Der Supermarkt der Zukunft? Im Kassenbereich ist kein Personal mehr nötig, alles läuft digital ab. Dafür gibt es Bedientheken, an denen Mitarbeiter*innen die Kund*innen beraten. Lieferservices gibt es auch, auf Wunsch rasend schnell, bei Bedarf aber auch mit einem Vollsortiment im Angebot. Prof. Dr. Stephan Rüschen, Professor für Lebensmittelhandel, erforscht solche Szenarien und analysiert den aktuellen Zustand in den deutschen Supermärkten. Sein Credo: Der Lebensmittelhandel gibt Menschen Jobs, die Eigenverantwortung, Umgang mit Daten und Kontakt zu Menschen schätzen. Das Interview führte André Boße.
Zur Person
Prof. Dr. Stephan Rüschen ist seit 2013 Professor für Lebensmittelhandel und Studiengangsleiter an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann studierte er BWL und promovierte 1996 in München. Seine Karriere im Handel startete er 1996 als Senior Associate in der Unternehmensentwicklung bei der Tengelmann Group. 2000 wechselte er zur Metro Group, wo er zunächst als Head of Portalmanagement des Tochterunternehmens Dayconomy tätig war. Bei Metro Cash & Carry stieg er bis 2012 zum Customer Management Director auf, bevor er 2013 in die Wissenschaft wechselte.
Herr Prof. Rüschen, im Zuge der Pandemie waren Supermärkte die einzigen Orte, an denen man konsumieren konnte. Zählen daher Supermärkte zu den Gewinnern der Pandemie?
Ja, Supermärkte wie Rewe und Edeka waren die sogenannte Pandemie-Gewinner, da Menschen bei geschlossenen Restaurants und beim Arbeiten im Home- Office sich beim Einkauf von Essen etwas leisten wollten und daher das One-Stop- Shopping im Supermarkt dem Discounter vorgezogen haben. Positive Umsätze haben aber alle Lebensmittelhändler in dieser Zeit verzeichnen können. Während der Lockdowns wurden die Mitarbeiter* innen in den Lebensmittelgeschäften tatsächlich zum Teil als Corona- Held*innen angesehen. Allerdings vergessen wird doch sehr schnell: Von dieser besonderen Wertschätzung gegenüber den Mitarbeiter*innen ist ehrlich gesagt nicht mehr viel zu spüren. Inflationssorgen und sinkende Kaufkraft stehen heute mehr im Fokus als die Systemrelevanz des Lebensmittelhandels.
Ein weiterer Effekt der Pandemie war der Zulauf für Lieferdienste. Warum tat sich Deutschland bisher beim Thema Lebensmittellieferung eigentlich so schwer?
Deutschland hat eine der höchsten Filialdichten in Europa. Die überwiegende Anzahl an Kund*innen ist in diesem Land maximal fünf Minuten vom nächsten Lebensmittelgeschäft entfernt. Daher drängt sich der Bedarf nach Lebensmittellieferungen für Kund*innen nicht unbedingt auf. Außerdem wollen wir frische Lebensmittel wie Obst und Gemüse oder Fleisch lieber selbst auswählen. Die Mentalität in Deutschland ist auch davon geprägt, neue Entwicklungen nicht unbedingt als Erste auszuprobieren. Auch sind wir sehr preissensibel. Lebensmittellieferungen sind etwas teurer als der stationäre Einzelhandel, daher wollen viele Kund*innen lieber im stationären Handel die Produkte selbst aussuchen – und dabei möglichst noch ein Schnäppchen machen.
Ist den Lieferdiensten nun der nachhaltige Durchbruch gelungen?
