StartConsultingDer Entscheider Dr. Markus Merk im Interview

Der Entscheider Dr. Markus Merk im Interview

Markus Merk, dreimaliger Weltschiedsrichter des Jahres, hat bewegte Tage hinter sich. Auf eine Einladung des Sportministers der Malediven mit Award-Verleihung folgten eine Urlaubsreise im Himalaya und ein beruflicher Trip nach Teheran, zeitgleich fiebert er als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender nach erfolgreicher Sanierung mit „seinem“ 1. FC Kaiserslautern. Zwischendrin feierte er seinen 60. Geburtstag. Keine Frage: Sein Leben ist auch nach seiner Zeit als internationaler Schiedsrichter aufregend und erfüllend. Einen Namen hat sich Markus Merk dabei auch als Keynote- Redner und Management-Coach gemacht. Seine Expertise: Entscheidungen zu treffen und zu verkörpern – und Spiele so zu führen, dass es am Ende nicht nur gerecht zugeht, sondern die Spieler in die Lage gebracht werden, ihre besten Leistungen zu erbringen. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Dr. Markus Merk, Jahrgang 1962, gilt als einer der berühmtesten Schiedsrichter weltweit. 2012 wurde er zum „Weltschiedsrichter des Jahrzehnts“ gekürt, dreimal erhielt er die Auszeichnung „Weltschiedsrichter des Jahres“, siebenmal wurde er zum besten deutschen Schiedsrichter gewählt. Der Doktor der Zahnmedizin leitete 339 Matches der Fußball-Bundesliga. Er fungierte 2019 bis 2021 als stellvertretender Vorsitzender und Sprecher des Aufsichtsrats des 1. FC Kaiserslautern. Seit 2005 ist er als gefragter Referent unterwegs. Er hält Vorträge und gibt Management- Seminare zu Themen wie „Die sichere Entscheidung“, „Mit Leistung und Fairplay zum Erfolg“ oder „Persönlichkeit, ein steiniger, aber lohnender Weg“.

Herr Merk, Hand aufs Herz, wie waren die Nächte nach Spielen, in deren Verlauf Sie eine offensichtliche Fehlentscheidung getroffen hatten?
Das war natürlich schon bitter, zumal wir Schiedsrichter zu meiner aktiven Zeit noch nicht von Videoassistenten unterstützt wurden und klar war, dass diese Fehlentscheidungen abends von Millionen Menschen gesehen werden.

Dann hieß es: „Wie kann man das nicht gesehen haben?“
Genau, und da wir von außen keine Hilfe bekamen, lag die Entscheidung ausschließlich bei mir als Schiedsrichter. Lag man da tatsächlich falsch, dann war das schon unfassbar bitter. Schlaflose Nächte waren da keine Ausnahme, verbunden mit klarer und ehrlicher Selbstkritik.

Und am Morgen danach?
Aufstehen, raus in den Wald, laufen. Ich bin ein Ursportler und überzeugt davon, dass Bewegung hilft, um die Fehler so zu verarbeiten, dass sich aus Selbstkritik neues Selbstbewusstsein entwickelt. Nach dem Motto: „An diesem Fehler werde ich wachsen.“ Sowieso ist es gut, wenn einen der Alltag wieder einfängt. Ich habe damals ja noch als Zahnarzt gearbeitet, montags um 7 Uhr saßen die ersten Patienten im Stuhl, für die war diese Behandlung ein zentraler Termin ihrer Woche, und die wollten in dieser Situation alles andere als einen schlecht gelaunten Zahnarzt. Wobei die Patienten schnell gelernt haben, dass es nicht förderlich war, mich montagsmorgens auf eine eventuelle Fehlentscheidung anzusprechen.

Hatten Sie regelrecht Angst vor den Fernsehbildern, weil die Kamera unbarmherzig Fehler offenlegte?
Nein. Zunächst mal: Bei neun von zehn Spielen war meine Leistung als Schiedsrichter überhaupt kein Thema. Das eine von den zehn Spielen jedoch, bei dem es Gegenwind gab, das bleibt den Leuten in Erinnerung. Ich denke daher, es ist wichtig, dass Entscheider sich im Prozess der Selbstreflexion auch die positiven Situationen ins Gedächtnis rufen. Nicht, um sich selbst abzufeiern, sondern um sich selbst zu zeigen: Die Summe der Entscheidungen ist absolut positiv. Und zu Ihrer Frage mit den unbarmherzigen TV-Bildern im Fernsehen: Es war vor allem am Anfang in meiner Karriere häufig so, dass ich von der Aufklärung der strittigen Situationen durch die Bilder profitiert habe. Weil die Zeitlupe oft zeigte: Ich lag mit meiner Entscheidung eben doch richtig. Auch, wenn‘s auf dem Platz während des Spiels viel Kritik und Gegenwind gab. Wobei die Frage nach dem richtig oder falsch ja sehr differenziert zu betrachten ist.

