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Macht oder Ohnmacht?

Dr. Rebekka Reinhard ist Philosophin. Als Referentin, Vortragsrednerin und Beraterin für internationale Unternehmen und Führungskräfte beschäftigt sie sich mit den Themen Persönlichkeit, Führung, Ethik und Female Empowerment. In ihrem Gastartikel erklärt sie, warum Frauen aufhören sollten, sich permanent selbst zu optimieren und perfekt sein zu wollen. Von Dr. Rebekka Reinhard

„Es steht fest, dass es Frauen gibt, deren Gehirn ebenso groß ist wie das irgendeines Mannes“, schrieb der britische Philosoph und Frauenfreund John Stuart Mill 1869. Inzwischen hat die Forschung beträchtliche Fortschritte gemacht. Heute wissen wir, dass die moderne Frau nicht nur zu erstaunlichen Denkleistungen fähig ist, sondern zu weit mehr. Es gibt heute Konzernlenkerinnen, eine Bundeskanzlerin, Nobelpreisträgerinnen – und ab November möglicherweise die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika.

Dr. Rebekka Reinhard, Foto: Peter Lindbergh
Dr. Rebekka Reinhard, Foto: Peter Lindbergh

Rebekka Reinhard hat Amerikanistik, Philosophie und Italianistik studiert und in Amerikanistik promoviert. Sie war unter anderem als philosophische Beraterin für Krebs- und Burnout-Patienten tätig und ist Autorin und Redakteurin des Philosophie-Magazins HOHE LUFT. Sie meint: Frauen sollten sich trauen, mächtig zu sein. Denn Macht zu haben, bedeutet, das eigene Leben zu gestalten. Ohne Macht kein Glück, keine Freiheit, keine echte Anerkennung.
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Weltweit boomen „Diversity“, „Gender Shift“ & Co. Dass der modernen Frau die Zukunft gehört, gilt als sicher. Warum? Weil sie wie kein anderes Lebewesen durch soziale Kompetenz, Engagement, Empathie und Multitasking-Skills besticht und hochambitioniert ist.

Mit Anfang zwanzig wollen wir einen Job, der sinnvoll ist und Spaß macht, eine solide Beziehung und tolle Freunde. Problemlösungsorientiert, wie wir sind, bemühen wir uns im Studium um gute Noten, damit wir später im Job zügig vorankommen – und uns bloß kein negatives Feedback einhandeln. Die Jahre vergehen. Wir verlassen die Universität, doch die Prüfungen hören nicht auf. Nur heißen sie jetzt nicht mehr „Neurologie und Neurochirurgie 2“ oder „Technik des betrieblichen Rechnungswesens“ sondern „Perfekt über Nacht“ oder „Ohne Schlaf durch die Verhandlung“.

Mit Mitte, Ende zwanzig möchten wir unser Wirken nicht als Erfüllung einer Notwendigkeit sehen, sondern als Berufung – bis wir plötzlich ein Kind wollen und vor der wichtigsten Prüfung überhaupt stehen: der Vereinbarkeit von gut bezahltem, sinnigem Beruf und harmonischem Familienleben. Unsere Ansprüche sind hoch, auch die an uns selbst. Spätestens jetzt müssen wir uns entscheiden: Wollen wir Macht – oder Ohnmacht? Das Wort Macht stammt vom gotischen „magan“ für „machen“ oder „können“ ab. Macht ist eine Fähigkeit. Ein Vermögen. Es ist die Potenz, Einfluss zu nehmen, etwas zu bewirken, zu gestalten, zu verändern. Ohne Macht kein Glück, keine Freiheit, keine echte Anerkennung. Wenn die Zukunft wirklich uns gehören soll, brauchen wir mehr Mut zur Macht.

