Egal, ob Nahrungsmittel, Elektronikgeräte oder Mode: Der Handel setzt auf Multichannel. Um die Strategie umzusetzen, suchen die Unternehmen Einsteiger, die IT-Möglichkeiten verstehen und sich vom Handel begeistern lassen. Aber auch im digitalen Zeitalter gilt: Große Karrieren im Handel können auch dort beginnen, wo man dem Kunden begegnet. Von André Boße
Wer sich noch an die Schaufensterbummel der Kindheit erinnern kann, wird schnell merken, wie stark sich der Handel in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Damals waren die Ladenzeilen um 18 Uhr geschlossen, wer noch shoppen wollte, musste sein Glück in Tankstellen oder Bahnhöfen versuchen. Und wenn im Geschäft ein Produkt nicht zu haben war, dann zog man eben weiter und versuchte sein Glück in einem anderen Laden.
Okay, die Einkaufstüten waren auch damals gut gefüllt. Dennoch: Das Einkaufserlebnis heute ist ein ganz anderes. Schuld daran ist die digitale Transformation. Diese findet längst nicht nur im Handel statt. Fast alle Unternehmen stehen heute vor der Herausforderung, die Möglichkeiten der Digitalisierung in ihre Abläufe zu integrieren. Firmen, die damit zu lange warten, bekommen unweigerlich Probleme, denn: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – oder in diesem Fall der Kunde. In kaum einer Branche jedoch ist die digitale Transformation so dringlich wie im Handel. Grund dafür sind die Kunden: Fast alle haben heute die Vorteile des Internets kennengelernt. Sie bestellen und vergleichen, informieren sich und geben sich über Netzwerke gegenseitig Feedback. Kurz: Statt in der Einkaufsstraße alleine unterwegs zu sein, ist man als Kunde heute Teil einer großen Community. Darauf muss der Handel reagieren. Er tut das mit neuen Angeboten, digitalen Konzepten und neuen Jobprofilen.
Verantwortung für die Supply Chain
Beispiel Edeka. Bei der Verbundgruppe mit Stammsitz in Hamburg weiß man um die Dynamik im Lebensmitteleinzelhandel. Trends kommen, manche gehen auch wieder. Doch Wandel gibt es immer. „Grund sind stetige Veränderungen bei den Konsumgewohnheiten der Menschen, damit verbundene neue Trends bei der Gestaltung von Sortimenten sowie der rasante technologische Fortschritt in unserer Branche“, sagt Martin Scholvin, im Vorstand für die Bereiche Finanzen, Personal und Expansion zuständig. Grundsätzlich sei zu beobachten, dass der Informationsbedarf der Verbraucher rund um ihre Lebensmittel weiter zunehme. „Damit einher geht zudem ein steigendes Bedürfnis nach bewusster Ernährung mit Produkten, die unter sozial und ökologisch verantwortungsvollen Bedingungen hergestellt worden sind“, so Scholvin.
Dadurch gewinnen Jobs in den Bereichen Einkauf, Marketing sowie Supply Chain Management an Komplexität. Das gilt insbesondere für den Bereich der Lieferkette. Hier bedeutet der Wandel: „Die Manager übernehmen Verantwortung für die gesamte Wertschöpfungskette, setzen sich mit Themen wie Nachhaltigkeit oder ökologischer Verantwortung auseinander und stehen vor der Aufgabe, diese für den Verbraucher transparent darzulegen“, sagt der Edeka-Vorstand. Zudem sorgen immer neue Ernährungstrends für Bewegung im Sortiment: Aktuell wird die Zahl der vegan lebenden Menschen immer größer; Lebensmitteleinzelhändler reagieren darauf mit Eigenmarken oder neuen Kooperationen mit spezialisierten Großhändlern. Und auch im Marketing verändern sich die Aufgaben: Die Edeka-Gruppe spricht ihre Kunden längst nicht mehr ausschließlich im stationären Einzelhandel an, stattdessen findet eine sogenannte 360-Grad- Kommunikation und Interaktion statt. „Kunden besitzen die Möglichkeit, onund offline über diverse Kanäle mit uns in Kontakt zu treten: von der Webseite, Youtube und Facebook über Online- Banner und die Edeka-App bis zu einem telefonischen Kundenservice“, sagt Martin Scholvin.