Ja, auf alle Fälle. Die Lieferdienste hätten im Zuge der Pandemie noch deutlich mehr Umsatz gemacht, wenn sie die plötzlich nachgefragten Lieferkapazitäten gehabt hätten. Viele Kund*innen haben die Belieferung mit Lebensmitteln in der Pandemiezeit ausprobiert und realisiert, dass es funktioniert. Daher sind viele dabeigeblieben. Außerdem war die steigende Nachfrage der Nährboden für die Entstehung vieler neuer Anbieter und Konzepte. Die Quick-Commerce-Anbieter wie Gorillas, Getir, Flink und einige andere sind in der Pandemie entstanden und sehr schnell gewachsen. So schnell, dass wir bereits jetzt eine erste Konsolidierung im Markt sehen.
Wie wird sich dieser Markt entwickeln?
Es gibt bei der Belieferung mit Lebensmitteln unterschiedliche Zielgruppen, daher werden aus meiner Sicht mehrere verschiedenen Modelle ihre Berechtigung haben. Zum einen die erwähnten Quick-Commerce-Anbieter, die innerhalb kürzester Zeit, rund zehn Minuten, eine beschränkte Anzahl an Produkten liefern können, zum anderen die Vollsortimenter, die auch einen kompletten Wochenendeinkauf aus einem großen Sortiment mit mehr als 10 000 Artikeln abdecken können. Wobei die Lieferung dann eben etwas länger dauert. Dazu kommen noch Spezialisten für Tiernahrung oder Bio-Kisten. Wir werden also ein vielfältiges Angebot vorfinden, zumindest in Städten.
Wer wird den Markt bestimmen, neue Player oder etablierte Händler?
Es sind zwar einige Start-ups in den Markt eingestiegen, aber letztlich werden die etablierten Lebensmittelhändler den Markt bestimmen, in dem sie zum Beispiel Kooperationen eingehen, wie wir dies bereits bei Flink und Rewe oder Edeka und Picnic beobachten können. Lebensmittellieferdienste benötigen starke Partner, zum Beispiel, um ihnen Produkte zu einem günstigen Preis beschaffen oder auch Eigenmarken zur Verfügung zu stellen.
Die Kundenbedürfnisse werden immer differenzierter, in der Folge sind Supermärkte deutlich größer als vor 15 Jahren, da die Sortimente deutlich größer und vielfältiger geworden sind: vegan, vegetarisch, glutenfrei, laktosefrei, regional, lokal und so weiter.
Wenn Sie neu entstehende Filialen in den Supermärkten mit solchen vergleichen, die vor 10 bis 15 Jahren eröffnet haben, welche Veränderungen fallen Ihnen auf?
Die Kundenbedürfnisse werden immer differenzierter, in der Folge sind Supermärkte deutlich größer als vor 15 Jahren, da die Sortimente deutlich größer und vielfältiger geworden sind: vegan, vegetarisch, glutenfrei, laktosefrei, regional, lokal und so weiter. Außerdem erleben wir bei den Supermärkten ein Trading-up in der Ladengestaltung: Es macht heute mehr Spaß und Freude, in einem Supermarkt einzukaufen. Und: Die Digitalisierung hält auch Einzug in die Märkte, zum Beispiel mit Selfcheckouts und Elektronischen Preisschildern.
Sie forschen auf Ihrem Campus zu personallosen Läden. Wie weit sind wir bei der Entwicklung von Märkten, die ohne Personal funktionieren und in dem die Abläufe automatisch ablaufen?
Abhängig vom System funktioniert das bereits sehr gut. Kassen-Selfcheckout und Smartphone-Scanning funktionieren ohne Probleme. Das von Künstlicher Intelligenz getriebene „Grab & Go-Prinzip“ wird noch ein paar Jahre dauern, bis es wirklich für deutsche Supermärkte marktreif sein wird.
Gemeint sind Supermärkte, in denen Kund*innen ihre Produkte einpacken und das Bezahlen über automatische digitale Systeme funktioniert.
