Es schien eine ausgemachte Sache gewesen zu sein: Immer mehr Frauen gelangen in Führungspositionen, es entsteht eine nicht zu stoppende Welle, die gut für die Unternehmen und die Gesellschaft ist. Jetzt jedoch zeigen Studien: Die Dynamik legt nicht weiter zu. Mehr noch: Gender-Themen verlieren sich im Klein-klein. Was nun? Unternehmen müssen wissen, was sie verlieren, wenn sie den Gender Shift negieren. Und die Frauen bereiten sich auf einen zweiten Anlauf vor, um endlich Gerechtigkeit herzustellen. Ein Essay von André Boße
Wer sich einen Trend vorstellt, sieht vor dem geistigen Auge eine Kurve, die konsequent nach oben zeigt. Eine solche Steigerungsrate scheint die logische Vorstufe eines jeden Trends zu sein. Der Duden definiert, ein Trend verlaufe „in eine bestimmte Richtung“. Klar, es gibt auch Abwärtstrends, die nach unten führen. Aber wenn etwas im Trend liegt, dann entwickelt es sich dynamisch nach oben. Denkt man. Und damit zum Megatrend Gender Shift. Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut definieren und analysieren in ihren jährlich erscheinenden Zukunftsreports diese so genannten Megatrends. Dabei wissen die Autor*innen des Reports um die Wirkung des Begriffs.
Feministische Aussenpolitik
Anfang März stellte das Auswärtige Amt die Leitlinien für eine Feministische Außenpolitik vor. Darin geht es auch um die Teilhabe von Frauen an den zentralen Prozessen. So heißt es in den Leitlinien: „Wir bilden Netzwerke in der internationalen Wirtschaftspolitik und fördern die Teilhabe von Frauen und Angehöriger marginalisierter Gruppen in Wirtschaftsprozessen.“ Das Auswärtige Amt gibt sich den Auftrag, für Gleichstellung, Diversität und Inklusion im Auswärtigen Dienst zu arbeiten: „Wir erhöhen stetig den Anteil von Frauen in Führungspositionen. (…) Wir fördern Vielfalt in den eigenen Reihen. Diverse Teams verstehen wir als Bereicherung für unsere Arbeit. (…) Wir schulen in Aus- und Fortbildung die Gender- und Diversitätskompetenz unserer Kolleg*innen, insbesondere der Führungskräfte.“
Sie schreiben, allein das Wort „Megatrend“ rufe im Kopf eine Art Trance hervor: „Er aktiviert unser Dopaminsystem – und unseren Herdentrieb, denn es muss sich um etwas wahrhaftig Großes handeln. Megatrend? Da muss ich mitmachen! Wo kann man das kaufen? Big Thing!“. Was einen Megatrend darüber hinaus auszeichne, definieren die Trendforscher*innen wie folgt: „Mega“ sei ein Trend dann, wenn er erstens Langfristigkeit biete, also über Jahrzehnte seine Wirkung entfalte. Wenn er, zweitens, in die Breite und Tiefe gehe – sprich nicht nur in einzelnen Branchen zu erkennen sei, sondern sich durch eine gewisse „Übergriffigkeit“ auszeichne. Und wenn er, drittens, ganzheitlich sei, was bedeutet, dass er „nie nur ‚gut‘ oder ‚schlecht‘“ sei, sondern immer auch Nebenwirkungen mit sich bringe.
Megatrend Gender Shift stagniert
Der Gender Shift ist einer der vom Zukunftsinstitut definierten Megatrends. In früheren Reports der Trendforscher*innen zur Jahrtausendwende trug dieser noch den Namen „Megatrend Frauen“, die positive Entwicklung schien ihm inhärent zu sein, die Autor*innen des Reports 2023 fassen es rückblickend so zusammen: Die Emanzipation in den westlichen Gesellschaften habe gesiegt, neue Gesetze stärkten Frauenrechte, immer mehr Frauen traten in die Arbeitswelt ein, machten Karrieren – auch welche, die einige Jahre zuvor noch kaum möglich gewesen wären. Und da auch global Fortschritte in der Mädchen- und Frauenbildung zu beobachten waren, brauchte man nicht viel Mut, um zu folgendem Schluss zu kommen: „Die Feminisierung der Gesellschaft schien eine gesicherte (Zukunfts-)Bank.“
Nachdem die gesetzliche Mindestbeteiligung für Vorstände 2021 für ordentlich Schwung gesorgt hatte, haben viele Unternehmen in ihren Bemühungen offenbar wieder nachgelassen.
