Megatrends wie die Digitalisierung, demografischer Wandel oder Klimaschutz haben schon vor Corona für große Umbrüche im Handel gesorgt. Die Pandemie hat den Wandel nun noch einmal deutlich verstärkt. Zu den Profiteuren zählen Unternehmen, denen es gelingt, die diversen Trends so zu bündeln, dass für die Konsumenten ein Sinn erkennbar wird. Gefragt sind hier Nachwuchskräfte, die bereit sind, alte Denkmuster abzulegen und neue Initiativen zu starten. Von André Boße
Plötzlich waren Mitte März die Geschäfte geschlossen. Nicht nur sonntags, sondern auch an ganz normalen Werktagen. Geöffnet hatten nur noch die Läden, die die Grundversorgung sichern. Und Baumärkte. Für Deutschland war das ein bis dahin unvorstellbares Szenario, ermöglicht von einem Virus, von dem Wissenschaft und Politik im Frühling 2020 noch nicht genau wussten, wie es sich verbreitet. Der Lockdown war eine Maßnahme aus Vorsicht. Der Handel hatte sich, wie viele andere Bereiche auch, der Entscheidung zu beugen. Ein halbes Jahr später sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, mit dem heutigen Wissen über Covid-19 werde es nicht mehr zu einem derartigen Shutdown des Handels kommen. Das sind natürlich erst einmal gute Nachrichten, weil sie besagen, dass die gelernten Hygiene- und Abstandsregelungen ausreichen, um die Konsumenten und die Arbeitenden im Handel zu schützen. Dennoch: Der Schaden ist natürlich da. Er basiert nicht nur auf den konkreten Umsatzausfällen in den Schließzeiten, sondern auch den folgenden häufig mauen Wochen im Frühsommer, in denen viele weder die Nerven noch das Geld hatten, sich wieder auf Shoppingtour zu begeben.
Corona-Boost für E-Commerce
Der große Sieger dieser Pandemie ist daher der Online-Handel. Eine Marktanalyse des E-Commerce-Verbandes bevh zeigt, dass die Handelsunternehmen mit Online-Geschäften im ersten Halbjahr 2020 gut neun Prozent mehr Umsätze erzielt haben, als es ein Jahr zuvor der Fall war. Ein Bereich, der sowieso seit Jahren ständig wächst, hat also noch einmal einen Schub bekommen – und zwar insbesondere in den von der Pandemie stark beeinflussten Monaten April bis Juni. „E-Commerce hat sich im zweiten Quartal 2020 nachhaltig als zusätzliche Versorgungsinfrastruktur etabliert“, sagt Christoph Wenk-Fischer, bevh-Hauptgeschäftsführer. Das zeige sich nicht nur an den absoluten Zahlen, „sondern auch am erklärten Willen der Konsumenten, auch künftig mindestens so viele, wenn nicht mehr Güter des täglichen Bedarfs und Medikamente online zu kaufen.“ In einer zusätzlichen Befragung des Verbands gab mehr als die Hälfte der Befragten an, aufgrund der Erfahrungen in der Corona-Krise künftig mehr online bestellen zu wollen. Bei den Lebensmitteln wollen 21,6 Prozent künftig auch online ordern, auch in den Bereichen Pharma, Drogerie und Tierbedarf steigt die Bereitschaft zum E-Commerce.
Deutsche entdecken digitales Bezahlen
Im Vergleich zu den europäischen Nachbarn galten die bundesdeutschen Konsumenten lange als digitale Bezahlmuffel, die weiterhin aufs Bargeld schwören, statt neue Payment- Methoden via Karte oder Smartphone zu nutzen. Nun stellt der Digitalverband Bitkom einen starken Wandel fest, ausgehend von den Hygieneüberlegungen im Zuge der Pandemie: „Es gibt kaum ein Verhaltensmuster, das durch Corona ähnlich stark verändert wurde wie das Bezahlen an der Kasse“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg zu den Ergebnissen einer Studie aus dem Sommer 2020, die zeigt, dass drei Viertel der Befragten versuchen, Zahlungen mit Bargeld so oft es geht zu vermeiden. „Zugleich wünschen sich sieben von zehn Befragten, mehr Möglichkeiten, um kontaktlos bezahlen zu können“, wie der Verband in einer Pressemitteilung schreibt.
Belegen lassen sich diese Zahlen durch einfache Alltagstests: Wer heute bei älteren Verwandten nachfragt, ob sich während der Corona-Krise ihr Einkaufsverhalten geändert hat, wird in vielen Fällen erfahren, dass es zu den Premieren des Jahres 2020 gehört, erstmals den Lieferservice des Supermarkts, den Online-Dienst des lokalen Buchladens oder das Angebot eines E-Commerce-Riesens genutzt zu haben. Was auffällt: Die Mischung macht’s. Zu den Profiteuren zählen eben nicht ausschließlich die Handelsunternehmen, die eh eine große Marktmacht besitzen, auch eine Reihe von kleineren Händlern vor Ort berichten davon, dass der Online-Handel sie in dieser schweren Zeit nicht nur über die Runden gebracht, sondern auch neue Potenziale aufgezeigt hat.
