Josef Sanktjohanser hat den Handel von der Pike auf gelernt, schon seine Eltern führten einen Lebensmittelladen in seiner Heimat im Westerwald. Der heute 69-Jährige hat sich bis in den Vorstand der Rewe-Gruppe hochgearbeitet, seit 2006 ist er Präsident des Handelsverbands Deutschland (HDE). Im Gespräch führt er aus, warum noch immer viele Händler gar nicht online präsent sind, was die Künstliche Intelligenz in der Branche bewirken kann und warum man im Handel anpacken können muss. Das Interview führte André Boße.
Zur Person
Josef Sanktjohanser (Jahrgang 1950) ist seit dem 30. Oktober 2006 Präsident des Handeslverbands Deutschland (HDE). Von 2004 bis 2012 war er Mitglied des Vorstands der Rewe-Zentral AG und der Rewe- Zentralfinanz eG, Köln. Zum 30. Juni 2012 ist Josef Sanktjohanser planmäßig aus dem Vorstand der Rewe Group ausgeschieden. Nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Köln trat er als geschäftsführender Gesellschafter in das elterliche, mittelständische Lebensmittelhandel-Unternehmen Petz ein. 1986 wechselte er als Geschäftsführer zur Rewe-Handelsgesellschaft Koblenz. Von 1991 bis Februar 2004 leitete er Rewe- West und war in weiteren Führungspositionen als Niederlassungsleiter und Geschäftsführer in der Rewe-Gruppe tätig. Im Februar 2004 wurde er in den Vorstand berufen. Dort verantwortete er zuletzt die Geschäftsfelder Unternehmenskommunikation mit Public Affairs und Konzernmarketing. Heute wirkt Josef Sanktjohanser als Mitinhaber und Unternehmer in der Petz Rewe GmbH in Wissen mit.
Herr Sanktjohanser, die Digitalisierung ist für den Handel ein bestimmendes Thema. Wie beurteilen Sie aktuell die Entwicklung in diesem Bereich, sind die Handelsunternehmen gut aufgestellt?
Die Handelsunternehmen sind mit Blick auf die Digitalisierung sehr unterschiedlich aufgestellt. Generell ist es für größere Betriebe einfacher, die nötigen Investitionen in Technik und Personal zu stemmen oder sich extern beraten zu lassen. Dagegen haben insbesondere kleinere Handelsunternehmen oft Schwierigkeiten, die Herausforderungen der Digitalisierung zu bewältigen. Eine aktuelle Umfrage unseres Verbandes zeigt, dass zwei Drittel der Händler in Deutschland den Vertriebsweg Internet gar nicht für sich nutzen, darunter insbesondere viele mittelständische Unternehmen. Das kann dramatische Auswirkungen haben, denn wer heutzutage nicht im Internet vertreten ist, existiert für viele Kunden gar nicht mehr. Die Kunden erwarten, dass sie den Händler in der Fußgängerzone und im Internet finden – je nach Bedarf und Zeit. Deshalb sollte der Mittelstand bei seinem weiteren Weg in die Digitalisierung unterstützt werden.
Wie kann das geschehen?
Die Bundesregierung ist mit ihrem etablierten Netzwerk der Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren auf dem richtigen Weg, der HDE ist hier als Konsortialleiter mit an Bord. Im Rahmen der Initiative werden zahlreiche Workshops und Schulungen angeboten. Die Unternehmen, die sich ein Online-Standbein aufbauen, profitieren in vielen Fällen enorm. Dabei setzen nicht alle Händler gleich auf den eigenen Online-Shop, viele verkaufen ihre Ware auch über bestehende Online-Plattformen oder Marktplätze.
Welche weiterführenden Digitalisierungsthemen sind Ihrer Meinung nach von besonders großer Bedeutung?
Ein zentrales Thema ist die Nutzung Künstlicher Intelligenz. Noch stehen wir da am Anfang, ein Großteil der Technologien wird erst erprobt. Aber das Potenzial ist bereits jetzt deutlich sichtbar: Vereinfachung, Individualisierung und Beschleunigung beim Einkaufen. Beispielsweise mithilfe von Einkaufsrobotern, die die Kunden im stationären Handel schnell zur gesuchten Ware lotsen und erste Informationen geben können. Erste, derartige Roboter gibt es bereits heute. Auch bei Kaufempfehlungen, Einkäufen über Voice-Devices oder bei wetterabhängigen Bestellungen im Großhandel kommt Künstliche Intelligenz im stationären Handel sowie im Online-Handel bereits zum Einsatz. Technisch ermöglicht die Digitalisierung im Handel viele neue Chancen für eine individuellere Kundenansprache und noch passgenauere Logistik.
Technisch ermöglicht die Digitalisierung im Handel viele neue Chancen für eine individuellere Kundenansprache und noch passgenauere Logistik.
Inwieweit bremst das Thema Datenschutz die digitale Innovationskraft der Handelsunternehmen?