Supply Chain: Aktiv vorausschauen
Während es mit Blick auf die Lieferkette vor einigen Jahren noch auf Kostenoptimierung ankam, stehen Supply Chain Manager heute vor komplexeren Aufgaben. Die Märkte sind volatil, Naturkatastrophen nehmen zu, die Kunden achten auf nachhaltige Lieferwege – um all das im Blick zu haben, geht der Trend in Richtung „Vorausschauender Supply Chain“, wie eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte es formuliert. Erfolgreiche Unternehmen entwickeln belastbare und vertrauensfähige Netzwerke und verankern diese direkt in der Unternehmensstrategie. Dadurch, so die Autoren der Studie, werden die Supply Chain Manager aufgewertet: Sie werden zu „wahren Innovatoren, aber auch disziplinierenden Operatoren“.
Quelle: www2.deloitte.com
Bezahlen und Rabatte per App
Vor allem Apps versprechen echte Innovationen: Mobile Payment und Mobile Couponing heißen die Trends, die Kunden bezahlen mit dem Smartphone und erhalten über das Gerät auch Rabatte oder sonstige Benefits. Das ist bequem für den Kunden, für die Einzelhändler jedoch eine Herausforderung, weil Themen wie Sicherheit und IT-Stabilität an Bedeutung gewinnen.
Digitale Transformation ist auch in der Personalabteilung des VersandhändlersOtto ein großes Thema. Und zwar nicht erst seit gestern. Der Handelskonzern ist bereits seit 20 Jahren im Internet präsent. Zunächst mit einem Shopping- Portal auf der Homepage, heute mit diversen Multichannel-Angeboten. Mittlerweile erwirtschaftet der Handelskonzern nach eigenen Angaben 85 Prozent seines Umsatzes mit E-Commerce- Geschäften. Die Recruitment- Leiterin Ireen Baumgart steht daher vor der Herausforderung, Nachwuchskräfte für das Unternehmen zu gewinnen, die besonders IT-Wissen und E-Commerce- Know-how mit einer Leidenschaft für den Handel verbinden. „Wir wissen, dass wir nicht als einziges Unternehmen nach jungen Leuten mit diesem Profil suchen“, sagt Ireen Baumgart. Deshalb hat der Konzern zuletzt an seinem Image als Arbeitgeber gearbeitet: Die neue Kampagne „Rot4“ ist bewusst etwas mysteriös gehalten. „Wir wollen die jungen Leute neugierig machen“, sagt die Recruitment-Leiterin, „wollen zeigen, dass eine traditionelle Handelsmarke wie Otto innovativ denkt und spannende Jobs bietet.“
Schon jetzt finden sich im Unternehmen viele Digital Natives, die den Konzern mit neuen Ideen und Umsetzungen unterstützen. „Aber wir suchen hier weiter“, kündigt Ireen Baumgart an – zumal sich das Internetangebot des Multichannel-Händlers immer weiter ausdifferenziert. „Es entstehen regelmäßig neue, spezialisierte Shops, die sich auf bestimmte Konsumwelten konzentrieren“, sagt Ireen Baumgart. Spezielle Kundengruppen zu identifizieren und für sie einen passenden Online-Shop zu konzipieren – wer diese Aufgabe bewältigen will, bei dem müssen Handels- und IT-Know-how Hand in Hand gehen. Entsprechend vielfältig sind die Teams zusammengesetzt. „Wir gehen bewusst andere Wege. Gefragt sind daher mutige und offene Mitarbeiter, die schnell denken und ihre Ideen gut verkaufen“, fasst Ireen Baumgart wichtige Skills zusammen. Hinzu komme eine Fähigkeit, die man bei Otto als Komplexitätsmanagement versteht: „Der Markt wird komplizierter, die Optionen und das Tempo nehmen zu. Eine Nachwuchskraft, die uns helfen will, muss einen Zugang zu dieser Komplexität finden.“