Ihr aktuelles Buch:

Dr.-Rebekka Reinhard, Kleine Philosophie der Macht, Cover: Ludwig
Dr.-Rebekka Reinhard, Kleine Philosophie der Macht, Cover: Ludwig

Dr.-Rebekka Reinhard, Kleine Philosophie der Macht, Cover: Ludwig

Zu den größten Hindernissen weiblicher Potenzialentfaltung zählen das Lechzen nach positivem Feedback genauso wie die uns eigene hohe Problemlösungskompetenz. Wir können so viel, dass dieses Viele uns beinahe unterjocht. Je älter wir werden, je professioneller wir uns in die Rolle der Karrieristin, Partnerin oder Mutter einfinden, desto mehr tun wir uns in den Fächern „vorauseilende Pflichterfüllung“ und „Delegieren“ hervor. Wir delegieren einfach alles an uns selbst! Und zwar so schnell wie möglich. Wir rennen zur Arbeit, in den Supermarkt, in die Kita, um anschließend noch schnell die Wäsche zu machen und die Wände zu streichen. Warum? Damit wir perfekt sind. Wozu? Damit wir uns nichts vorzuwerfen haben und alle uns mögen.

Wenn wir an diesem abstrusen Sachverhalt etwas ändern wollen, sollten wir die Ohnmachtposition in Richtung Macht verlassen. Zu diesem Zweck brauchen wir uns nur einer Körperregion zuzuwenden, die wir vor lauter Diszipliniertheit zu lange vernachlässigt haben: unserem Gehirn. Einem Ort, der von Selbstzweifeln und Optionen-Wälzen derart verstellt ist, dass die brillanten Ideen dahinter kaum noch zu erahnen sind. Wie das geht?

Schalten Sie Ihr Hirn auf Stufe fünf. Stoppen Sie die überflüssige Selbstoptimierung. Filtern Sie aus den vielen Ansprüchen an Ihr Leben die wahren Prioritäten heraus: Machen Sie sich frei vom Über-Perfektionismus (den 100% auf jedem Gebiet), bei dem das Wort „Müssen“ eine zentrale Rolle spielt. Denken Sie nicht länger „Eigentlich will ich ja dies und das … nur leider muss ich jenes tun.“ Stellen Sie sich die philosophische Grundfrage: „Wofür lebe ich?“

Lassen Sie die Frage auf sich wirken (ohne zu googeln!) – denken Sie selbst, experimentieren Sie, lösen Sie sich von der Meinung anderer, tun Sie das, was Ihnen wichtig erscheint und respektieren Sie sich dafür. Wenn Sie sich selbst nicht liken, tut es keiner für Sie. Legen Sie den Slow-Motion-Gang ein: Lassen Sie sich von den vielen Möglichkeiten, die Ihnen offenstehen, bloß nicht hetzen. Das rasche, steife Marschieren ungeduldiger Frauen ist kein Zeichen von Macht, sondern von Ohnmacht. Stellen Sie die Schnappatmung ab. Pflanzen wachsen nicht schneller, wenn man an ihnen zieht. Geben Sie sich Zeit. Keiner verlangt von Ihnen, dass Sie spätestens mit fünfunddreißig eine zweifache verheiratete Working Mom mit optimaler Work-Life-Balance sind.

Machtvoll ist nicht die Frau, die alles möglichst noch gestern zu erzwingen sucht. Sondern jene, die die Souveränität besitzt, auch mal zu warten und zu vertrauen. Sagen Sie überkommenen geschlechtsspezifischen Stereotypen (z. B. „Frauen sind artig“) den Kampf an – vor allem, wenn Sie in einem Bereich arbeiten, wo Männer das Sagen haben.

Signalisieren Sie in jeder Konferenz, jedem Meeting Leuten, die noch in den 1950er Jahren leben, Zero Tolerance. Seien Sie eine der ersten, die das Wort ergreift. Reagieren Sie, wenn ein männlicher Kollege Ihre Ideen nachplappert (die Sie eine Minute zuvor geäußert haben). Machen Sie den Mund auf: Zeigen Sie den Plagiator an und beharren Sie auf Ihrem Urheberrecht für Ihre Gedanken. Haben Sie Mut zur Macht. Tun Sie, was Sie vermögen. Für sich selbst. Und für Ihre Kolleginnen, Freundinnen und Töchter.

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