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Künstliche Intelligenz: Jetzt geht’s los!

Lange war die künstliche Intelligenz (KI) eine theoretische Möglichkeit – jetzt kommt sie in der Praxis an. Unternehmen nutzen sie, um zu optimieren, Risiken besser einzuschätzen und Fehler zu reduzieren. Dabei verändern die KI-Methoden im großen Stil die Arbeit. Ein Blick auf neue Job-Profile, innovative Anwendungen und auf das, was als nächstes kommt: Qubits, die nicht mehr entweder null oder eins sind – sondern zur gleichen Zeit alles zusammen. Von André Boße

Menschen mit Hang zur Nostalgie erinnern sich gerne an Berufe zurück, die es heute nicht mehr gibt. An den Wagner zum Beispiel, der im 18. und 19. Jahrhundert Räder oder ganze Wagons aus Holz herstellte. Den Köhler, der in einem aufwendigen Verfahren aus Holz Kohle generierte. Oder den Böttcher, der in den Dörfern die Aufgabe hatte, Fässer, Bottiche oder andere Gefäße herzustellen.

Wagner, Köhler, Böttcher – man kennt diese früheren Berufe heute noch als deutsche Nachnamen. Wäre es weiterhin so, dass sich deutsche Familien nach den Berufen der Eltern benennen, dann würde es in zehn Jahren allerhand neue Namen geben. Dann würde in einer Straße die Familie Data Detective neben der Familie Man Machine Teaming Manager wohnen. Und gegenüber wären die Highway Controllers Nachbarn der Familie Quantum Machine Learning Analyst.

Ist KI wirklich so bedeutsam ?

Über kaum eine technische Entwicklung wird so intensiv diskutiert wie die KI. Aber lohnt sich das überhaupt? Ist die KI ökonomisch wirklich so prägend? Eine Studie des deutschen, international aufgestellten Datendienstleisters Statista prognostiziert, dass KI das Potenzial besitze, das Bruttoinlandsprodukt von Staaten um zehn Prozent und mehr zu erhöhen, vor allem dank verbesserter Produkte und gesteigerter Effizienz. In der Liste der Branchen, die besonders profitieren, liegt laut Statista-Studie der Handel auf Platz 1, es folgen Transport und Logistik sowie die Touristik-Branche. Vordere Plätze belegen auch die Automotive- sowie die Gesundheitsindustrie und die Finanzbranche.

Es gehört zu den größten Mythen rund um die künstliche Intelligenz, anzunehmen, sie nehme uns Menschen die Arbeit weg. Die Wahrheit ist wohl: Manche Jobs fallen weg, das stimmt. Aber erstens nicht alle. Und zweitens werden neue entstehen. Das global tätige IT-Dienstleistungsunternehmen Cognizant hat in seinem Report „21 Jobs Of The Future“ allerhand neue Berufsprofile definiert, die in den kommenden zehn Jahren entstehen werden. Zum Beispiel die Data Detectives, die wie eine Art „Sherlock 4.0“ riesige Big Data-Landschaften von Unternehmen durchfahnden, um nach Ideen für Innovationen und Lösungen für Probleme zu suchen.

Als Man Machine Teaming Manager wiederum stehe man vor der Aufgabe, ein Interaktionssystem zwischen Menschen und Maschinen aufzubauen. Denn wenn, was die New Work- Experten wie Prof. Dr. Dirk Wagner sagen, Mensch und Maschine im Unternehmen zu Kollegen werden, dann muss zwischen beiden eine Kommunikation etabliert werden. Von der Fabrik der Zukunft auf die Straßen einer Stadt.

In naher Zukunft werden Autos autonom fahren, der Luftraum wird von Drohnen und fliegenden Taxis befahren werden, kurz: Es wird voll! Damit das Versprechen eines urbanen Lebens ohne viele Staus und Unfälle auch tatsächlich eingehalten werden kann, wird man weiterhin Menschen benötigen, die der KI dabei helfen, die Lage im Griff zu behalten. Die Highway Controller von morgen werden – so das von Cognizant entwickelte Job-Profil – also nicht mehr am Straßenrand stehen, sie sitzen in bestens ausgestatteten Kontrolleinheiten, von wo aus sie Zugriff auf das gesamte KI-gesteuerte Verkehrssystem besitzen.