In welcher Hinsicht?
Die Welt besteht nicht nur aus Schwarz und Weiß, vieles spielt sich in Grauzonen ab. Nicht wenige Entscheidungen, die man im Laufe eines Spiels, aber auch im Arbeitsleben trifft, sind Abwägungen. Wichtig ist es, den gesamten Kontext zu betrachten: Welche Folgen bringt es mit sich, wenn ich mich so oder so entscheide? Und wie gelingt es mir, in dieser Grauzone eine für den Kontext bestmögliche Entscheidung zu treffen? Wobei zu diesem Kontext auch gehört, dass mein Job als Schiedsrichter ja nicht nur ist, regelkonform zu pfeifen. Ich habe auch die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass ein Spielfluss entsteht, der es wiederum den Spielern ermöglicht, ihr ganzes Können abzurufen.

Es darf auf dem Platz niemals der Eindruck entstehen, dass ich selbst an meiner Entscheidung zweifele. Denn sofort überträgt sich dieser Zweifel dann auf die Spieler – oder auch, analog in einem Unternehmen, auf die Teams, die ich berate oder führe.

Welche Skills benötigt man, um hier richtig zu liegen?
Das hat sicherlich mit Erfahrung zu tun, klar, aber auch mit Selbstsicherheit und Stabilität. Es darf auf dem Platz niemals der Eindruck entstehen, dass ich selbst an meiner Entscheidung zweifele. Denn sofort überträgt sich dieser Zweifel dann auf die Spieler – oder auch, analog in einem Unternehmen, auf die Teams, die ich berate oder führe.

Würden Sie sagen, dass ein Schiedsrichter die Aufgabe hat, ein Spiel zu führen, so, wie es eine Führungskraft in Unternehmensteams macht?
Ich betrachte die Rolle eines Schiedsrichters als die eines Spielmanagers. Jetzt fragen sich vielleicht einige: „Wieso Manager, es gibt doch ein Regelbuch, nach dem er Entscheidungen zu treffen hat?“ Stimmt, dieses Regelbuch ist die Grundlage. Es gibt mir Anweisungen für tatsachenbezogene Entscheidungen.

So, wie es in einem Unternehmen klar ist, dass ein Projekt deshalb durchgeführt wird, damit Umsätze erzielt werden.
Kann man so sagen. Die Frage, die sich daraus ergibt: Wie wird dieses Ziel erreicht? Sehen Sie, ich habe mir im Laufe meiner Karriere oft die Frage gestellt, wie es eigentlich kommt, dass ich unter den hunderttausenden Schiedsrichtern derjenige war, der drei Mal zum Besten auf der Welt gewählt wurde. Warum ich? Glück? Sicher auch. Bessere Regelkenntnisse? Es gibt allein unter den mehreren zehntausend Schiedsrichtern in Deutschland mindestsens mehrere hundert, die genau so gut wie ich entscheiden können: Elfmeter, ja oder nein? Da muss also mehr sein. Und hier kommen wir zum Managen oder auch Führen. Zum Management dazu gehört es, die klaren Schwarz- Weiß-Entscheidungen anzunehmen: Ich habe keine andere Wahl, als einem Spieler die gelbe Karte zu zeigen, wenn er sich nach einem Tor das Trikot über den Kopf zieht oder den Ball auf die Tribüne drischt. In sehr vielen weiteren Situationen besitze ich jedoch einen großen Spielraum, den ich nutzen kann, um das Spiel zu führen. Zentral ist dabei die Kommunikation mit den Spielern, insbesondere mit denen, die eine große Individualität mitgebracht haben.

Richtig zu entscheiden, heißt nicht nur, den Regeln entsprechend zu entscheiden, sondern dies auch glaubwürdig zu tun.

