Vorteil Vielfalt

Der Wille ist da, doch noch bremsen zähe Unternehmenskulturen und strukturelle Hürden den Weg von mehr Frauen in die Top-Führungspositionen. Was hilft, ist immer wieder auf die Notwendigkeit zu pochen: Gelebte Diversität bringt Unternehmen in Sachen Pioniergeist und Innovationskultur voran. Gefordert ist aber auch die Gesellschaft, die lernen muss, den Gegensatz zwischen Erwerbs- und Familienarbeit zu überwinden. Von André Boße

Beginnen wir mit Zahlen. Die Studie „Frauen im Management in Industrie 4.0“ untersucht den Anteil von Frauen im Management von deutschen Unternehmen aus den Bereichen Elektrotechnik, Maschinenbau und Informationstechnologie – also genau den Branchen, in denen Innovationen und Pioniergeist gefragt sind. Die Studie zeigt, dass im Jahr 2016 der Anteil von Frauen im Top- sowie im mittleren Management bei 18,4 Prozent lag. 2006, also zehn Jahre zuvor, waren es 13,3 Prozent. Die Steigerung beträgt 5,1 Prozentpunkte. Man könnte sagen: Da ist noch Luft nach oben. Blickt man alleine auf das mittlere Management, liegt hier der Frauenanteil bei immerhin 26 Prozent. Wobei diese Zahl seit 2012 stagniert. Gering ist der Anteil von Frauen nach wie vor im Topmanagement: Im Zukunftsfeld Industrie 4.0 liegt er bei nur 7,2 Prozent.

Frauen in Vorständen

Eine Studie der Personalberater Korn Ferry zum Frauenanteil in den großen deutschen Unternehmen im Herbst 2016 bietet gute und weniger gute Nachrichten. Zuerst der negative Aspekt: In der Hälfte der DAX-Unternehmen gibt es im Vorstand nach wie vor überhaupt keine Frauen. Im MDAX (dem Aktienindex mittelgroßer Gesellschaften) ist das sogar in 88 Prozent der Unternehmen der Fall – nur sechs der 50 MDAX-Firmen haben weibliche Vorstandsmitglieder berufen. Das Positive: Die Mehrzahl der Vorstandsfrauen verantwortet operative Geschäftsbereiche. „Diese Frauen beweisen, dass sie Geschäft können“, sagt Floriane Ramsauer, Partnerin von Korn Ferry. „Mehr Offenheit bei Besetzungen wäre darum wünschenswert.“

MINT: Frauenanteil an der Spitze zu gering

Liegt es ganz banal daran, dass die Unternehmen zwar motiviert sind, diese Zahlen zu ändern, aber zu wenige Frauen im Rennen sind? Hier gibt ein Blick auf die Zahl der Absolventinnen in den ingenieurwissenschaftlichen Fächern Aufschluss: Seit Anfang der Nullerjahre liegt der Frauenanteil unter Hochschulabsolventen in den technischen Fächern bei mehr als 20 Prozent.

Zuletzt steigerte dieser sich noch einmal auf 23 Prozent. Knapp jeder vierte Absolvent ist also eine Absolventin – und das schon seit vielen Jahren. Im mittleren Management der technischen Unternehmen entspricht die Quote diesem Anteil; im Top-Management jedoch nicht einmal ansatzweise. „Dabei sind unter diesen Absolventinnen durchaus genügend hochqualifizierte und ambitionierte Frauen, die an die Spitze von Unternehmen gelangen und erfolgreich ihre Aufgabe erfüllen könnten“, sagt Dr. Ulrike Struwe, Leiterin der Geschäftsstelle des Nationalen Paktes für Frauen in MINT-Berufen „Komm, mach MINT“. „An den Zahlen wird deutlich, dass in den Unternehmen noch viel getan werden muss, um Frauen den gleichberechtigten Zugang zu höheren Positionen zu ermöglichen.“

Woran liegt es, dass gerade in den entscheidenden Führungspositionen in den technischen Unternehmen unverhältnismäßig wenige Frauen tätig sind? „Es zeigt sich, dass Unternehmenskulturen sehr zählebig sind“, begründet Ulrike Struwe.„Nachhaltige Veränderungen können daher nur erreicht werden, wenn strukturelle Veränderungen vollzogen werden und sich das Unternehmen als Ganzes zur Durchsetzung von Chancengleichheit verpflichtet.“ Dafür sei es unbedingt nötig, dass die ökonomischen Vorteile von mehr Frauen in Führungspositionen deutlich stärker kommuniziert werden.