Qubits: der nächste Schritt

Worauf die Autoren des Reports zudem hinweisen: Die KI ist nicht irgendwann da und bleibt dann so, wie sie ist. KI ist ein Prozess, der sich weiterentwickeln und sich schon bald in Themenbereiche wagen wird, die heute kaum vorstellbar sind. Hier schlägt dann die Stunde der Quantum Machine Learning Analysts: Statt auf Basis der herkömmlichen digitalen Informatik rechnen die Quantencomputer auf Grundlage der Gesetze der Quantenmechanik – was zu abenteuerlichen KI-Möglichkeiten führt. Denn während digitale Bits entweder Eins oder Null darstellen können, sind Qubits in der Lage, gleichzeitig beide Zustände darzustellen – sowie alle möglichen Zustände dazwischen.

KI und Deutschland

Ende 2018 ließen zwei Meldungen aufhorchen: Erstens berichtete zum Beispiel die FAZ im Oktober, Deutschland habe bei der Digitalisierung „den Anschluss bereits verloren“. Im November kündigte die Bundesregierung Investitionen in Höhe von sechs Milliarden Euro bis 2025 für die Entwicklung der KI an, um hier weltweit führend zu sein. Eine berechtige Hoffnung? Zumindest zitierte das Handelsblatt Anfang Februar 2019 aus einem Bericht des Nationalen Kompetenz Monitoring (NKM), nach dem Deutschland bei fast allen Schlüsselkompetenzen in der Data Science zu den führenden Ländern zähle. Deutlich werde aber die Dominanz der USA, was auch eine Statista-Untersuchung der Zahl von KI-Start-ups zeigt: Hiernach gebe es (Stand: 2018) davon in den USA knapp 1400, in China knapp 400 und in Deutschland nur knapp über 100.

Klingt wie Science Fiction, ist aber ein Thema der Gegenwart: Seit 2018 kooperiert der Volkswagenkonzern mit dem kanadischen Quantencomputern-Pionier D-Wave, um das Potenzial von Quantencomputern auszuloten. Und dieses Potenzial sei riesig, heißt es: „Alle Möglichkeiten für die Lösung eines Problems können gleichzeitig ausgetestet werden“, definiert Christian Seidel, Data Scientist im Data:Lab von Volkswagen in München. „Sollte es gelingen, viele Qubits stabil miteinander zu verschränken, ergäbe sich daraus eine enorme exponentielle Rechenleistung, die völlig neue Anwendungsfelder eröffnen würde.“

So haben KI-Spezialisten von Volkswagen die Maschinen von D-Wave dazu benutzt, eine Verkehrsflussoptimierung in der chinesischen Mega-Metropole Peking anzuschieben. Mit den Fahrdaten von einigen hundert Taxis wurden optimale Routen berechnet, auf denen die Taxis Staus umgehen konnten. Weitere bereits erprobte Anwendungen sind die Berechnung von Fluchtwegen bei Tsunamis oder die Simulation der Batterienutzung in Elektrofahrzeugen. „Die Abläufe auf mikroskopischer Ebene sind hier so komplex, dass Experten derzeit noch physische Prototypen bauen müssten, was Zeit und Geld kostet,“ heißt es in einer Pressemitteilung von Volkswagen. „Mit Quantencomputern könnte es möglich werden, die Batteriechemie realistisch zu simulieren – was entscheidend ist für die Weiterentwicklung neuer Batterien für die E-Mobilität der Zukunft.“

