Man kann ein Unternehmen auch so leiten: mit Herzblut, Neugierde und Werten. Prof. Hans Georg Näder übernahm 1990 die Leitung des Familienunternehmens Ottobock von seinem Vater Dr. Max Näder. Damals war er 28 Jahre alt. Heute ist die Firmengruppe dank vieler Innovationen Weltmarktführer in der Produktion und Entwicklung von Prothesen. Im Gespräch erzählt der 53-Jährige, der auch Mitinitiator des Studiengangs Orthobionik ist, welche Art von Forschergeist er schätzt und warum in seinem Unternehmen Talente die erste Geige spielen dürfen. Die Fragen stellte André Boße.
Zur Person
Als Enkel des Firmengründers Otto Bock übernahm der studierte Betriebswirt Hans Georg Näder bereits im Alter von 28 Jahren die Führung der Unternehmensgruppe Ottobock von seinem Vater Dr. Max Näder. Doch der 53-Jährige ist nicht nur Unternehmer mit Leib und Seele, sondern auch Kunstsammler und Bauherr, abenteuerlustiger Sportler und sozial engagierter Mensch. Als Honorarprofessor der Privaten Hochschule Göttingen (seit 2005) und seit 2009 an der Capital Medical University in Peking gibt er seine unternehmerische Erfahrung an die nachfolgenden Generationen weiter. Er ist zudem Mitinitiator des Studiengangs Orthobionik, der 2011 an der Privaten Hochschule Göttingen eingerichtet wurde und medizinische, orthopädietechnische und betriebswirtschaftliche Inhalte für zukünftige Führungskräfte verbindet. Seine Geburtsstadt Duderstadt beschreibt der Vater zweier Töchter als seinen „Heimathafen“, mehr als die Hälfte seiner Zeit verbringt Hans Georg Näder auf Geschäftsreisen in aller Welt.
Herr Prof. Näder, wie muss in Ihrem Unternehmen Arbeit organisiert werden, damit Menschen mit großem Forschungsdrang ihrem Talent tatsächlich ungestört nachgehen können?
Die entscheidenden Innovationen in unserer Unternehmensgeschichte sind durch eine Mischung aus Intuition für das, was den Patienten wirklich nutzt, sowie Spielfreude entstanden. Unsere Forscher und Entwickler haben die Möglichkeit, ihre Freiräume tatsächlich auszuschöpfen. Meine Mitarbeiter lernen aus ihren Fehlern. Zudem entstehen sehr gute Ideen aus unserem internen Wettbewerb heraus. Nichtsdestotrotz benötigen wir als stark wachsendes Unternehmen selbstverständlich auch klare Strukturen und Prozesse. Hier die richtige Balance zu finden – das ist wichtig.
Sie vergleichen Ihre Stellung innerhalb Ihres Unternehmens mit der eines Dirigenten. Wie gibt man einem Unternehmen den richtigen Rhythmus?
Im Grunde geht es darum, den Sweet Spot zu finden. Also den optimalen Punkt. Stellen Sie sich eine Partitur vor. Auf dem Notenblatt ist klar definiert, wer im Orchester was und wie auszuführen hat. Im Jazz hingegen geht es vor allem um Improvisation, wobei es ein musikalisches Thema gibt, das die Band verbindet. Den optimalen Punkt finden Sie, indem Sie zwischen diesen Extremen das richtige Maß finden – je nach Situation, im Kontext des lokalen Umfeldes oder einer konkreten unternehmerischen Herausforderung.
Um im Bild zu bleiben: Was erwarten Sie von Ihren Einsteigern in der Forschung, wann sollten sie die erste Geige spielen, wann ins zweite Glied zurücktreten?
Unseren jüngeren Mitarbeiter sage ich, dass sie sich nicht von Hierarchien beeindrucken lassen sollen. Meinem Management auf allen Ebenen sage ich, dass sie sich nicht auf ihrer Position zurücklehnen und die jungen Wilden bremsen sollen – und zwar weder in ihrer Spielfreude noch in ihrer Entwicklung. Talente müssen gefordert und gefördert werden.
Ihr Unternehmen entwickelt und forscht im Bereich der Medizin und Orthopädie. Worauf kommt es an, wenn es gelingen soll, mit den Ergebnissen Ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit Geld zu verdienen?
Im Mittelpunkt stehen das Ergebnis sowie die Qualität der orthopädietechnischen Versorgung. Für uns sind die Lebensqualität und Mobilität unserer Nutzer wichtig. Genau darauf richten wir die Entwicklung unserer Produkte, unsere Verfahren in der Versorgung sowie in Zukunft verstärkt unsere Aktivitäten in der Rehabilitation aus. Innovationen sind also dann sinnvoll und für alle Beteiligten gewinnbringend, wenn sie sich für unsere Nutzer sowie für die Fachhändler und die Träger des Gesundheitssystems erschließen.
Wie wichtig ist es Ihnen, bei der Forschung nicht nur auf die Bedürfnisse der Menschen in Europa zu schauen, sondern auf die Voraussetzungen von Menschen in anderen Teilen der Welt – gerade auch in Krisenregionen und Entwicklungsländern?
Für unser Unternehmen ist die Entwicklung von orthopädietechnischen Fähigkeiten unserer Partner und Mitarbeiter in diesen Gebieten von zentraler Bedeutung. Unser Ziel ist es, dort Infrastrukturen zur Versorgung von Amputierten oder Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel Kinderlähmung aufzubauen. In Indien etwa unterhalten wir in mehr als zwölf Städten Kliniken und Werkstätten. Wir bilden dort lokale Mitarbeiter aus und versorgen in Kooperation mit lokalen Wohltätigkeitsorganisationen auch Patienten. Über die Global Ottobock Foundation helfen wir bei Katastrophen und Krisen, sei es in Haiti im Jahr 2010 oder bei dem Erdbeben in China 2008. Wir sehen uns dabei in der Rolle eines Corporate Citizen, also als Unternehmen im Sinn eines verantwortlichen Bürgers – und diese Rolle nehmen wir sehr ernst, ob in unserer Heimat Duderstadt oder im internationalen Kontext.
Sie haben die Leitung des Unternehmens bereits mit 28 Jahren übernommen. Was ist der große Vorteil, wenn man so früh Verantwortung wahrnimmt?
Schon viel früher, als ich noch unterm Küchentisch spielte, ging es in unserer Familie immer um das Unternehmen Ottobock und unsere Kunden. Ich wurde also schon als Kleinkind gut auf meine Aufgabe vorbereitet. Ich kann also nicht von einem großen Vorteil sprechen, sondern empfinde große Dankbarkeit gegenüber meinem Vater Dr. Max Näder, der mir die Leitung damals zugetraut hat.
Sie verbringen die Hälfte der Zeit Ihres Lebens auf Geschäftsreisen. Was lernen Sie unterwegs, was Sie zu Hause nicht erfahren würden?
In meiner Wahrnehmung sind das keine stressigen Businesstrips, sondern Reisen zu Freunden, mit denen ich mich privat oder geschäftlich schon sehr lange verbunden fühle. Es handelt sich um Reisen an Orte, an denen ich mich wohlfühle und die mir stetig Impulse geben. Unsere Welt ist so vielfältig, dass man überall etwas lernen kann. Das Leben der Menschen aus verschiedenen Kulturen verändert meinen Blickwinkel. Ich empfinde es als Privileg, sehr viele von diesen Kulturen persönlich erfahren zu dürfen.
Ein letzter Rat an Absolventen der Naturwissenschaften: Welche Fähigkeiten abseits des Fachwissens, die nicht an den Hochschulen gelehrt werden, sind in Ihren Augen unerlässlich?
Ich kann an dieser Stelle gerne das wiederholen, was ich meinen zwei Töchtern mitgeben möchte: dass sie Empathie für Menschen entwickeln und eine Offenheit für andere Kulturen und Andersdenkende pflegen. Man lernt diese Fähigkeiten nicht im Hörsaal, sondern nur, indem man sich immer wieder mit Neugier und Demut aus seiner eigenen Komfortzone herausbegibt, um diese Erfahrungen zu sammeln. Und ein weiterer Rat an alle Absolventen: Denken Sie unternehmerisch! Werden Sie – auch wenn Sie in einem Unternehmen arbeiten – selbst zu Unternehmern und widmen Sie sich Ihrer Arbeit mit Herzblut, Verstand und Empathie.
Zum Unternehmen
Die Unternehmensgruppe Ottobock mit Stammsitz in Duderstadt entwickelt Produkte für Menschen mit Handicaps. Gründer war im Jahr 1919 Otto Bock, der als erster Prothesenteile in Serie herstellte, um die große Anzahl der Versehrten nach Ende des Ersten Weltkriegs zu versorgen. Größte Tochter der Unternehmensgruppe ist die Otto Bock Healthcare, die mit rund 6000 Mitabeitern vor allem Prothesen entwickelt und herstellt. Weitere Firmen der Gruppe sind Otto Bock Kunststoff und Technogel (Chemie) sowie Sycor (Informations- und Kommunikationstechnologie). Das Unternehmen ist seit der Gründung komplett inhabergeführt, die Anteile liegen bis heute zu 100 Prozent bei der Familie Näder. Zum Anlass des 90-jährigen Firmenjubiläums baute das Unternehmen 2009 das Science Center Medizintechnik am Potsdamer Platz in Berlin als einen Ort für Ausstellungen und Kongresse.
www.ottobock-group.com