Für Konsumenten besteht zwischen digitaler und realer Welt kein Unterschied. Dies sollte auch für Unternehmen gelten. Um gemeinsam mit dem Kunden eine digital-physische Transformation planen und erfolgreich umsetzen zu können, benötigen Beratungsunternehmen technisch versierte Consultants. Von Walter Sinn, Managing Director, Bain & Company, Germany.
Kein Unternehmen kann die digitale Welt heute noch ignorieren. Gleichzeitig aber vernichten Konzerne, die ihr angestammtes Kerngeschäft vernachlässigen, um internetbasierte Start-ups ohne besonderen Wettbewerbsvorteil aufzubauen, letztlich nur Kapital. Berücksichtigt wird nicht, wie sich die neue Netzwelt aus Konsumentensicht darstellt. Tatsächlich verweben Verbraucher die digitale und physisch-reale Sphäre heute so nahtlos, dass sie nicht verstehen, warum Unternehmen nicht dasselbe tun. Daher sind „digicale“ Transformationen – also Ansätze, die physisches Geschäft und digitale Anwendungen clever verbinden – wesentlich für künftigen Unternehmenserfolg. Durch die Analyse von 300 Erfolgsbeispielen aus 20 Branchen hat Bain fünf Schlüsselfaktoren identifiziert, die in der digicalen Welt den Unterschied machen zwischen Triumph und Niederlage.
Regel eins: Die Fusion von digitaler und realer Welt schafft Wettbewerbsvorteile
Viele Manager glauben, dass es keine nachhaltige Unternehmensstrategie mehr gibt, weil sich die Technologie zu schnell ändert, und dass, wer überleben will, heute von einer Chance zur nächsten springen muss. Doch dieser Ansatz schüttet das Kind mit dem Bade aus: Kernkompetenzen gehen verloren, während große Summen in riskante Projekte gesteckt werden. Digicale Transformation dagegen schafft Wettbewerbsvorteile, ohne das eigentliche Geschäftsmodell eines Unternehmens zu gefährden. Dies zeigt das Beispiel der Commonwealth Bank of Australia (CBA). 2006 machte es sich die CBA zur Aufgabe, von der in Kundenzufriedenheitsumfragen schlechtesten zur besten Bank Australiens zu werden, und knüpfte die Boni ihrer Führungskräfte an die Erreichung dieses Ziels. Es folgte eine digitale Innovation nach der anderen, um die Kunden Schritt für Schritt besser beraten und unterstützen zu können. 2013 war es geschafft – und außerdem der Börsenwert um 80 Prozent gestiegen. Der australische Börsenindex legte im gleichen Zeitraum lediglich um neun Prozent zu.
Regel zwei: Kunden wollen nahtlose Konsumerfahrung
Digicale Transformation bedeutet nicht, nur das Bestehende zu digitalisieren. Vielmehr gilt es, jeden Schritt des Kundenkontakts systematisch durchzugehen, um ein geschlossenes, kohärentes System zu schaffen. Nike ist dafür ein gutes Beispiel. Kunden können nicht nur online personalisierte Produkte bestellen, auch helfen ihnen Apps, ein komplettes Fitnessprogramm zu entwickeln. Inzwischen gibt es mit dem Nike+Fuelband ein elektronisches Armband, das Kunden durch den gesamten Tag begleitet. Dadurch verzeichnet Nike das höchste Social-Media-Engagement von Kunden in der Branche – und für das Geschäftsjahr 2013/2014 ein Plus von 42 Prozent im Internetvertrieb.
Regel drei: Digicale Innovation folgt eigenen Gesetzen
Bislang definiert die Unternehmensleitung eine neue Aufgabe und die IT-Abteilung muss liefern. Digicale Transformation entsteht jedoch in komplementär besetzten Teams, in denen Digitalexperten auf jeder Stufe den Innovationsprozesses mitbestimmen. Disney hat hier Pionierarbeit geleistet. Um die Themenparkerfahrung für den Besucher zu personalisieren, entwickelten multifunktionale Teams eine Website und eine App, mit denen Kunden Trips planen können, einen digitalen Besucherpass, mit dem sich Attraktionen vorausbuchen lassen, und Armbänder, die gleichzeitig als Ticket, Kreditkarte und Zimmerschlüssel eingesetzt werden können. Heute ist Disney auf dem besten Weg, 20 Prozent operative Marge zu realisieren.
Regel vier: Getrennte Organisationsstrukturen sind eine Interimslösung
Digitale Geschäfte starten oft als Konzernausgründung. Letztlich sollte das Ziel jedoch sein, das Beste aus traditioneller Konzernwelt und Start-up-Klima zu verbinden und so die Vorteile von Größendegression, guter Koordination und nahtloser Konsumerfahrung zu realisieren. Die US-Warenhauskette Macy‘s macht diese Omnikanal-Strategie vor: Kunden können online einkaufen und die Ware dann im nächstgelegenen Shop abholen. Eine App und eine Organisation aus einem Guss helfen Käufern und Mitarbeitern, das im Netz Bestellte in der realen Welt schnell aufzuspüren.
Regel fünf: Ohne Digitalexperten im Top-Management geht es nicht – und das schließt den CEO mit ein
Top-Manager, die nicht technikaffin sind, müssen mehr Zeit mit Technologieexperten verbringen und diese in ihre Aufsichtsräte holen. Auch sollten sie mit den Geräten „spielen“, die ihre Kunden benutzen. Burberry beispielsweise etablierte einen „Strategic Innovation Council“, der aus den jüngsten und innovativsten Führungskräften besteht, die den CEO beraten. Seit Einführung des Councils im Jahr 2006 verdreifachte sich der Börsenwert von Burberry. Dagegen legte der britische FTSE-100-Index im Vergleichszeitraum bis 2014 nur um 19 Prozent zu.
Der Fiesta deklassiert seine Wettbewerber dank Ford Sync, einem intelligenten Bordcomputer, der sich mit dem Smartphone der Fahrer kurzschließt. Ein wesentlicher Bestandteil des Turnarounds von Delta Airline ist die Fly Delta App, die es Passagieren erlaubt, Parkplätze vorauszubuchen, einzuchecken und den Weg des Gepäcks zu verfolgen. Kurz: Die digitale Revolution ist keineswegs dabei, traditionelle Geschäfte zu zerstören – sie transformiert sie lediglich. Die Gewinner in diesem Spiel sind diejenigen Unternehmen, die für den Kunden durch digicale Transformation das Beste aus beiden Welten nutzbar machen. Unterstützt werden sie dabei von Beratern, die die technologischen und strategischen Anforderungen verstehen und Erfahrungen aus verschiedenen Branchen mitbringen.