Die spannendsten Innovationen in der Handelsbranche haben die Shops im Fokus: Ziel der Entwicklungen ist es, die Offline- mit der Online-Welt zu verschmelzen. Stichworte sind das Internet der Dinge und Cognitive Computing, Beacons und Wearables. Wir erklären, was hinter den Innovationen steht, wer Probleme bekommt, wer sie ignoriert, und wie der Handelsnachwuchs davon profitieren wird. Von André Boße
Disruption – das klingt schon mal gar nicht gut. Irgendwie nach Unheil. Doch keine Angst: Im Grunde stecken hinter dem Begriff viele Chancen für den Handel. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Wer diese Chancen nicht nutzt, wird Probleme bekommen. Disruptiv, das Adjektiv, wird laut Duden mit „zerstörend“ definiert. Unter disruptiver Technologie versteht man in der Wirtschaft Innovationen, die so viele Änderungen implizieren, dass bereits kurz nach ihrer Einführung kein Stein mehr auf dem anderen steht.
Disruptive Technologien sind nicht neu, gerade im Handel nicht. Die Idee eines Discounters hat einst den Tante-Emma-Läden zugesetzt. Doch die Disruption, die aktuell von der Digitalisierung ausgeht, hat in Sachen Dynamik und Relevanz deutlich mehr zu bieten. In einem Wahnsinnstempo verändern digitale Innovationen das Kaufverhalten der Kunden. Einige Branchen sind dadurch schon komplett durcheinandergewirbelt worden, der Buchhandel zum Beispiel oder die Musikindustrie. Jedoch steht der Handel nicht bereits am Ende des Zeitalters der totalen Veränderung. Die Branche steckt mittendrin. Einige Experten sagen sogar, jetzt gehe es erst richtig los. Und zwar nicht nur im Netz. Sondern insbesondere in den Geschäften.
Online-Durchbruch in Stores
„Wir erleben, dass sich der stationäre Einzelhandel zunehmend digitalisiert“, sagt Wilfried Malcher, Geschäftsführerfür Bildung und Berufsbildung beim Handelsverband Deutschland (HDE). Ein wichtiger Schritt, der diese Entwicklung weiter befeuert, sei der Wegfall der WLAN-Störerhaftung: Nun ist der Anbieter eines freien Hotspots in einem Store nicht mehr für das eventuelle Fehlverhalten Dritter haftbar. „Das“, glaubt Malcher, „löst einen Innovationsschub im stationären Handel aus und treibt die digitale Verzahnung zwischen stationärem Geschäft und Online voran.“
Diese Dynamik zu forcieren, daran arbeitet Richard Lemke, Geschäftsführer des Technologieunternehmens Favendo, einem Entwickler für digitale Innovationen für den
stationären Handel. Wer mit Lemke über die Shops der Zukunft spricht, glaubt schon bald, die Shoppingerfahrung von morgen habe mehr mit einem Videospiel zu tun als mit dem klassischen Einkaufsbummel. So spricht der CEO von „FlowTrackern“, die es ermöglichen, „Kundenströme und Bewegungen zu erfassen, ohne dass der Besucher dazu eine bestimmte App nutzen muss“. Auch das Internet der Dinge werde im stationären Handel verstärkt eine Rolle spielen, glaubt Lemke: „Das Smartphone wird zu einer Art Fernbedienung, um mehr Informationen über die Waren in der nahen Umgebung zu erhalten.“
Von solchen „Smart Stores“ profitiert dann auch der Händler: Produkte, Store-Infrastruktur und Kunde vernetzen sich, das legt Laufwege und Kaufverhalten offen.
Über Sensoren und Kameras erhält der Händler riesige Datenmengen, wobei es bereits mit Künstlicher Intelligenz ausgerüstete Maschinen gibt, die in der Lage sind, aus diesen Daten Muster zu erkennen und Schlüsse zu ziehen. „Cognitive Computing“ nennt sich diese Entwicklung: IT-Systeme beobachten und bewerten alles, was im Geschäft passiert – und liefern dem Händler aufbereitete Daten, mit deren Hilfe er sein Angebot optimieren kann.
Beacons und Wearables „Location-based Services“ heißen diese digitalen Möglichkeiten, mit denen man als Händler mehr über den Kunden erfahren und diesem gleichzeitig mehr bieten kann. Eine der interessantesten Innovationen auf diesem Feld nennt sich Beacon. Die Idee: Im Laden gibt es Sender, die per Bluetooth-Technologie Informationen an die Empfänger schicken. „Wir müssen uns vor Augen halten, dass 90 Prozent aller Kunden inzwischen ganz selbstverständlich das Smartphone während des Einkaufs nutzen“, sagt Richard Lemke, der mit seinem Unternehmen die Beacon-Technologie in Deutschland voranbringen will. Nun erhält das Smartphone sogar noch Konkurrenz: So genannte Wearables wie Datenbrillen, Uhren oder mit RFID-Technik ausgerüstete Kleidungsstücke vernetzen den Konsumenten noch direkter mit den digitalen Kanälen.
