In der Weißen Biotechnologie sind Nachwuchskräfte auf neuen Pfaden unterwegs. Sie sollen das, was die Natur möglich macht, so gestalten, dass es sich für die Industrie rechnet. Dass davon auch das Weltklima profitiert, ist ein Effekt, der erfolgreiche Karrieren in dieser Branche besonders wertvoll macht. Von André Boße.
Die Erde steht unter Anspannung. Das Weltklima leidet, die Ressourcen werden knapp. Es ist abzusehen, dass die fossilen Brennstoffe für viele Industrien eines Tages nicht mehr bezahlbar sein werden – weil entweder fast alles Öl verbraucht ist oder das Klima kurz vor dem Kollaps steht. Doch was passiert dann mit den vielen Branchen, die viele Jahre lang vom Erdöl abhängig waren – mit Branchen, die für die Menschen wichtige Dinge produzieren, von Kraftstoffen und Plastik über Chemieprodukte bis hin zu Waschmitteln?
Diese drängenden Fragen machen manch einen nervös. Bei leidenschaftlichen Naturwissenschaftlern hingegen wecken sie den Pioniergeist. Zum Beispiel bei den Forschern am Fraunhofer- Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB. Das Institut mit Sitz in Stuttgart ist eine Art Denkfabrik für nachhaltige Lösungen. Naturwissenschaftler beinahe aller Richtungen forschen und entwickeln Antworten auf die Frage, wie es weitergehen kann, wenn alte Verfahren sich nicht mehr rechnen oder gesellschaftlich nicht mehr erwünscht sind, weil sie der Umwelt zu viele Schäden zufügen. Dr. Ursula Schließmann leitet die Abteilung Umwelttechnologie und Bioverfahrenstechnik. Ihr Schwerpunktthema: die Perspektiven der industriellen Biotechnologie – auch „Weiße Biotechnologie“ genannt, um sie von der roten (der medizinischen) und grünen (der landwirtschaftlichen) Biotechnologie zu unterscheiden.
Innovationsinitiative des Bundes
Das Bundesforschungsministerium (BMBF) startete 2011 eine Innovationsinitiative für die Weiße Biotechnologie. Das Ziel: Wirtschaft und Wissenschaft sollen entlang der Wertschöpfungskette strategische Allianzen knüpfen. Unternehmen, die sich engagieren, erhalten Fördergelder – und damit wichtige Mittel, um bei der Forschung und Entwicklung einen langen Atem zu entwickeln. Im Gegenzug erwartet das Ministerium, dass sich die Unternehmen ebenfalls längerfristig und mit substanziellen Eigenbeiträgen engagieren. Gute Nachrichten für Einsteiger also, denn durch die Initiative können auch in Zukunft neue Stellen in den Unternehmen entstehen.
www.bmbf.de
Ohne Öl auskommen
Häufig forscht Schließmann mit ihrem Team, in dem auch viele junge Naturwissenschaftler aus diversen Fachrichtungen zusammenarbeiten, im Auftrag der chemischen Industrie. „Der Anteil dieser Branche am weltweiten Rohölverbrauch liegt bei rund zehn Prozent“, sagt sie. Noch ist die Chemie stark vom Öl abhängig – und das soll und muss sich ändern. „Eine Option ist, die Syntheseleistung der Natur zu nutzen, um damit von petrochemischen Rohstoffen – also solchen, die man aus fossilen Brennstoffen gewinnt – auf nachwachsende Rohstoffe umstellen zu können.“ Bei dieser Technik nimmt die industrielle Biotechnologie eine Schlüsselrolle ein: Ob Waschmittel, Plastik oder Autobenzin – die Forscher der Weißen Biotechnologie arbeiten daran, dass diese Produkte schon bald aus Biorohstoffen hergestellt werden können. Aus Ressourcen also, die erstens nachwachsen und zweitens kein CO2 ausstoßen.