Von der Theorie auf den Marktplatz

Was wir heute als KI in den Unternehmen erleben, ist zwar erst der Anfang, aber die von der KI ausgelöste Welle ist bereits spürbar. Die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) beschreibt in ihrem aktuellen Report zur künstlichen Intelligenz den Status Quo im Frühjahr 2019 wie folgt: „Die künstliche Intelligenz bewegt sich aus dem Reich der Theorie auf den globalen Marktplatz.“ Andrew Ng, einer der führenden Denker der KI-Entwicklung und CEO des Service-Unternehmens Landing Ai, bringt es als Gastautor im WIPO-Report auf den Punkt: „Künstliche Intelligenz ist die neue Elektrizität. Ich kann mir kaum eine Industrie vorstellen, die nicht von KI transformiert werden wird.“ Ablesen kann man diese Kraft an der Zahl der Patente, die in diesem Bereich angemeldet werden: Seit 2013 steige die Zahlt der Patente mit KI-Bezug rapide, heißt es in der WIPO-Studie, insgesamt gebe es weltweit knapp 340.00 solcher Patente, wobei die Hälfte von ihnen nach 2013 veröffentlicht wurden.

Künstliche Intelligenz ist die neue Elektrizität. Ich kann mir kaum eine Industrie vorstellen, die nicht von KI transformiert werden wird.

Interessant ist das Verhältnis zwischen den Patenten und den wissenschaftlichen Publikationen zu dem Thema: Noch 2010 kam auf acht theoretische Arbeiten lediglich ein Patent, 2016 lag das Verhältnis nur noch bei drei zu eins. Hier zeigt sich, dass die künstliche Intelligenz in der Praxis angekommen ist.

Aber wo genau findet man sie schon heute – und morgen noch verstärkt? In einem Gastbeitrag im WIPO-Report nennt der schweizerische KI-Experte Boi Faltings von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne neben der Industrie drei weitere bedeutsame Felder. Erstens sei die KI als „Verteiler“ in der Lage, das Teilen von Ressourcen zu optimieren, ohne dass die Kunden sich dabei in ihrem Nutzungsverhalten einschränken müssten. Beispiele dafür seien Ladeplätze für Elektroautos, die mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz dort stationiert werden, wo sie wirklich sinnvoll sind. Als Verteiler trete die KI aber auch in intelligenten Infrastrukturen auf, wo sie zum Beispiel den Energiebedarf steuere. „Diese Smart Grids verbinden intelligente Geräte wie Trockner- oder Waschmaschinen mit Energieversorgern, sodass die Nachfrage der Geräte nach Strom kontinuierlich mit dem Angebot an erneuerbarer Energie abgeglichen werden kann – und zwar ohne, dass der Nutzer dabei eine wesentliche Einschränkung erfährt“, schreibt Faltings.

Frauen und KI

Eine vom Weltwirtschaftsforum und dem Netzwerk LinkedIn durchgeführte Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen gerade mal 22 Prozent der KI-Professionals ausmachen. Diese Lücke sei dreimal größer als in anderen Talentpools der Branche. Die Analyse deute demnach auch darauf hin, dass Frauen in der KI nicht nur drei zu eins unterlegen sind, sondern auch weniger wahrscheinlich in Führungspositionen positioniert sind oder eine Signalkompetenz in hochkarätigen, aufstrebenden KI-Fertigkeiten besitzen. Die Auswertung der LinkedIn-Daten gebe zudem den Hinweis darauf, dass Frauen mit KI-Kenntnissen eher als Datenanalytiker, Forscher, Informationsmanager und Lehrer beschäftigt würden, während Männer eher Softwareingenieure, technische Leiter, IT-Leiter und Geschäftsführer seien. Quelle: www.weforum.org

So könne die KI dafür sorgen, dass das größte Problem der erneuerbaren Energie – nämlich ihre Fluktuation sowie die Schwierigkeiten bei der Speicherung – zu großen Teilen gelöst wird. Ein zweites wesentliches Feld sei die digitale Medizin: Es sei möglich, mit Hilfe einer App und der Kamera des Smartphones Hautkrebs in einem sehr frühen Stadium zu erkennen; tragbare Sensoren seien in der Lage, Daten über den körperlichen Zustand eines Patienten zu sammeln, sodass frühzeitig Diagnosen getroffen und Therapien begonnen oder angepasst werden könnten. Als dritten großen Bereich nennt Boi Faltings den Dienstleistungssektor, wo immer bessere Übersetzungstools Erinnerungen an den fiktiven „Babelfisch“ in Douglas Adams’ „Per Anhalter durch die Galaxis“ aufkommen lassen: Sie sorgen dafür, dass das babylonische Sprachenwirrwarr auf der Erde aufgelöst wird, ohne dass dafür alle die gleiche Sprache sprechen müssen. „Das“, so Faltings, „führt zu vielen neuen Möglichkeiten, nicht nur für gute Geschäfte, sondern auch dafür, das Leben der Menschen zu bereichern.“

