradle to Cradle Certified™-Produkten verboten sind. Darüber hinaus wurden mehrere Substanzen aufgrund von gefährlichen Eigenschaften ausgeschlossen, die mit ihrer Herstellung, Verwendung und Entsorgung verbunden sind. Somit soll sichergestellt werden, dass keiner dieser Inhaltsstoffe in Produkten verbaut und das Gebäude bzw. die Nutzerinnen und Nutzer gesundheitlich belastet werden. Darüber hinaus können so Materialien wieder im Sinne der Kreislaufwirtschaft zurückgeführt werden.

Das wohl markanteste Merkmal von The Cradle ist der Rohstoff Holz, der in den Geschossdecken und mit der imposanten Holzfassade zum Ausdruck gebracht wird. Holz steht als Sinnbild für Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft, da Holz ein nachwachsender Rohstoff ist, der endliche Rohstoffe wie Beton oder Kunststoff ersetzt. Zum anderen bindet Holz CO₂ und wirkt sich positiv auf das Raumklima sowie das Herz-Kreislauf-System aus. In Verbindung mit feinstaubabsorbierenden Teppichböden, Lehmwänden und grünen Wänden wird so eine deutlich bessere Luftqualität erreicht.

Mehr erfahren

 

Foto: Ralph Richter, Düsseldorf
Foto: Ralph Richter, Düsseldorf

www.the-cradle.de

Wenn man die gesamte Bau- und Nutzungsphase einbezieht, wird die CO₂- Reduktion des Gebäudes auf über ein Drittel im Vergleich zu herkömmlichen Gebäuden berechnet. Darüber hinaus wurde auch das Thema Mobilität im Sinne der Shared Economy neu gedacht. Ein Mobilitätshub steht nicht nur den Nutzerinnen und Nutzern von The Cradle, sondern auch der Nachbarschaft zur Verfügung.

The Cradle wurde mit einem interdisziplinären Team aus Architekten, Fachplanern und Beratern als zukünftiges werthaltiges Rohstofflager konzipiert. Die verwendeten Materialien sind kreislauffähig, werden entsprechend verortet und sind rückholbar. Voraussetzung ist, dass durch intelligente Verbindungstechniken eine sortenreine Trennbarkeit gegeben ist und die Stoffe keine Schadstoffe enthalten. Das Gebäude fungiert sozusagen als Materiallager. Der Material Passport dient als digitalisierter Bauteilkatalog, in dem die Materialien in Hinblick auf Recyclingfähigkeit, Gesundheitsklasse, Schadstoffgehalt, Trennbarkeit und CO₂- Verbrauch erfasst werden. Dadurch kann nachverfolgt werden, welches Bauteil an welcher Stelle und zu welcher Zeit eingesetzt wurde und wann dieses gegebenenfalls erneuert werden muss. Die Materialien sind klar nach ihrer Identität für den biologischen oder technischen Kreislauf gekennzeichnet und sind nach Nutzung reintegrierbar. Wesentlich ist hierbei die Trennbarkeit der Baustoffe, ihre Rezyklierbarkeit und ihre eindeutige, schadstofffreie Materialität.

Foto: Olaf Wiechers
Foto: Olaf Wiechers