Mit alten Mustern brechen
So lässt sich bei allen Problemen und den nicht zu vermeidenden Insolvenzen einiger Handelsunternehmen auch ein zuversichtliches Zwischenfazit in dieser Ausnahmesituation ziehen. Theresa Schleicher hat genau dies in ihrem neuen „Retail Report 2021“ getan. Die Geschäftsführerin des Consultingunternehmens VORN Strategy verfasst als Retail-Beraterin seit 2015 jährlich für das Zukunftsinstitut diese einflussreichen Reports über Entwicklungen und Veränderungen in der Handelslandschaft. Schon im Vorwort ihrer aktuellen Analyse macht die Autorin deutlich, wie sehr sich diese Publikation von den bisherigen Reports unterscheidet: In ihren Gesprächen mit Händlern sprach Theresa Schleicher über echte Existenzängste. Und doch fällt ihr Resümee optimistisch aus: „Es bewegt sich etwas. Neue Kräfte werden frei, weil der Handel aus alten Mustern ausbrechen muss.“
Eines dieser Muster ist die Eigenart des Handels, sich in bestimmten Bereichen als Einzelkämpfer zu sehen und die Unterscheidung zwischen Händler und Kunde zu manifestieren, statt sich Gedanken darüber zu machen, diese Beziehung neu zu denken. Corona habe dafür gesorgt, dass dieses häufig lähmende Muster an Kraft verliert: „Große und kleine Händler arbeiten zusammen“, schreibt Theresa Schleicher, „Kunden und Kundinnen initiieren Hilfsprogramme und bieten Unterstützung, unterschiedliche Branchen finden gemeinsame Wege. Plötzlich werden verkrustete Blockaden gelöst, Vorurteile und Konkurrenzdenken über Bord geworfen, wird gemeinsam nach Lösungen gerungen.“
Unterschiedliche Vertriebswege, verschiedene Touchpoints und Kommunikationskanäle haben die Unternehmen resilienter und adaptionsfähiger für überraschende Krisensituationen gemacht.
Diversität steigert Resilienz
Diese neue Lösungskompetenz im Handel werde auch nötig sein, denn eines sei klar, schreibt die Retail-Expertin: „Eine Rückkehr zum business as usual wird es nicht geben. Zu sehr hat sich das Konsumverhalten der Menschen durch die Krise geändert.“ Schließlich habe die Krise die „größten Painpoints des Handels“ offengelegt, die Punkte also, an denen einige Akteure der Branche schmerzlich erfahren müssen, die notwendigen Schritte des Wandels bisher nicht unternommen zu haben. Theresa Schleicher stellt fest: Wer auch heute noch in der Kategorie „stationärer versus Online-Handel“ denkt, nehme sich in der Krise viele Möglichkeiten, das Geschäft den ungewöhnlichen Begebenheiten anzupassen. „Unterschiedliche Vertriebswege, verschiedene Touchpoints und Kommunikationskanäle haben die Unternehmen dagegen resilienter und adaptionsfähiger für überraschende Krisensituationen gemacht“, schreibt die Autorin des Reports.
Lieferservice – aber sozial und ökologisch
Egal, welche Art von Produkt man sich als Konsument liefern lässt, noch meldet sich zuverlässig das schlechte Gewissen, um nachzuhaken, wie klimaschädlich diese Lieferung ist und ob der Lieferant angemessen bezahlt wird. Weil nach und nach alle Bereiche des Handels und der Dienstleistungen ihren ökologischen und sozialen Input offenlegen, wird der Online-Handel schon bald in Teilbereichen auf neue Arten des Lieferservices setzen, der nicht nur schnell und zuverlässig ist, sondern das Klima schützt und die Mitarbeiter angemessen bezahlt. Ideen sind hier, Privat- oder Dienstfahrten mit Lieferungen zu kombinieren oder in den Städten „Zwischenlager“ zu etablieren, damit immer mehr Kuriere den letzten Kilometer zum Kunden mit dem Rad zurücklegen können.
Die Krise wirke also in zahlreichen Fällen als Trendbeschleuniger: „Der E-Commerce wird befeuert, digitale Technologien dienen als Instrument, um mit Konsumentinnen und Konsumenten Kontakt aufzunehmen, bargeldlose und kontaktlose Bezahlverfahren setzen sich mehr und mehr durch, die Glokalisierung und Local Commerce erleben einen neuen Aufschwung.“ Zu besonders interessanten neuen Akteuren werden in dieser Hinsicht Plattformen wie Locamo oder Atalanda, die Handelsunternehmen dabei unterstützen, in ihrer jeweiligen Region im E-Commerce-Bereich Fuß zu fassen. Der Schlüssel ist hier also die geografische Nähe zwischen Warenproduktion, Handel und den potenziellen Kunden.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Logistik wird nicht nur vereinfacht, durch jeden gesparten Kilometer Warenweg wird zusätzlich der CO2-Fußabdruck kleiner. Zwar zeigt eine Studie des Deutschen CleanTech Instituts von Ende 2019, dass der Online-Versand bei den CO2-Emissionen trotz der hohen Retourenquote unter denen des stationären Einzelhandels liegt. Dennoch ist laut der Untersuchung jeder im Netz gekaufte Versandartikel für rund 0,4 Kilogramm CO2-Ausstoß verantwortlich, wobei zu dieser Rechnung noch die Emissionen hinzugezählt werden müssen, die entstehen, wenn digitale Infrastrukturen aufgerüstet und Endgeräte beschafft werden. Klar ist daher: Je kürzer der Weg des Produkts zum Kunden, desto klimaverträglicher ist der Handel. Und: Desto besser können die Händler planen, weil es ihnen leichter fällt, den regionalen Bedarf abzuschätzen und das Sortiment dementsprechend zu bestücken.