Linktipps

www.womenindigital.org
www.generation-ceo.com
www.digitalmediawomen.de
www.dld-conference.com
www.globalfemaleleaders.com
www.initiative-chefsache.de
www.she-works.de
www.dibev.de
www.fidar.de

„Denn natürlich leidet eine echte Innovationskultur darunter, wenn Frauen aus höheren Positionen ausgeschlossen werden“, so Struwe. Die Vorteile gemischter Teams mit Blick auf den Pioniergeist und breitere Problemlösungsansätze könnten sich nur entfalten, wenn Frauen auf allen Ebenen im Unternehmen präsent sind. „Zudem wird eine diverse Unternehmenskultur – gerade im internationalen Umfeld – auch mehr und mehr zu einer Imagefrage“, gibt sie zu bedenken. Unternehmen, die beim Thema Diversity besonders träge wirken, geraten verstärkt in die Rolle, sich rechtfertigen zu müssen – zum Beispiel bei der Frage, warum das Top-Management weiterhin dermaßen männerdominiert ist.

Geht’s so weiter, haben Frauen erst 2087 aufgeholt

Dadurch entsteht eine neue Dynamik, die auch Dr. Anja Hartmann mit ihrem Blick auf die großen deutschen DAX-Konzerne positiv beurteilt. Die ehemalige Top-Beraterin von McKinsey ist heute als selbstständige Beraterin für viele DAX 30-Unternehmen tätig. „In meinen Gesprächen mit den Führungsgremien von Unternehmen beobachte ich, dass es immer selbstverständlicher wird, Frauen in die engere Auswahl einzubeziehen, wenn es um die Neubesetzung freier Positionen geht. Viele Unternehmen suchen sogar aktiv nach geeigneten Frauen. Das sind positive Zeichen, die Mut machen.“ Jedoch sei diese Tempoverschärfung auch notwendig: „Wenn sich die derzeitige Entwicklung linear fortsetzt und nicht exponentiell beschleunigt, müssten wir damit rechnen, dass es noch rund 70 Jahre dauert, bis ein Frauenanteil von 50 Prozent erreicht ist – und das ist viel zu langsam.“

Finanzsektor:
Aufholbedarf bei Frauenanteil

Zwar stellen Frauen in den Banken und Versicherungen nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Mehrheit der Beschäftigten, jedoch liegt der Anteil von Frauen in den Spitzengremien weiterhin zurück. In den Aufsichts- und Verwaltungsräten der 100 größten Banken des Landes lag der Frauenanteil im Jahr 2016 bei gut 21 Prozent. Das ist nicht mehr als im vorangegangenen Jahr und neun Prozentpunkte hinter der anvisierten Quote von 30 Prozent. Bei den 59 größten Versicherungen gab es immerhin einen Anstieg um drei Prozentpunkte auf etwas mehr als 22 Prozent. In den Vorständen blieb der Frauenanteil mit gut acht Prozent bei den Banken und fast zehn Prozent bei den Versicherungen sehr niedrig.

Anja Hartmann ist Beraterin und Coach, sie hat ihr eigenes Consulting-Unternehmen Bucketrider gegründet und spricht intensiv mit den Top-Managerinnen und -Managern der großen Konzerne. Dabei stellt sie fest, dass es für keine Management-Ebene zielführend ist, weiterhin über geschlechtsspezifische Unterschiede in der Führungskultur zu sprechen. Auf ihrer Homepage bringt sie ihre Einstellung humorvoll auf den Punkt:„Ich denke nicht, dass sich Frauen vom Menschen an sich unterscheiden.“

Was sie beobachtet, sei ein allgemeiner Trend zu einem Wandel von Führungs- und Unternehmenskulturen: weg von hierarchischen Command & Control-Strukturen und starren Prozessen, hin zu flacheren und vernetzten Organisationsformen und flexibleren, agileren Arbeitsformen. Jede Führungskraft – egal ob Mann oder Frau – tue gut daran, den eigenen Führungsstil mit diesen veränderten Rahmenbedingungen abzugleichen und an der Weiterentwicklung der eigenen Führungspersönlichkeit zu arbeiten.

„Für die einen mag das heißen, mehr zuzuhören, besser auf andere einzugehen oder die eigene Position häufiger in Frage zu stellen. Für die anderen, dieeigenen Überzeugungen klarer auszusprechen, Erwartungen deutlich zu kommunizieren oder sich in der Entscheidungsfindung weniger von anderen beeinflussen zu lassen.“ Für Anja Hartmann steht der Begriff Diversität längst nicht nur für eine oberflächliche Ausgeglichenheit von Männern undFrauen.„Er impliziert die Überzeugung, dass jedes Team, jeder Prozess und jedes Unternehmen besser wird, wenn die Diskussions- und Entscheidungskultur darauf ausgelegt ist, verschiedene Perspektiven nicht nur zuzulassen, sondern aktiv einzufordern.“

Unternehmen müssen Trägheit ablegen

So logisch der Mehrwert von Diversität erscheint, so klar ist aber auch, dass es auf dem Weg zur Vielfalt weiterhin strukturelle Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Sonst wird Diversität zu einer Wunschvorstellung. Ulrike Struwe hat in ihrer Position als Leiterin von „Komm, mach MINT“ sehr häufig mit jungen Frauen zu tun. Dabei stellt sie fest, dass sich die Forderungen vieler ambitionierter Nachwuchskräfte seit Jahren gleichen. „Ein Punkt, der nun unbedingt angegangen werden muss, weil damit eine permanente Missachtung der Leistungen von Frauen einhergeht, ist die Abschaffung der Lohnungleichheit“, sagt sie.