Bisher werden nur sehr kleine Märkte betrieben, mit einer Fläche bis zu 200 Quadratmetern. Die Anzahl derjenigen Händler, die hier Tests durchführen, und auch die Anzahl der technologischen Anbieter steigt jedoch rasant. Aktuell werden über 50 Tests solcher weitestgehend unbemannter Stores in Deutschland durchgeführt. Hinzu kommt: Die KI-Technologie hinter Grab & Go wird jeden Tag ein bisschen schlauer. Allerdings müssen auch die Kund*innen mitspielen.
In welcher Hinsicht?
Wie schon erwähnt: Wir sind in Deutschland in der Nutzung funktionierender Technologien dem europäischen Ausland hinterher. Der Blick nach England zeigt, dass solche Systeme nicht nur marktreif sein, sondern auch von den Kund*innen akzeptiert werden müssen.
Auf der anderen Seite gibt es in vielen Märkten eine Art Renaissance der Beratung, auch hier scheint es großen Bedarf zu geben. Ist das ein Widerspruch zur Entwicklung vollautomatisierter Märkte?
Nein, nicht unbedingt. Händler wollen vor allem den Kassiervorgang sowie die internen Abläufe, wie Bestellung von Ware, automatisieren. Das hat aber keinen Einfluss auf die Bedientheken. Jedoch wird es immer schwieriger, Fachpersonal für diese Theken zu gewinnen. Supermärkte wollen Bedientheken auch langfristig behalten, einige haben sogar Bedienungen bei Obst und Gemüse wieder eingeführt. Man braucht dafür aber qualifizierte Mitarbeiter*innen.
Das Handelsgeschäft ist in den Zentralen zunehmend datengetrieben. Ein Grundverständnis von Daten und Zusammenhängen sollte man daher mitbringen.
Mit Blick auf Nachwuchskräfte, die eine Karriere im Lebensmittelhandel anstreben: Welche Skills und Eigenschaften sind generell wichtig, um hier Spaß zu haben und erfolgreich zu sein?
Das Handelsgeschäft ist in den Zentralen zunehmend datengetrieben. Ein Grundverständnis von Daten und Zusammenhängen sollte man daher mitbringen, dazu Spaß daran, sich mit Umsatz- und Kundendaten zu beschäftigen. Im Vertrieb wird auch in Zukunft die Interaktion mit Menschen, sei es mit Mitarbeiter*innen oder Kund*innen, im Vordergrund stehen. Wer Menschen mag, der mag auch den Handel. Generell unterscheidet sich der Handel in Sachen Schnelllebigkeit von anderen Branchen: Man kann sehr schnell den Erfolg seiner eigenen Entscheidungen sehen und messen. Wer also Verantwortung für Menschen und Entscheidungen übernehmen will, der ist im Handel hervorragend aufgehoben. Zumal die Verantwortung in den Filialen weiter wachsen wird, da immer mehr Daten zur Verfügung stehen, die bei der Entscheidungsfindung Unterstützung bieten.
Bitte vervollständigen Sie zum Abschluss folgenden Satz: Der Supermarkt der Zukunft wird ein ganz neues Einkaufserlebnis bieten, weil …
… er viele Einkaufsvorgänge digital unterstützt und trotzdem der Mensch noch den Unterschied machen wird.
Grab & Go im Supermarkt
In „Grab & Go“-Supermärkten ermöglicht die sogenannte Just-Walkout-Technologie durch KI-Systeme zur Bilderkennung, Computer und „Sensor Fusion“ in den Regalen ein reibungsloses Einkaufserlebnis für die Kund*innen, „Frictionless Shopping“ genannt. In Seattle eröffnete Amazon bereits 2016 den ersten Store dieser Art. Es dauerte einige Jahre, bis die Technologie mit weiteren Technologieanbietern und Händlern auch in Europa Einzug gehalten hat, das polnische Handelsunternehmen Zappka betreibt mittlerweile mehr als 50 solcher „Smart Stores“, den Markteintritt in Deutschland wagte das Unternehmen im Sommer 2022 in der „Tesla Gigafactory“ im brandenburgischen Grünheide.