Einsteiger dürfen ausprobieren
Ob neue Formen der Kundenkommunikation oder neue Shop-Angebote für spezifische Zielgruppen – der Wandel der Branche ist nicht nur erlebbar, sondern für die Handelsmanager auch gestaltbar. Die Unternehmen probieren derzeit eine Menge aus, und weil sich digitale Projekte häufig vergleichsweise kostengünstig umsetzen lassen, bedeutet ein Scheitern auch nicht automatisch den totalen Schiffbruch. „Der Nachwuchs kann im E-Commerce derzeit viele Dinge ausprobieren und gestalten“, bestätigt Ireen Baumgart. „Darum ist es für uns so wünschenswert, dass die junge Generation den Mut mitbringt, dies auch zu tun.“
Besonders gefragt sind in dieser Hinsicht weiterhin Multichannel-Strategien. Der Kunde soll erleben, dass Marken und Händler ihren stationären Handel, ihr Angebot bei Franchise-Partnern sowie ihr Online-Geschäft wie aus einem Guss kombinieren. Es darf keine Top-Thema Schwellen zwischen den Verkaufskanälen geben, das ist das Ziel. Auch beim Modelabel Marc O’Polo denkt man stark in diese Richtung. Der Textilhersteller vertreibt seine Waren über eigene Shops, Franchise-Stores und das Internet. „Wir geben registrierten Kunden die Möglichkeit, online Artikel zu reservieren und diese dann im Store zu kaufen. Oder ihren Online-Einkauf im Store abzuholen“, sagt Kerstin Lumpp, Head of HR Retail Europe und Sales International. „Unser Ziel ist es, unseren eigenen stationären Retail, die Franchise-Partner und unseren Online- Shop stärker zu vernetzen und die Warenverfügbarkeit zu erhöhen.“
Wer im Unternehmen mit Deutschlandsitz in Stephanskirchen bei Rosenheim Karriere machen möchte, dem legt Kerstin Lumpp nahe, sich über Karrieremöglichkeiten im Bereich Retail zu informieren. „Der Retail ist die Basis unseres Unternehmens und ein ideales Sprungbrett für Mitarbeiter, gerade Absolventen unterschätzen die Karrierechancen in diesem Bereich“, sagt sie. „In keinem anderen Bereich erhält man so schnell Personalverantwortung, und nur in wenigen anderen Bereichen erlangt man schneller ein Gespür für die Marke und deren Funktion.“ Der Grund liegt auf der Hand: Die Kunden sind schon im Vorfeld gut informiert. Wer im Store punkten will, muss daher einen Mehrwert bieten: weiteres Wissen über die Marke und die Materialien, einen passgenauen Service und eine offene Kommunikation – alles Eigenschaften, die einer Führungskarriere förderlich sind.
Lesetipp Supply Chain Management
Die Lieferkette ist eine ganz einfache Idee – doch in der heutigen globalen Warenwelt ist sie zunehmend kompliziert geworden. Die Rollen der Rohstoffproduzenten, Lieferanten, Endproduzenten, Händler und Kunden wandeln sich. Alle sind informierter, Verantwortung verteilt sich auf diverse Schultern, dennoch bleiben einige Kanäle im Dunkeln. Die zwei Unternehmensberater Ernst Kurzmann und Erwin Langmann haben eine Einführung in das Thema verfasst, die dank vieler Illustrationen auch visuell einleuchtet.
Ernst Kurzmann und Erwin Langmann:
Supply Chain Management. Wie Sie mit vernetztem Denken im 21. Jahrhundert überleben.
Frankfurter Allgemeine Buch 2015.
ISBN 978-3956010897.
24,90 Euro