Viele Frauen wünschten sich zudem eine gute Einarbeitung auf allen Karrierestufen sowie Unterstützung beim Aufstieg auf der Karriereleiter. Hier könnten Unternehmen durch spezielle Angebote viel erreichen.„Ein weiteres zentrales Thema für junge Frauen bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, so Struwe. Auch hier müssten Arbeitgeber tätig werden:„Einige der Unternehmen unseres Pakts haben betriebseigene Kindergärten etabliert oder arbeiten mit einem Familienservice zusammen, um ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schnelle und flexible Hilfe bei der Betreuung von Kindern anzubieten. Solche Modelle finden großen Zuspruch.“

Viel Nachholbedarf gebe es jedoch noch beim Thema Elternzeit: „Besonders Männer erhalten seitens der Unternehmen viel zu wenig Unterstützung dabei, dieses Angebot zu nutzen oder nach der Geburt eines Kindes andere Arbeitszeitmodelle einzugehen“, sagt Ulrike Struwe. Im Gegenteil werde Vätern oftmals unterschwellig das Gefühl vermittelt, sie schaden ihrer Karriere, wenn sie diese Möglichkeiten wahrnehmen. „Auch hier sollte unbedingt ein Umdenken in den Unternehmen erfolgen.“

Neuer Blick auf die Arbeit

Top-Beraterin Anja Hartmann ist überzeugt, dass sich auch der gesellschaftliche Blick auf die Arbeit ändern muss: „Entscheidend wird sein, dass es uns als Gesellschaft gelingt, den Gegensatz zwischen Erwerbsarbeit und Familienarbeit zu überwinden. Beide Formen der Arbeit tragen schließlich gleichermaßen zum Funktionieren der Gesellschaft sowie zum Wohlbefinden und Wohlstand der Einzelnen bei.“ Die Unterscheidung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit stammt noch aus dem 19.Jahrhundert, als die Industrialisierung die Arbeitsplätze aus dem unmittelbaren Lebensumfeld hinaus in die Fabriken verlagerte. „Heute“, so Hartmann,„sehen wir dagegen einen Trend, Arbeit und Familie wieder näher aneinanderzurücken.“

Home-Office-Arbeitsplätze oder IT-Berufe seien Beispiele für eine neue, deutlich weniger ortsabhängige Form von Arbeit. Die Möglichkeiten sind also bereits vorhanden, nun stehe jeder – ob Mann oder Frau – vor der Aufgabe, eine Balance aus Familienzeit, bezahlter Arbeit und Selbstverwirklichung zu finden. „Gesellschaft, Politik und Unternehmen sind gefragt, einerseits Mechanismen zur Verfügung zu stellen, um diese Gestaltungsfreiräume zu ermöglichen, und andererseits bewusst darauf zu achten, verschiedene Lebensentwürfe gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen“, sagt Anja Hartmann – und formuliert konkrete Ideen für Verbesserungen: Der Staat müsse Kindererziehung und Pflege Angehöriger konsequent anerkennen, die Unternehmen müssten flexible Arbeitsmodelle garantieren, räumlich wie zeitlich. Das sind echte Herausforderungen. Doch Anja Hartmann ist optimistisch:„Wir leben in einer Zeit, in der viele Familien- und Arbeitsmodelle nebeneinander möglich sind – wir sollten das als Chance sehen und nutzen.“

Frauen und Innovation: neueste Studie von BCG

Je mehr Frauen erwerbstätig sind, desto mehr Innovation gibt es in dem jeweiligen Land, das besagt die Studie „The Mix That Matters: Innovation Through Diversity“ der Boston Consulting Group (BCG) und der Technischen Universität München (TUM). Laut Studie liegt Deutschland mit einer Frauenerwerbsquote von knapp 70 Prozent im Mittelfeld und nutzt im weltweiten Vergleich nicht sein Innovationspotenzial. Anders sieht es in Skandinavien aus – die drei Spitzenreiter sind Schweden, Island und Norwegen. Dort gibt es überdurchschnittlich viele arbeitende Frauen. Aufholen müsse Deutschland vor allem beim Anteil von Frauen in Führungspositionen und Gehältergleichheit. Die Skandinavier machen es vor: Innovation und Wachstum gehen dort einher mit gezielter Frauenförderung, geregelten politischen Rahmenbedingungen und Infrastruktur sowie der gleichberechtigen Aufgabenteilung von Männern und Frauen.

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