Aber jetzt: Pustekuchen! „Die weibliche Emanzipation scheint zu stagnieren“, heißt es im Report des Zukunftsinstituts. Anzeichen dafür sind Abtreibungsverbote in den USA, männlicher Autoritarismus in der Politik, aber auch eine Dialogkultur in den Sozialen Medien, die Themen wie eine gendergerechte Sprache oder Parität diffamieren. Zudem, so schreiben es die Trendforscher*innen, „scheint der weibliche Aufstieg in der Erwerbswelt in vielen westlichen Ländern erlahmt zu sein oder sich gar umzukehren.“
Bemühungen der Unternehmen lassen nach
Aber Moment, stimmt das auch für Deutschland? Eine Antwort gibt das „DIW Managerinnen-Barometer“, eine Analyse der Gender-Verhältnisse in großen Unternehmen, erstellt vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Ende Januar 2023 publizierten die Forscher*innen das aktuelle Barometer, die Überschrift des Berichts lautet: „Der Weg zur Geschlechterparität bleibt weit.“ Zwar sei der Frauenanteil in den Vorständen und Aufsichtsräten großer Unternehmen in Deutschland im vergangenen Jahr erneut gestiegen: „Die 200 umsatzstärksten Unternehmen des Landes hatten im Spätherbst 2022 ihre Vorstände im Durchschnitt zu rund 16 Prozent und ihre Aufsichtsräte zu rund 31 Prozent mit Frauen besetzt.“ Im Vergleich zum vorherigen Jahr sei der Anstieg mit knapp einem beziehungsweise nur einem halben Prozentpunkt jedoch niedriger als ein Jahr zuvor.
Väterfreundlichkeit der deutschen Wirtschaft
Wenn es darum geht, in Unternehmen eine familienfreundliche Kultur zu etablieren, liegt der Fokus häufig auf Frauen. „Es gilt jedoch, auch die Väter in den Blick zu nehmen“, heißt es im Executive Summary einer Studie des Beratungs- und Analyseunternehmens Prognos. Die Untersuchung geht der Frage nach: „Wie väterfreundlich ist die deutsche Wirtschaft?“ Die Bedeutung des Themas für Väter zeigen folgende Zahlen aus der Studie: „Rund 450.000 Väter in Deutschland haben schon einmal den Arbeitgeber zugunsten einer besseren Vereinbarkeit gewechselt. Und mehr als 1,7 Millionen Väter denken darüber häufig oder zumindest manchmal nach.“ Diese Wechselbereitschaft sei in den Zeiten des Fachkräftemangels ein großes Unternehmensrisiko, reduzieren lässt es sich, indem „Unternehmen ihre Personalpolitik stärker auf die Erwartungen von Vätern ausrichten“. Potenziale dafür liegen, so die Studienautor*innen, insbesondere in den Bereichen der Kommunikation und der Unternehmenskultur. Zudem falle Führungskräften eine Vorbildfunktion zu. „Väter berichten von einem Nachholbedarf der Führungskräfte, wenn es um deren Engagement für die Vereinbarkeit geht.“
Die Analyse kommt daher zu dem Schluss: „Nachdem die gesetzliche Mindestbeteiligung für Vorstände 2021 für ordentlich Schwung gesorgt hatte, haben viele Unternehmen in ihren Bemühungen offenbar wieder nachgelassen.“ Besagte Mindestbeteiligung ist Teil des Zweiten Führungspositionen-Gesetzes der Bundesregierung. In einem auf der DIW-Homepage veröffentlichten Interview erklärt Virginia Sondergeld, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DIW-Forschungsgruppe Gender Economics wie folgt: „In den Vorständen der börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen mit einem mindestens vierköpfigen Vorstand muss seit August 2022 beim nächsten freiwerdenden Posten eine Frau beziehungsweise ein Mann berufen werden, sofern das jeweilige Geschlecht im Vorstand noch nicht vertreten ist.“
Diese Bestimmung hätten viele Unternehmen bereits im Jahr 2021 antizipiert und in der Folge eine Vorständin berufen. „Dadurch war der Anstieg damals relativ groß“, wird Virginia Sondergeld zitiert, „danach haben die Unternehmen mit ihren Bemühungen aber offenbar schon wieder nachgelassen.“ Das könne allerdings nicht der einzige Grund für die nun schon wieder nachlassende Dynamik sein. „Auch in Unternehmensgruppen wie den Banken, bei denen praktisch kaum Unternehmen von der Mindestbeteiligung betroffen sind, ging es mit Blick auf den Anteil der Vorständinnen 2022 nur noch um gut einen Prozentpunkt nach oben, während wir im Jahr davor noch einen Anstieg von über drei Prozent gesehen haben.
Auch in Unternehmensgruppen wie den Banken, bei denen praktisch kaum Unternehmen von der Mindestbeteiligung betroffen sind, ging es mit Blick auf den Anteil der Vorständinnen 2022 nur noch um gut einen Prozentpunkt nach oben.