Die sogenannten Führungsspieler.
Genau, zu meiner Zeit waren das Akteure wie Luís Figo, David Beckham oder Zinédine Zidane: Das waren auf dem Platz die Multiplikatoren. Mit ihrer Aktion und Reaktion auf meine Entscheidungen prägen sie nicht nur ihr Team, sondern das gesamte Spiel und seine Atmosphäre. Also musste ich mit ihnen auf Augenhöhe stehen, musste ich mit ihnen kommunizieren, musste in eine Beziehung mit ihnen treten: Business to Business. Richtig zu entscheiden, heißt nicht nur, den Regeln entsprechend zu entscheiden, sondern dies auch glaubwürdig zu tun. Wobei ich dieses psychologische Element des Spielmanagements absolut geliebt habe. Ich hatte Spaß daran, den Spielern gegenüber loyal, zugänglich und berechenbar aufzutreten. Weil dadurch ein Kanal entsteht, den man nutzen kann, um das Spiel in seinem Sinne zu führen.

Wie entstehen glaubwürdige Entscheidungen?
Wenn man sie auf dem Platz oder auch in einem Projektteam nicht verkauft, sondern verkörpert. Damit der andere sich denkt: „Gut, ich sehe das zwar anders, aber in diesem Moment wirkt der Verantwortliche so überzeugend, dass ich ihm glaube.“ Genau so wichtig ist es, absolut berechenbar zu bleiben. Manchmal verlangt man ja von Schiedsrichtern, sie sollten auch mal beide Augen zudrücken.

Oder Fingerspitzengefühl zeigen.
Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen Projektleiter, der sich in einem Meeting so und in einem anderen so entscheidet, ohne erkenntlichen Grund. Es gibt nichts Schlimmeres, weil sich das Team nie sicher sein kann: Wie ist die verantwortliche Person heute drauf? Daher ist Konsequenz so wichtig. Eine Entscheidung ist immer eine Festlegung für oder gegen eine Tatsache: Elfmeter, ja oder nein. Gelbe Karte, ja oder nein. Die hohe Kunst ist es nun, sich festzulegen – und dabei alle mitzunehmen. Auch diejenigen, die mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sind. So eine Überzeugungskraft fällt aber nicht vom Himmel, sie entsteht durch Erfahrungen. Weshalb es wichtig ist – für junge Schiedsrichter, aber auch für junge Manager oder Berater – diese Dinge schon früh zu üben, gerade in den ersten kleinen Teams, die man leitet. Ein Schiedsrichter fängt nicht in der Bundesliga an, sondern arbeitet sich über den Jugendfußball Saison für Saison weiter nach oben – und zwar vor allem, indem man sich persönlich weiterentwickelt. Ich habe selbst drei Kinder, die jeweils zwischen Studium und Berufsleben stehen, und wir reden zu Hause häufig darüber, wie es gelingen kann, diese Schritte zu gehen.

Zu welchen Schlüssen kommen sie als Familie?
Es ist nicht falsch, einen Traum zu haben. Den Willen zu haben, etwas zu erreichen. Zum Beispiel, ein Bundesligaspiel zu pfeifen. Oder ein Team zu führen und dabei Verantwortung zu besitzen. Man darf aber auch nicht ungeduldig sein: Es gibt keinen Schalter, den man nur umlegen muss – und schon ist man Bundesligaschiedsrichter. Es ist ein Prozess, und dem muss man sich stellen: selbstreflektiert und lernwillig, aber auch mit großer Begeisterung für die Sache.

Schiedsrichter-Karriere

Als jüngster Schiedsrichter pfiff Markus Merk 1993 bereits mit 31 Jahren das deutsche Pokalendspiel. 1997 leitete er das Endspiel des Europapokals der Pokalsieger, 2003 das Champions League-Finale zwischen dem AC Mailand und Juventus Turin. Als einziger deutscher Referee leitete er Spiele bei zwei Europameisterschaften, 2000 in Niederlande/Belgien sowie 2004 in Portugal; Höhepunkt war sein Einsatz im Finale Portugal gegen Griechenland. Ebenso war er als einziger deutscher Schiedsrichter bei den Weltmeisterschaften in Korea/Japan sowie 2006 in Deutschland aktiv. Zum letzten Mal stand er am 17. Mai 2008 in der Bundesliga bei der Begegnung Bayern München gegen Hertha BSC Berlin auf dem Platz. Für seine sportlichen und sozialen Leistungen wurde ihm 2005 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

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