Eines vorweg: Datenschutz ist wichtig. Denn ohne das Vertrauen der Kunden in die Sicherheit ihrer Daten kann der Handel nicht erfolgreich weiterarbeiten. Wichtig ist, dass dabei das Gleichgewicht zwischen Datenschutz für die Verbraucher und berechtigtem wirtschaftlichem Interesse an den Daten stimmt. Und das ist derzeit eben nicht immer der Fall. Die Hemmschwelle vieler Händler, online zu gehen, liegt nach einer aktuellen HDE-Umfrage vor allem deshalb so hoch, weil die Anforderungen an den Datenschutz als sehr herausfordernd wahrgenommen werden. Hier verunsichert die Datenschutzgrundverordnung die Branche erheblich. Rechtssicherheit ist gerade für kleinere Unternehmen ohne Rechtsabteilung zur Herausforderung geworden. Hier muss die Politik Veränderungen vornehmen und Daten- und Verbraucherschutz neu austarieren. Bei zu viel Bürokratie wird Innovation unmöglich.
Wie sehr leidet die Handelsbranche unter dem Mangel an Fachkräften, die die Kompetenz mitbringen, Handelsund Digitalisierungs-Know-how zu kombinieren?
Natürlich braucht der Handel dringend Fachkräfte, die ein grundsätzliches Verständnis für die Branche und digitales Wissen mitbringen. Deshalb gibt es ja seit jetzt etwas mehr als einem Jahr den neuen Ausbildungsberuf Kauffrau und Kaufmann im E-Commerce. Wie groß der Bedarf ist, zeigt sich seitdem in der großen Nachfrage bei Unternehmen und Auszubildenden. Und auch bei den Fortbildungen haben wir demnächst den neuen Fachwirt im E-Commerce. Zudem werden die bereits bestehenden Ausbildungsberufe regelmäßig an den Stand der Technik angepasst.
Der Klimawandel ist ein weiteres Mega-Thema dieser Tage. Welche Rolle spielt der Handel, um in Deutschland eine „Klimawende“ hinzubekommen?
Beim Klimaschutz nimmt der Handel eine echte Vorreiterrolle ein. Vom Bundesumweltministerium veröffentlichte Zahlen zeigen, dass der Sektor Gewerbe, Handel, Dienstleistungen im Vergleich zu 1990 trotz Wirtschaftswachstums seinen CO2-Ausstoß mehr als halbiert hat. Das Klimaschutzziel einer Reduzierung des Ausstoßes um 55 Prozent bis 2030 hat der Sektor damit bereits heute fast erreicht. Und der Handel arbeitet weiter an diesem Thema: Um auch kleine und mittelständische Handelsunternehmen bei einem effizienteren Energiemanagement zu unterstützen, hat der HDE gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium die HDE-Klimaschutzoffensive gestartet, mit dem Ziel, Klimaschutz- und Effizienzmaßnahmen zu bündeln und so aufzubereiten, dass sie einfach umgesetzt werden können. Zudem soll eine Vielzahl von Veranstaltungen und Vorträgen Handelsbetriebe auf Einsparmöglichkeiten aufmerksam machen.
Die Kunden erwarten, dass sie den Händler in der Fußgängerzone und im Internet finden – je nach Bedarf und Zeit.
Erkennen Sie, dass die Kunden einen großen Wert auf möglichst klimaneutrale Einkäufe legen?
Die Kunden legen eindeutig immer mehr Wert auf nachhaltige Waren. Umfragen zeigen, dass viele Verbraucher auch bereit sind, dafür tiefer in die Tasche zu greifen. Der Handel reagiert auf diese Entwicklung und bietet mittlerweile auch Fair-Trade-Produkte flächendeckend in allen Sortimenten an. Klimaneutrale Waren sind momentan sicher noch eher ein Nischenprodukt.
Warum ist es gerade heute für Einsteiger besonders gewinnbringend, eine Karriere im Handel anzustreben?
Einsteiger haben im Handel so gute Karrierechancen wie in kaum einer anderen Branche. Beispielsweise haben mehr als 80 Prozent der Führungskräfte im Handel einmal mit einer Lehre in der Branche begonnen. Die Aufstiegschancen sind enorm. Außerdem ist der Handel eine Branche, die extrem spannend und wandlungsfähig ist. Der Handel muss jeden gesellschaftlichen Trend sofort aufnehmen und sich entsprechend anpassen. Mit 50 Millionen Kundenkontakten am Tag ist keine andere Wirtschaftsbranche näher am Puls der Menschen als der Handel. Deshalb ist es auch für alle Angestellten der Branche unerlässlich, gut mit Menschen zu können. Ohne Empathie und Freundlichkeit geht gar nichts.
Worauf kommt es noch an, wenn man im Handel Karriere machen möchte?
Der Handel ist eine sehr praktisch denkende Branche. Man muss auch mal zupacken können. Gleichzeitig sind – auch dank des globalisierten Online-Handels – immer mehr Unternehmen im internationalen Kontext tätig. Insofern werden auch Fremdsprachen immer wichtiger.
Kompetenzzentrum Handel
Noch immer ist eine Reihe von kleineren und mittleren Handelsunternehmen nicht oder kaum in Internet präsent. Die Initiative Kompetenzzentrum Handel will den Akteuren Impulse geben, selbstbewusst im Netz aufzutreten und die Chancen von E-Commerce zu nutzen. Zusammengeschlossen haben sich dafür der Handelsverband Deutschland (HDE) sowie Institute mit Schwerpunkt Handel, gefördert wird die Initiative vom Bundeswirtschaftsministerium. Zu den Kernfragen, bei denen das Kompetenzzentrum Handel hilft, gehören: Wie tickt mein Kunde heute und wie tickt der von morgen? Über welche Kanäle erreiche ich ihn? Welches CRM brauche ich zum Management meiner Kundendaten? Und was muss ich beim Thema Datenschutz beachten?