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Interview mit Uwe Tigges

Als Personalvorstand des Energieversorgers RWE hört Uwe Tigges sehr genau zu, wenn die Mitarbeiter des Konzerns Wünsche äußern oder über Belastungen sprechen. Das Ziel des 53-Jährigen: seine Mitarbeiter in eine innere Balance zu bringen. Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Uwe Tigges, geboren 1960 in Bochum, absolvierte eine Ausbildung zum Fernmeldemonteur, machte seinen Meister in Elektrotechnik und einen Abschluss als Technischer Betriebswirt. 1977 stieg er bei Standard Elektrik Lorenz ein (heute Alcatel-Lucent Deutschland). In die Energiebranche wechselte er 1984 zunächst als Informationstechniker für die Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW). Von 1994 bis 2012 war er freigestellter Betriebsrat beim Energieversorger, der 2000 mit RWE fusionierte. Von 2010 bis 2012 war er Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. 2013 wurde er zum Personalvorstand des Konzerns berufen.

Herr Tigges, woran erkennen Sie als Personalchef, dass das Thema Work- Life-Balance in Ihrem Unternehmen an Bedeutung gewinnt?
Das merken wir ganz deutlich im Gespräch mit unseren Mitarbeitern. Hier erfahren wir viel über die persönlichen Lebenskonzepte – und das ist uns wichtig, weil wir sie verstehen möchten. Erst vor Kurzem hatten wir im Unternehmen eine Veranstaltung mit Nachwuchskräften aus der sogenannten Generation Y. Wir waren sehr gespannt darauf zu erfahren, wie diese Generation tickt.

Was haben Sie gelernt?
Wir wurden in unserer Annahme bestätigt, dass die jungen Menschen zwar weiterhin ihre Karriere im Blick haben, jedoch nicht mehr ihr ganzes Leben darauf ausrichten. Unabhängig davon schauen wir uns aber natürlich an, wie es allen Mitarbeitern im Unternehmen geht. Es gibt klare Indikatoren, dass viele Mitarbeiter im Konzern ihre Belastungsgrenze erreicht haben. Wir betrachten, warum und wie lange unsere Mitarbeiter wegen Krankheiten ausfallen. Und wie viele andere große Unternehmen in Deutschland stellen wir fest, dass die psychischen Erkrankungen auf dem Vormarsch sind. Unser Anspruch ist es daher, die Bedürfnisse unsere Mitarbeiter zu verstehen, um gezielt Belastungen zu reduzieren.

Sie sind im Ruhrgebiet geboren, wo früher sehr stark die Arbeit das Leben bestimmte – und umgekehrt. Was halten Sie überhaupt von dem Begriff der Work-Life-Balance?
Er impliziert, dass das berufliche und private Leben voneinander trennbar sind und dass man beides in Einklang bringen muss. Wir sind dagegen fest davon überzeugt, dass es darauf ankommt, dass jeder Mensch individuell und ganzheitlich seine Balance findet. Das spiegelt sich auch in dem Anspruch wider, den wir an unsere Führungskräfte haben. Sie sollen zunächst einmal selbst eine innere Balance finden. Denn erst dann sind sie auch in der Lage, Teams zu führen und sich um andere zu kümmern.

Wie reagieren denn ambitionierte Führungskräfte, wenn sie im Perspektivgespräch nicht nur über fachliche Qualifikationen, sondern auch über ihr inneres Gleichgewicht sprechen sollen?
Unser Ansatz ist noch recht neu, deshalb gibt es hier noch keine Erfahrungswerte. Ich kann Ihnen aber von einer persönlichen Erfahrung berichten. Seit einiger Zeit antworte ich auf die Frage „Hallo Herr Tigges, wie geht es Ihnen?“ ab und an differenzierter. Ich sage dann zum Beispiel: „Privat gut.“ Erstaunlich ist, dass dann nur wenige weiter nachfragen. Das zeigt mir, dass wir uns noch immer viel zu wenig wirklich dafür interessieren, wie es dem anderen geht. Aber auch, wie es uns selber geht. Daher legen wir in unserem Training für Führungskräfte sehr viel Wert darauf, dass die Leute zunächst einmal sich selber kennenlernen. Sie lernen Techniken, um dann auch bei den Menschen in ihren Teams genauer hinzuschauen und zu spüren: Stimmt da die Balance? Und wenn nein, warum nicht?

Warum ist diese Balance so wichtig?
Sie ist die Grundlage dafür, dass unser Energiespeicher immer genügend voll ist. Die Methoden, für einen Energiezufluss zu sorgen, wenn sich der Speicher bei der Arbeit oder auch zu Hause geleert hat, sind sehr individuell. Einige laden auf, indem sie Sport treiben. Andere gehen lieber zum Yoga, meditieren oder unternehmen lange Spaziergänge. Jeder Mensch hat ein individuelles Energiemanagement, und wir glauben als Arbeitgeber daran: Je besser der Einzelne und auch wir dieses Managementsystem kennen, desto eher können wir ihm helfen, dafür zu sorgen, dass die Balance bestehen bleibt – oder sie zu finden.