„Die industrielle Biotechnologie hat in den vergangenen Jahren durch große Fortschritte in der Entwicklung neuer Methoden stark an Bedeutung gewonnen“, bilanziert Ursula Schließmann den Aufschwung der Branche. Und auch zukünftig gebe es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Weiße Biotechnologie eine starke Wachstumsbranche darstellt. „Besondere Zukunftsperspektiven sehe ich in der Optimierung der Produktionsverfahren für Grund- und Feinchemikalien sowie der Entwicklung neuer Produkte mit hohem Wertschöpfungspotenzial“, sagt die Forscherin. Sprich: Die industrielle Biotechnologie soll nicht nur die Umwelt schonen, sondern dafür sorgen, dass die Industrie günstiger und qualitativ hochwertiger produzieren kann. Zum Beispiel können die Verfahren der industriellen Biotechnologie Enzyme preisgünstig sowie mit hoher Leistungsfähigkeit und Selektivität herstellen. Weitere Gebiete sind Biopestizide und Biokunststoffe. Hier ersetzen die biotechnologischen Verfahren schon heute zum Teil die petrochemischen Verfahren – und erschaffen zusätzlich Polymere mit besseren Eigenschaften.
Kluge Lösungen gesucht
Verständlich, dass talentierte Forscher mit diesem Schwerpunkt aktuell ausgezeichnete Jobperspektiven haben. Zumal es eben nicht nur um das Entdecken neuer Einsatzmöglichkeiten geht, sondern auch um kluge Prozesse. Industrie wird Bio – das klingt gut. Es ist aber nur dann gut, wenn darunter zum Beispiel nicht der Anbau von Lebens- und Futtermitteln leidet. „Wir müssen ertragreichere Nutzpflanzen züchten, die Agrartechnik weiterentwickeln und die Wertschöpfungskette durch prozessintegrierte Aufarbeitung von Roh- und Abfallstoffen effizienter gestalten“, beschreibt Ursula Schließmann die anspruchsvolle Agenda. Eine Lösung kann der „Kaskadenansatz“ sein: Eine Bioraffinerie ist so konzipiert, dass sie den Biorohstoff zunächst stofflich und erst im Anschluss energetisch nutzt. Hier zeigt sich, dass die Weiße Biotechnologie unbedingt bunt zusammengesetzte Teams benötigt. In der industriellen Biotechnologie werden die Disziplinen Biologie und Mikrobiologie, Biotechnologie, Chemie, Physik und Verfahrenstechnik gezielt miteinander verknüpft. Für ein optimales Arbeitsergebnis sind deshalb ein breites Grundlagenwissen, aber auch ein fachübergreifendes Knowhow sowie das Verstehen der spezifischen Sprachen der unterschiedlichen Fachdisziplinen erforderlich. Es reicht nicht, nur zu wissen, wie der Wertstoff gewonnen oder die Biomasse genutzt werden kann. Entscheidend ist auch, den Prozess des Stoff- und Wärmetransports zu organisieren, das Produkt zu isolieren, zu reinigen sowie dem Kreislauf zuzuführen. Entsprechend facettenreich sind die Ausbildungswege im Bereich der industriellen Biotechnologie: Laborarbeit gehört genauso dazu wie Prozessoptimierung, Bioverfahrenstechnik und Anlagenbau.