Neue digitale Kooperationen
Auffallend ist dabei, dass sich im Bereich Local-E-Commerce genau die neuen Partnerschaften zeigen, von denen Theresa Schleicher in ihrem Retail-Report schreibt. So kooperiert zum Beispiel der E-Commerce-Dienstleister Atalanda mit DHL, deren Initiative „DHL lokal handeln“ darauf abzielt, regionale Anbieter zu unterstützen. Auch arbeitet die Plattform mit dem Spielwarenunternehmen Vedes zusammen, das digitale Shopping-Lösungen für kleinere lokale Händler bietet. Noch ist unklar, ob diese neuen Partnerschaften am Ende wirklich dazu führen, dass der lokale Handel erstarkt. Möglich wäre es ja auch, dass auf diesem Weg die Kleinen von den großen Dachmarken geschluckt werden. Offensichtlich ist aber, dass sich der Handel dieser Dynamik stellen muss, was Nachwuchskräften gute Chancen bietet, vom Start weg an diesem Wandel mitzuarbeiten und ihn durch eigene Ideen zu prägen.
Die Rückkehr des Milchmanns
Ganz gezielt wirbt das niederländische E-Commerce-Unternehmen Picnic mit dem Bild des Milchmanns, der jeden Tag zu einer festen Zeit ins Viertel kommt, um zuverlässig und günstig regionale Lebensmittel zu bringen. Als Bringdienst kooperiert das auch in Deutschland expandierende Unternehmen mit lokalen Bauern und Bäckern; anders als beim klassischen Milchmann werden die Routen der elektronisch betriebenen Lieferfahrzeuge digital errechnet und immer wieder optimiert.
Wichtig ist dabei, mit den Innovationen nicht ausschließlich auf die jüngere Zielgruppe zu zielen. Im Retail-Report zeichnet Theresa Schleicher eine Perspektive für den Handel, in dem insbesondere der Megatrend Silver Society für Aufschwung sorgt. „Wenn wir ehrlich sind, ist unsere Konsumlandschaft und dementsprechend unsere Wirtschaft auf ganz bestimmte Käuferschichten spezialisiert: Den 35-jährigen familienorientierten Kunden oder die 25-jährige Fashionista, die neue Trends setzt und damit die perfekte Konsumentin abbildet“, stellt die Retail-Expertin fest. Mit Blick auf den demografischen Wandel stelle sich die Frage, ob diese Ausrichtung noch haltbar sei: „Die globale Zukunft wird vom Megatrend Silver Society geprägt sein. 2050 wird die Lebenserwartung weltweit auf 77,1 Jahre steigen. 16 Prozent der Menschen sind dann über 65 Jahre alt, in Europa und Nordamerika könnte es sogar jeder Vierte sein.“
Dem Handel stellt sich die Sinnfrage
Vergessen Sie das Alter! Lösen Sie sich von Gender-Stereotypen! Überlegen Sie sich hingegen, welche Werte Ihnen als Unternehmen wichtig sind.
Muss der Handel also gezielt die älteren Konsumenten neu entdecken? Theresa Schleicher findet: Ja, aber nicht nur. Eine Ansprache der „Silver Ager“ sei wichtig, jedoch denkt die Expertin darüber hinaus an ein Post-Gender/Post-Age-Marketing: Für die heutige Generation „55plus“ seien Themen wie „Gesundheit, Wohlbefinden und Fitness, lebenslanges Lernen sowie Nachhaltigkeit und Qualität statt Quantität wichtig“ – und diese Aspekte beißen sich nicht mit den Ansprüchen der jungen Generation, im Gegenteil: Theresa Schleicher ist davon überzeugt, dass sich in dem, was die Menschen als Konsumenten erwarten, die Generationen in naher Zukunft viel stärker annähern werden, als es in den vergangenen Jahren der Fall war. Diese Entwicklung gibt demografisch vielfältig besetzten Belegschaften in der Retail-Branche ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten, den Handelsunternehmen gibt Theresa Schleicher daher folgenden Ratschlag mit auf den Weg: „Vergessen Sie das Alter! Lösen Sie sich von Gender-Stereotypen! Überlegen Sie sich hingegen, welche Werte Ihnen als Unternehmen wichtig sind.“ Damit rückt für den Handel verstärkt die Sinnfrage ins Zentrum: Akteure, die auf diese Frage gute Antworten finden und denen es gelingt, diese an ihre Kunden zu kommunizieren, werden von der neuen Dynamik des Handels profitieren.