Interessant ist dabei, dass die Wirtschaftsforscher*innen vom DIW bei ihrer Analyse zwischen zwei Arten von Unternehmen unterscheiden. So ließe sich einerseits eine „gleichstellungsorientierte Gruppe von Unternehmen identifizieren, die konkrete Maßnahmen für mehr Frauen in Führungspositionen in den gesetzlich vorgeschriebenen Berichten dokumentiert“. Andererseits gebe es eine „complianceorientierte Gruppe, die in erster Linie daran interessiert scheint, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen.“ Stagnation und Erlahmung? Die Daten des DIW zeigen, dass die Analyse des Zukunftsinstituts auch in Deutschland nicht von der Hand zu weisen ist. Zumindest fehlt es an einer Eigendynamik, die nicht nur entsteht, weil die Gesetzeslage danach verlangt, sondern weil die Unternehmen den Mehrwert erkennen, den gleichberechtigt besetzte Führungspositionen bieten.
Frauen in Führung bringen Mehrwert
Dass es diesen Mehrwert gibt, bestätigte Ende 2022 das österreichische Institut für Wirtschaftsforschung Economica, deren Forscher*innen eine Vielzahl von Studien sichteten und zu dem Schluss kamen, dass „Frauen in Führungspositionen einen Mehrwert und Wettbewerbsvorteil darstellen – für das einzelne Unternehmen, die Branche, die Volkswirtschaft und die Gesellschaft“. Dabei könnten durch einen gesteigerten Frauenanteil in hohen Managementpositionen nicht nur der Umsatz positiv beeinflusst, sondern auch „Nachhaltigkeitsaspekte vorangetrieben und Chancengleichheit sowie Zufriedenheit des Personals bestärkt werden“, heißt es in der Conclusio der Economica-Untersuchung „Frauen in Führungspositionen“. Warum also wird der Megatrend Gender Shift abgebremst, obwohl er den Unternehmen zugute kommen würde?
Zurück zum Zukunftsreport der Trendforscher*innen vom Zukunftsinstitut: Gender Shift verliere sich als Megatrend in einer „Rekursionsschleife“, heißt es dort. Solche Schleifen ergeben sich, wenn eine Person mit einem Spiegel vor dem Bauch einem Wandspiegel gegenübersitzt. Das Spiegelbild verliert sich im Kleinen, und genau diesen Effekt beobachte man auch beim Megatrend Gender Shift: Megatrends können steckenbleiben, „indem sie sich sozusagen im Kreis drehen“, heißt es im Report. Das zeige sich auch daran, dass es in der Frauenbewegung selbst aktuell zu Streits und Brüchen komme: „Emanzipierte Frauen plädieren plötzlich für die entschiedene Mutterschaft, und die Frage, wie viele Geschlechter es gibt, wird zu einem hässlich ausgetragenen Kulturkampf.“ Auch sei das Gender-Thema durch seine „Erweiterung in den LGBT+-Bereich in eine komplizierte Schleife aus Identitätsideologie und moralische Panik geraten“ – ein Umstand, der den „Rollback gegen die Emanzipation“ in den kommenden Jahren noch verstärken könne.
Alle Kraft in zweiten Anlauf
Was das für die Zukunft von Frauen auf ihrem Weg in Führungspositionen bedeutet? Die Trendforscher*innen sprechen sich entschieden dagegen aus, der Megatrend „Gender Shift“ drohe auszulaufen. Vielmehr sei mit einer „Renaissance der klassischen Frauenbewegung“ zu rechnen, formulieren die Autor*innen: „Vorauszusehen ist eine massive Rückkehr der Geschlechterkonflikte in ihrer Machtdimension, weg von kulturellen Detaildiskursen und sprachlichen Deutungsstreits.“ Weg vom Klein-klein, hin zur entscheidenden Frage: Was für eine Arbeitswelt wollen wir – und wieso sollten wir es uns leisten wollen, in der Arbeitswelt von morgen Frauen weiterhin zu benachteiligen? Das ist nämlich ungerecht. Schadet dem wirtschaftlichen Erfolg. Bremst die Transformation in eine nachhaltige, klimaneutrale Wirtschaft. Manche Megatrends, so die Expert*innen vom Zukunftsinstitut, benötigten halt einen zweiten Anlauf. Dann also: Ready, steady, go!
EQUAL PAY NOW!
Der „Gender Pay Gap“ ist weiterhin bittere Realität: 18 Prozent beträgt die Lohnlücke in Deutschland. Der Preis, den Frauen für den kleinen Unterschied zahlen? Ein bis zwei Eigentumswohnungen. Eine angstfreie, sichere Existenz. Die Rente. Die Journalistin Birte Meier hat selbst erlebt, was es bedeutet, gleichen Lohn für gleiche Arbeit einzufordern — und sich bis zum Bundesverfassungsgericht vorgekämpft. In ihrem Buch beschreibt sie, welche Erfahrungen sie und andere machten, die sich gegen ungleiche Bezahlung wehrten, wie die Bundesrepublik im internationalen Vergleich dasteht, und was die Politik nun unternehmen muss. Zudem zeigt das Buch auf, wie Frauen konkret gegen Lohndiskriminierung vorgehen können. Birte Meier: EQUAL PAY NOW! Endlich gleiches Gehalt für Frauen und Männer. Was wir jetzt tun können. Godmann 2023. 16,00 Euro.