Biotechnik stärkt Marken
Das bieten neben Chemieunternehmen, der Pharmaindustrie sowie der Umwelttechnik- und Energiebranche auch Konsumgüterhersteller wie Henkel. Der Konzern mit Sitz in Düsseldorf steht für eine Reihe von bekannten Marken – von Waschmitteln über Kosmetikartikel bis hin zu den Klebstoffen. „Erfolgreiche Innovationen tragen dazu bei, diese Marken weiter zu stärken“, sagt Michael Dreja, Direktor der Forschung und Entwicklung im Unternehmensbereich Laundry & Home Care. „Mehr Wert, weniger Ressourcen“, so fasst Dreja das Ziel der Forschung zusammen. Auch hier ist die industrielle Biotechnologie der Schlüssel. „Unsere Forscher und Produktentwickler arbeiten mit akademischen Arbeitsgruppen sowie mit Rohstoffherstellern zusammen, die mit Hilfe Weißer Biotechnologie ausgewählte Inhaltsstoffe für Wasch- und Reinigungsmittel produzieren.“
In der Forschung und Entwicklung findet im Konzern der typische Einstieg für Absolventen mit naturwissenschaftlichem Hintergrund statt. „Hier können Nachwuchskräfte die erworbenen Kenntnisse aus den Hochschulen am besten umsetzen“, sagt Dreja. Wichtig seien dabei neben fachlicher Exzellenz die Anpassungsfähigkeit an das Team sowie die Offenheit für einen interdisziplinären Austausch mit den anderen Fachabteilungen. Wie zentral es ist, zudem die ökonomische Dimension der Weißen Biotechnologie im Auge zu haben, verdeutlicht Claus Dreisbach, Projektleiter der Gruppe „Function Innovation & Technology“ beim Spezialchemiekonzern Lanxess, der in der zweiten Jahreshälfte 2013 seinen Unternehmenssitz von Leverkusen nach Köln verlegt. „Ein wichtiges Kriterium für die Umstellung von fossilen Rohstoffen auf nachwachsende ist der Preis“, erläutert Dreisbach.
Forscher als Projektleiter
Um erfolgreich in den interdisziplinären Teams zu arbeiten, sei daher ein Verständnis für die industriellen Rahmenbedingungen der Forschung und Entwicklung notwenig. Dazu gehört auch das Talent, die Forschung so zu organisieren, dass das Unternehmen möglichst viel erreicht, ohne dabei alles selber machen zu müssen. Denn dafür ist der Bereich der Weißen Biotechnologie viel zu komplex. „Ein Unternehmen wie unseres kann nicht mehr für alle Fragestellungen eigene Experten vorhalten“, sagt Dreisbach. „Die Vielzahl der interessanten Entwicklungen übersteigt die Möglichkeiten der meisten Firmen.“ Daher ist es sinnvoll mit externen Unternehmen zusammenzuarbeiten, die eine Expertise auf einem speziellen Gebiet haben – woraus sich für Naturwissenschaftler ein neues Jobprofil ergibt: „Die Forschung und Entwicklung findet nicht mehr unbedingt im eigenen Labor statt. Der Forscher ist vielfach als Projektleiter gefordert, der ein geeignetes Team aus internen und externen Experten zusammenstellt und die F&E-Arbeiten koordiniert und kontrolliert.“
Diese Vernetzung ist notwendig, um in Zeiten knapper Ressourcen Lösungen zu erarbeiten, die sich wirtschaftlich rechnen. Genau das ist das Ziel der Industrie. „Es geht darum, Alternativen zu den herkömmlichen Routen zu finden“, sagt der Lanxess-Projektleiter. Die Weiße Biotechnologie wird damit zum Bereich abseits ausgetretener Pfade – und ist eine chancenreiche Option für Naturwissenschaftler, die Abenteuerlust mit sinnvollem Handeln verbinden möchten.
Rasende Biotechnologie
Biosprit? Langsam. Biokunststoff? Brüchig. Das Reutlinger Rennteam des „Bioconcept- Cars“ kennt diese und andere Vorurteile – und fährt dagegen an. Am Steuer: Smudo, Rapper der Fantastischen Vier. Sein Scirocco mit effizientem TDI-Motor tankt Biodiesel auf Basis von Rapsöl. Die Leichtbaukarosserie des Rennwagens besteht aus einem mit Naturfasern verstärkten Duromer. Weitere Bauteile im Innen- und Motorraum sowie im Interieur sind aus biobasierten Kunststoffen gefertigt, foliert ist das „Bioconcept-Car“ mit PVC-freien, umweltfreundlichen Latex-Folien. Smudo und sein Team nehmen als Pioniere für „grünen Rennsport“ seit vielen Jahren erfolgreich an Langstreckenrennen auf dem Nürburgring teil.
Filmtipp
Rapsöl als Rennwagenbenzin – ein Film des Herstellers UFOP: