Ein Hirn ist gut, zwei und mehr sind besser. Der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther glaubt fest daran, dass es sich in Gemeinschaft besser denkt. Wie Co-Kreativität entsteht und welcher Führungsstil wichtig ist, damit sich Potenziale entfalten, erklärt er im Gespräch mit André Boße.
Zur Person
Prof. Dr. Gerald Hüther, geboren 1951 in Gotha, studierte in Leipzig Biologie und absolvierte dort nach seinem Diplom ein dreijähriges Forschungsstudium in Neurobiologie. Nach seiner Promotion 1977 zog es ihn von der DDR in die BRD, wo er von 1979 bis 1989 am Max-Planck-Institut in Göttingen ein Forschungsprojekt zur Entwicklungsneurologie leitete. Heute ist Gerald Hüther Professor für Neurobiologie an der Uni Göttingen, Autor von Sachbüchern zum Thema Hirnforschung und Leiter der Akademie für Potentialentfaltung.
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Herr Professor Hüther, warum entfaltet unser Gehirn sein ganzes Potenzial vor allem in der Begegnung mit anderen Menschen?
Das Gehirn selbst ist eine Art Netzwerk. Gut vergleichen kann man es mit einer großen Stadt. Dort existieren Straßen und Straßenbahnlinien. Es gibt Stadtviertel und Szenen, die mal mehr, mal weniger ins Stadtleben integriert sind. Wer eine lebendige Großstadt betrachtet, merkt schnell: Es gibt hier keine Zentrale, es handelt sich vielmehr um ein sich selbst organisierendes System, das von Individuen gestaltet wird.
Und etwas Ähnliches geschieht im Gehirn?
Genau. Nur, dass man dort keine Personen antrifft, sondern individuelle Nervenzellen. Aber auch diese kommunizieren miteinander. Sie bilden Bahnen und Vernetzungsmuster. Auch im Gehirn gibt es Bereiche, die stark in die Kommunikationsstrukturen eingebunden sind und einen großen Einfluss auf andere Bereiche besitzen.
Städte entwickeln sich. Gehirne auch?
Ja. Wobei wir das häufig nicht mitbekommen, man sieht es ja nicht. Wenn in einer Stadt wie Leipzig innerhalb weniger Jahre viele neue und lebendige Szenen entstehen, erkennt das der Besucher sofort. Beim Gehirn ist der Deckel drauf. Daher sind diese Entwicklungen nicht so offensichtlich.
Können sich Gehirne – wie Städte – auch in eine negative Richtung verändern? Brach liegen, aussterben?
Natürlich, zum Beispiel, wenn ein Mensch nach vielen Jahren in den Ruhestand geht, nachdem sich sein ganzes Leben um den Beruf gedreht hat. Nun sitzt dieser Mensch tagsüber auf der Couch, und er fühlt sich dabei ziemlich nutzlos.
Einsteiger erleben im Idealfall das Gegenteil: Es gibt viele neue Impulse und Herausforderungen.
Genau, und es handelt sich um eine sehr spannende Phase, wenn sich viele Dinge neu formieren. Im besten Fall kann daraus eine Begeisterung für den neuen Lebensabschnitt entstehen, ein enormer Schwung, der den jungen Menschen dabei hilft, neue Aufgaben zu meistern. Kurz gesagt: Man erlebt einen Flow.
Was passiert da im Gehirn?
Begeisterung stellt sich immer dann ein, wenn man etwas richtig gut hinbekommen hat. Im Gehirn werden dann die emotionalen Zentren aktiviert und schütten bestimmte Botenstoffe aus. Der wichtigste und bekannteste ist Dopamin. Es folgt eine positive Kettenreaktion – und am Ende befindet man sich tatsächlich in einer Art Rauschzustand.
Nun erfährt man diese Begeisterung im Alltag nicht sehr häufig. Wer oder was hindert unser Gehirn daran, uns häufiger zu begeistern?
Da würde ich gerne etwas weiter ausholen. Die Menschen haben sehr lange in repressiven und autoritären Systemen gelebt, in Monarchien oder Feudalsystemen, später in Diktaturen aller Art. Den größten Teil unserer Geschichte haben wir mit Kriegen zugebracht. Die meisten Menschen waren Opfer der Verhältnisse und besaßen kaum Möglichkeiten, ihre Situation zu verändern. Das hat sich seit gut 50 Jahren in Westeuropa und den USA sehr gewandelt. Die Menschen erleben sich heute als Gestalter ihres eigenen Lebens. Aus Objekten sind Subjekte geworden. Diese Subjekte begegnen sich nun – und die Wissenschaft hat erkannt, dass diese Begegnung die Voraussetzung dafür ist, dass sich Menschen weiterentwickeln und ihr Potenzial entfalten.
Was passiert denn, wenn sich Subjekte begegnen?
Es entsteht eine Co-Kreativität, eine Co-Evolution: Wenn Menschen einander als Subjekte begegnen, teilen sie ihr Wissen und Können. Sie verbinden sich im Denken. Auf diese Art entfalten die beiden Subjekte jeweils ihr ganzes kreatives Potenzial. Es entsteht eine Dynamik, die nicht nur die Individuen voranbringt, sondern auch die Organisationen, in denen sie tätig sind.
Dazu zählen auch Unternehmen.
Genau. Es ist daher die Aufgabe eines Unternehmens, eine Kultur zu schaffen, die solche Begegnungen von Subjekten fördert.
Wie weit sind die Unternehmen in dieser Hinsicht?
Der historische Umstand, dass wir in Deutschland seit mehr als fünf Jahrzehnten in einer Demokratie leben, bedeutet nicht, dass die alten hierarchischen Objekt-Subjekt-Beziehungen keine Rolle mehr spielen. Es gibt sie noch. Auch in der Wirtschaft, wo Führungskräfte weiterhin Machtpositionen einnehmen und ihre Autorität ausspielen. Zum Beispiel, indem sie ihren Leuten vorschreiben, was sie zu tun haben, um sie dann später zu belohnen oder zu bestrafen. Bonus und Kündigung – das sind zwei Seiten derselben Medaille.
Zuckerbrot und Peitsche – schon Bismarck hat so gedacht…
… und an den Unis nennt man das heute neudeutsch Credit Points. Diese Art von Dressur mag sinnvoll sein, wenn es ums bloße Funktionieren geht. Doch die Unternehmen haben heute andere Themen. Sie benötigen keine Leute mehr, die brav auf ihre Chefs hören. Sie brauchen stattdessen engagierte Einsteiger und junge Führungskräfte, die Lust haben, sich eigene Gedanken zu machen – und diese dann gemeinsam mit anderen umsetzen. Denn dann erhalten die Unternehmen das, was sie von ihren Mitarbeitern am dringendsten benötigen: ihre Kreativität und ihr Mitdenken, ihre Empathie und Freundlichkeit, ihre Loyalität und ihr Verantwortungsbewusstsein.
Wie können Unternehmen ihre Talente in dieser Hinsicht fördern?
Es gilt, eine Kultur zu schaffen, in der sich die Mitarbeiter als wertgeschätzt und geachtet erleben. Jeder, der schon einmal verliebt war, weiß, wie sich das anfühlt: Man entdeckt plötzlich eine neue Kraft in sich als Subjekt, und käme es darauf an, für eine neue Liebe eine weitere Fremdsprache zu lernen, würde man das auch in Rekordzeit hinbekommen. Sprich: Das eigene Potenzial wird um ein Vielfaches erhöht, wenn man Subjekt sein darf – und nicht wie ein Objekt unter Autoritäten und Hierarchien leidet.
Wie sollte man führen, damit sich diese Potenziale entfalten?
Jede junge Führungskraft sollte sich klarmachen: Will ich in meinem Team den Chef spielen? Oder will ich als Teil des Teams mit meinen Leuten zusammenarbeiten? Das sind zwei völlig verschiedene Haltungen, aus denen sich jeweils andere Führungsstile ergeben. Beglückender ist natürlich die zweite Variante. Es entsteht eine Kultur des gegenseitigen Einladens innerhalb der Gemeinschaft. Man wächst als Gruppe von Subjekten zusammen. Keiner wird in eine Tonne gesteckt und gedeckelt, alle fühlen sich inspiriert, aus sich selbst heraus etwas Neues zu entwickeln. Diese Teams kommen häufig zu fantastischen Ergebnissen.
Das neue Buch: „Etwas mehr Hirn, bitte“
In seinem aktuellen Buch spricht Gerald Hüther eine „Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten“ aus, wie es im Untertitel heißt. Hüther plädiert für die Freiheit des denkenden Menschen – und gegen eine gehorsame Anpassung an die häufig hierarchisch und autoritär gestaltete Welt. Sein Credo: Sein ganzes kreatives Potenzial entfaltet der Mensch nur dann, wenn er sich in einer Gemeinschaft erlebt. Durch einen Kulturwandel diese Gemeinschaften zu fördern – das ist nach Hüther eine der großen Aufgaben von Unternehmen.
Gerald Hüther: Etwas mehr Hirn, bitte.
Vandenhoeck & Ruprecht 2015. ISBN 978-3525404645. 19,99 Euro