Funktionierendes Marketing
Für den Kunden wird die Offline-Welt des Shoppings im Laden also mit der Online-Welt verschmelzen. Dass der Händler daher versucht, den Kunden nicht nur durch haptische, sondern auch durch digitale Angebote zu erreichen, ist also logisch. „Für den Händler ist es ein großer Vorteil, dass er seine Kunden und deren Verhalten in seinem Geschäft viel genauer kennenlernt, als es bisher möglich war“, sagt Lemke. Zudem gewinne der Händler einen sehr genauen Überblick darüber, welche Marketingmaßnahmen funktionieren und welche nicht, also welche Angebote Kunden interessieren – und welche er ignoriert. „Das Stochern im Dunklen hat damit ein Ende.“
Die Idee von Beacons ist nicht neu, flächendeckend durchgesetzt hat sie sich bislang noch nicht. Doch nun geht es los, glaubt der Favendo-Gründer. „Die Phase der kleinflächigen Piloten ist zu Ende. Im Handel erleben wir aktuell den Sprung in großflächige Anwendungsszenarien.“ Aktuell habe ein Handelskonzern in England und Frankreich 24 Einkaufszentren komplett mit Beacon-Infrastrukturen ausgestattet. Interessant ist die Technik auch für die Außenwerbung: Beacons schaffen Mehrwerte, in dem sie dem Kunden Angebote aufs Smartphone schicken. „Viele große Unternehmen sind aktuell extrem aktiv. Der Durchbruch ist da“, glaubt Lemke.
Wichtig sei nun, dass die Händler verantwortungsbewusst mit den neuen Möglichkeiten umgehen. „Beacon-Technologie beinhaltet die Gefahr, den Kunden permanent anzusprechen und zu penetrieren“, sagt Lemke. „Wenn Beacons auf die Möglichkeit reduziert werden, dem Kunden ungefiltert eine Push-Nachricht nach der anderen zu schicken, ist das extrem kontraproduktiv. Händler müssen diese neue Technologie daher unbedingt aus Kundensicht denken.“ Wilfried Malcher vom HDE glaubt, dass der Handel in dieser Hinsicht das richtige Maß finden wird. „Der Einzelhandel ist von jeher eine kundengetriebene Branche. Letztlich wird sich die Digitalisierung auf dem von Kunden gewünschten Niveau einpendeln.“
Back-Office durchdigitalisiert
Das gilt für alle von den Konsumenten sichtbaren Prozesse. Das Back-Office hingegen werde entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf jeden Fall weiter digitalisiert, glaubt Malcher. „Ganz einfach, weil hier erhebliche Qualitäts- und Leistungsverbesserungen möglich sind.“ Das gilt insbesondere für Bereiche wie Logistik und Vertrieb, wo digitale Software viele Abläufe optimieren kann.
Dabei glaubt der Experte vom Handelsverband nicht, dass sich Online- und Offline-Shoppingwelt dahingehend aufteilen, dass es im Internet nur noch um den günstigsten Preis geht und in den Stores um die Shopping-Erfahrung. „Die Entwicklung geht gerade nicht zu einer zweigeteilten Handelswelt, sondern vielmehr in Richtung Verschränkung von Off- und Online“, sagt Malcher. Die Handelsunternehmen müssten daher sowohl beim Stadtbummel als auch im Internet für ihre Kunden da sein. „Erfolgreich werden die Händler sein, die konsequent die Vorteile beider Welten miteinander verbinden und den Kunden so einen Mehrwert bieten.“
Ein Beispiel sei Click & Collect. Mit diesem Verfahren können die Kunden Ware im Internet bestellen und dann persönlich im Laden abholen. Malcher: „Dass der Trend in Richtung Cross- und Multichannel-Handel geht, lässt sich daran erkennen, dass immer mehr bisher reine Online-Händler stationäre Geschäfte eröffnen und diese wie selbstverständlich mit dem Online-Geschäft verzahnen.“
Menschlich geprägtes Business
Da ist es nur logisch, dass der Handel nach Nachwuchskräften Ausschau hält, die sich in beiden Welten bestens auskennen. „Wie bei allen großen Innovationen, tragen auch bei der Digitalisierung junge Generationen neue Herangehensweisen in das Arbeitsleben, die Probleme auf neue Art lösen“, sagt der HDE-Bildungsexperte. „Die junge Generation nutzt mit bisher nie dagewesener Selbstverständlichkeit digitale Medien. Das bringt neue Impulse in die Unternehmen.“ Zudem sei es mit digitalen Vorkenntnissen deutlich einfacher, sich im Studium den berufsoder fachbezogenen Umgang mit der digitalen Technik und der geeigneten
Software anzueignen.
Sind in diesem Zusammenhang die klassischen Kompetenzen von Handelsprofis nicht mehr gefragt? Wird die Branche zunehmend von IT-Spezialisten übernommen? Malcher glaubt das nicht. „Weiterhin stehen Branchenwissen und soziale Skills, Teamfähigkeit, Lernbereitschaft und interkulturelle Kompetenzen im Mittelpunkt.“ Bei aller Veränderungsdynamik, bei aller Disruption: Hier bleibt sich der Handel treu – er bleibt auch nach der Digitalisierung ein menschlich geprägtes Business. Wenn auch mit neuem Vorzeichen.