Sie sind 1984 bei RWE eingestiegen. Hat damals schon jemand erfahren wollen, wie es um Ihr Gleichgewicht bestellt ist?
Nein. Wobei man ganz klar sagen muss, dass es viele Faktoren, die heute die Arbeit für manche Menschen so belastend machen, damals noch gar nicht gab. Die technische Entwicklung war langsamer, die ständige Erreichbarkeit beruflich wie privat war auch nicht gegeben. 1977 war ich als Berufseinsteiger ja gar nicht überall erreichbar. Und Feierabend hieß Feierabend: Ich war dann weg und habe mich bis zu Dienstbeginn am nächsten Morgen gar nicht mehr um die Arbeit gekümmert. Das Thema Balance ist erst dann auf die Agenda gerückt, als deutlich wurde, dass bestimmte Entwicklungen im Unternehmen dazu führen, dass die Mitarbeiter mehr belastet werden, zum Beispiel durch strengere Zielvorgaben oder kleinteilige Arbeitsstrukturen.

An wen kann ich mich bei Ihnen wenden, wenn ich merke, dass ich aus dem Gleichgewicht gerate?
Wir verfügen über ein Netzwerk von nebenberuflichen Sozialberatern, die im Unternehmen durch vier hauptamtliche Sozialberater koordiniert werden. Zu denen können unsere Mitarbeiter vertrauensvoll gehen. Diese Kollegen therapieren nicht, aber sie kanalisieren das Problem und finden gemeinsam mit dem Mitarbeiter heraus, wer der weitere Ansprechpartner sein kann.

Welche weiteren Maßnahmen bieten Sie konkret an?
Fangen wir mal bei den klassischen Instrumenten an: flexible Arbeitszeiten bis hin zur Teilzeit auch für Führungskräfte – was nicht immer einfach ist. Zunächst muss die Vorstellung aus den Köpfen, dass Führungskräfte immer anwesend sein müssen. Daran glaube ich nicht. Wir haben ein breites Portfolio an Maßnahmen zur Stressprävention. Außerdem bieten wir Unterstützung bei der Kinderbetreuung an und richten uns auch immer mehr auf das Thema Pflege kranker Angehöriger ein. Was uns außerdem sehr wichtig ist, ist die Förderung einer besseren Feedbackkultur. Wir möchten, dass unsere Mitarbeiter auch im Tagesgeschäft miteinander darüber reden, was sie tun, wie sie es tun, warum sie es tun.

Was ist das Ziel dieser Maßnahmen? Schließlich ist die RWE ein Unternehmen, keine soziale Einrichtung.
Wir beobachten eine Verschiebung – übrigens eine Verschiebung ganz klar zum Vorteil der heutigen Einsteigergeneration. Wenn ich mir die demografische Entwicklung des Unternehmens anschaue, dann müssen wir in den kommenden Jahren sehr viele Schlüsselpositionen neu besetzen. Dafür benötigen wir gute und ambitionierte junge Leute. Und die bleiben nur bei uns, wenn wir als Unternehmen gute Arbeitsbedingungen und gute Perspektiven bieten.

Welche Rolle spielt dabei der Sinn Ihres Unternehmens? Gerade mit Blick auf den Wandel, den RWE seit der Energiewende zu vollziehen hat?
Entscheidend ist es, den Menschen das Unternehmen ganzheitlich zu erklären. Nur wenn Menschen einen Sinn in ihrer Aufgabe sehen, können sie sich auch kreativ einbringen und das Unternehmen voranbringen – und das sind, wie die Psychologie bestätigt, genau die Faktoren, die dafür sorgen, dass ein Mensch zufrieden ist und seine Balance hält.

Zum Unternehmen

RWE ist einer der fünf größten Strom- und Gasanbieter in Europa. Der Konzern ist auf allen Stufen der Energiewirtschaftskette tätig: bei Förderung von Öl, Gas und Braunkohle, der Stromerzeugung aus Gas, Kohle, Kernkraft und regenerativen Quellen, dem Energiehandel sowie der Verteilung und dem Vertrieb von Strom und Gas. 16 Millionen Kunden beziehen ihren Strom über RWE, die Zahl der Gaskunden liegt bei fast acht Millionen. Für das Unternehmen mit Sitz in Essen sind rund 70.000 Mitarbeiter tätig. Nach der Energiewende wandelte der Konzern in vielen Bereichen das Geschäftsmodell. Heute setzt RWE auf Investitionen in erneuerbare Energien und in eine moderne Netzinfrastruktur.

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