Das digitale Mindset? Probieren, hinfallen, aufstehen, wieder hinfallen, weiter probieren – und vorankommen. Erfolg hat dabei nicht, wer seltener fällt, sondern wer sich immer wieder an neue Ziele, Regeln und Bedingungen anpasst. Die gute Nachricht für den Nachwuchs: Unternehmen brauchen Menschen, die dieses Mindset leben. Sie sind die Erfolgsfaktoren einer immer wieder digitalen Transformation, die immer wieder neu gelingt. Ein Essay von André Boße.
Vor einem Vierteljahrhundert, als die digitale Landschaft tatsächlich für viele noch „Neuland“ war, kam es vor, dass Unternehmen oder Privatmenschen stolz verkündeten, sie wären „jetzt auch im Internet“. Klar, das war für viele Organisationen ein großer Schritt. Es klang jedoch so, als sei die Vernetzung damit abgeschlossen, als setze der Anschluss ans World Wide Web einen Schlusspunkt, nach dem Motto: „Jetzt sind wir im Netz, jetzt sind wir am Ziel.“
Disruption ist im Digitalen angelegt
Blick man heute, im Jahr 2021, auf diese Zeit zurück, erkennt man: Das Ziel war damals noch sehr weit entfernt. Die Digitalisierung steckte noch in den Kinderschuhen, die wirklich wegweisenden Schritte folgten erst noch. Der Siegeszug des Smartphones zum Beispiel. Oder die Möglichkeit, zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt einen Großteil der Musik hören zu können, die jemals veröffentlicht wurde. Die spannende Frage ist nun: Wie weit sind wir 2021? Ist die Digitalisierung erwachsen geworden? Sind wir dem Ziel nahe? Gibt es überhaupt ein Ziel? Oder handelt es sich bei der digitalen Transformation um einen Prozess, der – hat er einmal eingesetzt – nicht mehr endet, weil in ihm die disruptiven Elemente angelegt sind, wie in einem Organismus, der sich ja auch immer verändert?
Um Antworten zu finden, ist es hilfreich, sich noch einmal klarzumachen, für was dieser Prozess überhaupt steht. Die Autor*innen der Studie „The Factlights“, durchgeführt von einem Team der Daten- und Digitalberatung Qunis, schlagen folgende Definition vor: „Digitalisierung bezeichnet die Transformation in ein Zeitalter, in dem alle Bereiche der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Staates und des Alltags einen Veränderungsprozess durch die Durchdringung digitaler Technologien erleben.“ In einigen Sektoren ist dieser Prozess schon ein gutes Stück vorangekommen. In anderen stockt die Entwicklung noch. Kurz: Die Digitalisierung ist nicht mehr neu. Aber sie ist noch weit davon entfernt, eine Art von Abschluss zu finden. Wobei es einen solchen wohl sowieso nicht geben wird.
Der Wert des digitalen Mindset
Die Autor*innen der Onestoptransformation-Studie haben den Versuch unternommen, den Wert eines hoch ausgeprägten digitalen Mindsets zu errechnen. Grundlage waren einmal die Unternehmenskennzahlen, dann die „personenbezogenen Mindset-Ausprägungen“, die für die Studie anhand von den sechs Merkmalen erhoben wurden. Das Ergebnis laut Studie: Alleine eine volle Entwicklung der Digital-Mindset-Dimension „Offenheit & Agilität“ steigere den Unternehmenserfolg um 12,5 Prozentpunkte. Wird das Potenzial im Merkmal „Kreativität & Gestaltungsmotivation“ voll ausgeschöpft, legt die Arbeitszufriedenheit um 20 Prozentpunkte zu.
So schreiben die Autor*innen der „Factlights“-Studie mit Blick auf die Wirtschaft und die in diesem System tätigen Unternehmen: „Teil der digitalen Revolution sind digitale Disruptionen. Sie stellen radikale Veränderungen auf einzelnen Märkten dar, die durch innovative, digitale Geschäftsmodelle ausgelöst werden.“ Da es nicht dazu kommen wird, dass die Menschen an einem bestimmten Punkt aufhören werden, innovative Business Cases auf Basis digitaler Möglichkeiten zu entwickeln, werden auch die digitalen Disruptionen ein Dauerthema bleiben. Was konkret dazu führen kann, dass sich ein Geschäftsmodell, das über viele Generationen funktioniert hat, innerhalb eines kurzen Zeitraums pulverisiert oder, wenn überhaupt, nur noch in der Nische funktioniert.
Digitalisierung trifft Kampf gegen Klimakrise
Wuchtige Synergieeffekte ergeben sich, wenn die Digitalisierung auf einen anderen Megatrend trifft. Zum Beispiel auf Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise. In einem Fachbeitrag für das Portal sustainablenatives.com verdeutlicht der Strategieberater und Start-up-Experte Matthias Kannegiesser diese These am Beispiel der EU-Taxonomie: Ausgehend von einer Zeitungsschlagzeile, es handele sich um „a super boring law that might turn out to be revolutionary“ beschreibt er die Folgen dieses Instruments, das das Ziel verfolgt, die Kapitalströme der Finanzwelt in nachhaltige Anlageformen zu lenken. Die EU-Taxonomie findet dafür Kriterien, die von Unternehmen eingehalten werden müssen, um weiterhin an Kapital zu kommen.
Das bedeutet in der Praxis: Sowohl die Geldgeber als auch die Unternehmen müssen zunächst einmal wissen, welche Nachhaltigkeitsrisiken in ihren Geschäftsmodellen und Prozessen stecken. „Methodisch müssen alle Geschäfte – Umsätze, Kosten, Investitionen – auf Taxonomie-Konformität bewertet werden: Hier geht es um Daten, Software und Bewertungsverfahren, um Geschäfte zweifelsfrei nach Taxonomie-Konformität zu klassifizieren und in den oben genannten Kategorien gegen die Kriterien zu bewerten“, schreibt Matthias Kannegiesser, womit klar wird: Ohne digitale Tools keine funktionierende EU-Taxonomie.
Die Großen verteidigen, die Kleinen greifen an
Doch steht die Digitalisierung nicht nur dafür, die Umsetzbarkeit von Regulierungen zu garantieren. Die Ergebnisse der „Factlights“-Studie legen nahe, dass die meisten Unternehmen in der Transformation vor allem geschäftliche Chancen sehen. Fragt man Verantwortliche in den Unternehmen, was in ihren Augen die größte Chance der Digitalisierung darstellt, liegt laut der Studie die „Steigerung der Prozesseffizienz“ auf Rang eins, sprich: „Abläufe zu verschlanken, zu automatisieren und damit Kosten zu sparen“, wie die Autor*innen zusammenfassen. Ist diese Top-Chance der Digitalisierung noch eher defensiv ausgerichtet – nämlich darauf, zu sparen – liegt in der zweitmeistgenannten Chance ein offensives Potenzial: die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Wichtig für Nachwuchskräfte ist es, je nach Unternehmensart den strategischen Hintergrund dieser neuen Business Cases zu identifizieren. Wobei sich dieser je nach Unternehmensgröße anders darstellt.
Laut „Factlights“ verteidigen also die Großen ihren Marktstatus, während die Kleineren angreifen. Wobei es für den Nachwuchs gewinnbringend ist, beide Seiten denken zu können – so wie gute Schachspieler*innen, die ja nicht nur ihre eigenen Züge im Blick haben, sondern auch die ihres Gegenübers.
In den Learnings der Studie heißt es: „Große Unternehmen investieren in digitale Geschäftsmodelle, um nicht Opfer der Disruption zu werden. Kleine Unternehmen hingegen agieren zunehmend als agile Disruptoren und starten mit innovativer Digitalisierung Angriffe auf etablierte Geschäftsmodelle.“ Laut „Factlights“ verteidigen also die Großen ihren Marktstatus, während die Kleineren angreifen. Wobei es für den Nachwuchs gewinnbringend ist, beide Seiten denken zu können – so wie gute Schachspieler*innen, die ja nicht nur ihre eigenen Züge im Blick haben, sondern auch die ihres Gegenübers.
Fragen die Studienautor*innen nach den großen Problemfeldern der Digitalisierung, die gelungene Transformationen abbremsen, liegt auf Platz eins die Qualität und der Bestand der Daten. Ist dies in erster Linie ein technisches IT-Problem, folgen auf den Rängen zwei bis fünf Herausforderungen, die unmittelbar mit den Menschen zu tun haben, die in den Unternehmen tätig sind. Laut der „Factlights“-Studie sehen es die Befragten als große Herausforderungen an, dass es an Strateg*innen und Manager*innen der Transformation fehlt (Rang zwei), dass es dem Unternehmen an Flexibilität und Änderungsbereitschaft (Rang drei), an Personal (Rang vier) sowie am Nutzungsverständnis (Rang fünf) mangelt. „Kurzum: Es fehlt noch das Verständnis und Know-how- wo und wie Digitalisierung genutzt werden kann, und die Experten, die einen dabei unterstützen könnten, sind trotz großer Nachfrage ebenfalls rar.“
Groß denken, klein starten – aber sofort!
Für eine Verbesserung in der Personalsituation in den Unternehmen sorgen die neuen Generationen, die „in die Universitäten stürmen, um Data Architect, Data Engineer oder Data Scientist zu werden“, wie es die Studienautor*innen formulieren. Wie dieser Nachwuchs die Unternehmen verändern wird? Norbert Wölbl, Partner der Management- und Personalberatung Liebich & Partner, stellt in seinem Expertenbeitrag in der „Factlights“-Studie klar, wie das Mindset einer digitalisierten Organisation aussehen wird: Diesen Unternehmen gelingt es, „die symbiotische Zusammenarbeit von Menschen und Robotik zu fördern“. Sie betrachten „Innovation als ihr Kerngeschäft“, machen die „digitale Transformation zur Angelegenheit für das Top-Management“ und erkennen, dass „organisatorische Grenzen an Bedeutung verlieren“. Am Ende stehe, schreibt Norbert Wölbl, ein Paradigmenwechsel. Sein Appell an die Unternehmen lautet: „Denkt groß. Startet klein, aber sofort. Und feiert auch dann, wenn ihr sicher herausgefunden habt, warum etwas nicht geht.“ Das in vielen deutschen Unternehmen gelebte „Projekt-Mantra“, nach dem man das, was man beginnt, auch zu Ende bringen müsse, „landet auf dem Opfertisch und weicht einer Kultur voller Neugier, voller berechenbarer Experimente und dennoch klarer Zielbilder“.
Wenn Unternehmen an ihrem digitalen Mindset arbeiten – auf welche Kompetenzen kommt es dann für die Mitarbeiter* innen an? Das digitale Beratungsunternehmen Onestoptransformation definiert in einer Studie „Digitales Mindset – Wertschöpfungstreiber für die Zukunft“ sechs „Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensdispositionen“, von denen es abhänge, wie erfolgreich ein Unternehmen die Transformation zu gestalten vermag: Offenheit & Agilität, Kundenzentriertheit, Proaktivität & unternehmerische Handlungsorientierung, Kritikfähigkeit, Kreativität & Gestaltungsmotivation sowie ein offener Umgang mit dem Scheitern. In der Studie wird Sebastian Schilling zitiert, Vice President Global Strategic Sales beim Autozulieferer Schaeffler Automotive Aftermarket, der sagt: „Für mich ist ein digitales Mindset wie das Mindset eines kleinen Kindes beim Laufen lernen: beobachten, ausprobieren, hinfallen, aufstehen, beobachten, ausprobieren und irgendwann laufen. Es zählt dabei nicht, wer seltener hingefallen ist – sondern Resilienz, Beobachtungsvermögen und Drive.“
Wie testen Arbeitgeber das digitale Mindset?
Der Dienstleister u-form entwickelt Testsysteme für Unternehmen, um Bewerber*innen und duale Student*innen auf nur schwer mess- und erkennbare Fähigkeiten zu überprüfen. Die Grundfragen des Testmoduls „Digitales Mindset“ finden sich frei verfügbar im Internet, gefragt wird zum Beispiel nach Offenheit, Flexibilität, Selbstreflexion und Umsetzungsfähigkeit. Beim Thema „Ambiguitätstoleranz“ geht es um die Frage, wie gut jemand komplexe und mehrdeutige Situation verarbeitet, der Faktor „Resilienz“ fragt nach einem „positiven Umgang mit Stress in schwierigen Situationen und unter widrigen Umständen“.
Die Studienautor*innen legen Wert auf die Feststellung, dass diese Skills „nicht direkt beobachtbar“ seien. Es gibt für das digitale Mindset kein Zeugnis, kein Zertifikat, das eine Nachwuchskraft vorzeigen könnte. Es gibt auch keinen Hebel, den man umlegen könnte, um Menschen dieses Mindset zu geben. Entwicklung technischer Innovationen und neuer Geschäftsmodelle, Aufbau einer funktionierenden digitalen Infrastruktur – für diese Faktoren der digitalen Transformation gibt es strategische Konzepte. Um sie jedoch erfolgreich umzusetzen, benötigen die Organisationen Menschen, die verstehen, worum es geht, und die das Thema mit Begeisterung angehen. Die digitale Transformation lebt vom Mitmachen. Vom Mitgestalten, Mitdenken, Mitziehen. Die Studie von Onestoptransformation zitiert Nick Jue, CEO der Bank ING, der diese Anforderung wie folgt auf den Punkt bringt: „Es reicht nicht mehr aus, sich auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Auch die Arbeits- und Denkweise ist zu verändern. Die Digitalisierung bietet neue Spielregeln und Möglichkeiten. Wer das neue Umfeld versteht, gewinnt das Rennen.“
Neue Spielregeln? Absolut. Aber es geht ja noch weiter: Diese neuen Spielregeln wandeln sich immer wieder. Sie sind nicht gekommen, um zu bleiben. Die Veränderung ist der Normalzustand. Das digitale Mindset wird damit zur Fähigkeit, diese Unsicherheit anzuerkennen. Sich darüber klar zu sein, dass man – um das Bild von Sebastian Schilling von Schaeffler aufzunehmen – das Laufen immer wieder neu lernen muss. Weil mal der Boden schwankt, dann wieder neue Hindernisse auftauchen, sich die Zielrichtung ändert oder neue Akteure auftauchen, die auch mitlaufen und mit ihren neuen Ideen schnell Boden gutmachen. Wer es gar nicht abwarten kann, in diesem Szenario mitzumischen und sich zu beweisen, wird in den Organisationen viele Möglichkeiten dazu finden: Die Unternehmen brauchen Nachwuchs, der Lust daran hat, Rennen zu gewinnen. Rennen, in denen es nicht darum geht, nie zu fallen – sondern darum, einen digitalen Drive zu entwickeln.
Gesucht: „Weltmutführer“
Weltmarktführer? Damit kenn man sich in Deutschland aus. Bei „Weltmutführern“ sieht die Sache ein wenig anders aus. Unternehmer Philipp Depiereux definiert sie als Unternehmen, die mit neuem Mindset Bewährtes immer wieder hinterfragen, den digitalen Wandel aktiv vorantreiben und bereit sind, ihr Geschäftsmodell und Wirken auf die Gesellschaft grundlegend zu verändern. In seinem Buch „Werdet Weltmutführer“ appelliert er an das Management, altbewährtes Denken und Perfektionismus beiseitezulegen, um neue Wege zu gehen. Philipp Depiereux stammt aus einer mittelständisch geprägten Familie. Sein Großvater baute den Sanitär- und Heizungstechnik-Weltmarktführer Viega auf, sein Vater führt in dritter Generation die Dürener Maschinenfabrik. Er selbst war 2010 Co-Gründer von etventure, einem Unternehmen, das Organisationen und Start-ups dabei hilft, die Transformation zu bewältigen.
Philipp Depiereux: Werdet Weltmutführer – mit Mut und neuem Mindset in die digitale Zukunft. Epuli 2020, 30 Euro