Besser prüfen und beraten – dank KI

Industrie, Mobilität, Medizin, Services – das sind die bekannten Zukunftsbereiche. Was aber passiert in den Feldern, die man in Sachen Fortschritt nicht unbedingt vorne erwartet? Auch dort tut sich etwas. Viele Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaften haben erkannt, dass die KI auch ihre Branche verändern wird. Die Steuer- und Rechtsberatungsgesellschaft WTS hat zusammen mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) eine Innovationsstudie durchgeführt, um KI-Potenziale zu analysieren und herauszufinden, wie sich dadurch die Arbeit in der Steuerberatung ändert.

Das Ergebnis: Ob bei zolltariflichen Warenanmeldungen, Rechnungsprüfungen bei der Umsatzsteuer oder im Bereich des Risikomanagements: KITechnologien helfen, „Informationen zu klassifizieren, Fehler zu reduzieren, Zeit zu sparen, Anomalien zu erkennen, relevante Kennzahlen zu überwachen.“ Kurz: „Steuerrisiken lassen sich erheblich reduzieren.“

Und was, um zum Mythos der KI als Job-Killer zurückzukommen, machen dann die Berater? „Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz werden Aufgaben automatisiert, die nur geringe soziale Intelligenz, Kreativität und Umgebungsinteraktionen erfordern“, heißt es in der Studie. „Demzufolge sind weitreichende Veränderungen des Tätigkeitsspektrums innerhalb der Steuerberatung zu erwarten.“

Es gehört zu den größten Mythen rund um die künstliche Intelligenz, anzunehmen, sie nehme uns Menschen die Arbeit weg.

Kurz gesagt: In der Beratung hat man dank der KI endlich die Zeit, eine sozial intelligentere Beratung zu bieten. Weshalb der Optimist auch sagt: Die künstliche Intelligenz bietet das Potenzial, dass wir uns selbst vornehmen können, immer besser zu werden.

Übrigens, Sie, liebe Leser*innen, dürfen sich sicher sein, dass dieser Text noch von einem Autor geschrieben worden ist. Doch mit dieser Sicherheit könnte es schon bald vorbei sein: GPT-2 ist der Name eines KI-Programms, das in der Lage ist, Texte zu schreiben. Was man dem Algorithmus, der aus Basis von Deep Learning-Ansätzen programmiert worden ist, lediglich an die Hand geben muss, ist ein Einleitungssatz. Danach macht sich die Maschine an die Arbeit und entwirft einen Text.

Die Redaktion der britischen Tageszeitung „The Guardian“ hat das KI-Tool in der Praxis ausprobiert, als Vorlage gab es einen dieser typischen Nachrichteneinstiege zum Thema Brexit: „Brexit hat der Wirtschaft des Vereinigten Königreichs seit dem Referendum schon jetzt 80 Milliarden Pfund gekostet, und viele Industrie-Experten gehen davon aus, dass der Schaden durch den Brexit deutlich größer werden wird.“ Nach dieser Vorlage schrieb die Maschine weitere Absätze, die sich auf den ersten Blick total schlüssig lasen: In der Deep Learning- Methode hatte die KI Millionen Brexit-Artikel analysiert, sie wusste also, welche Themen nun in der Regel folgen. Was die Maschine nicht weiß: Ob sie hier die Wahrheit verbreitet – oder doch Lügen. Weshalb die Entwicklergruppe von GPT-2 – die Non-Profit-Organisation OpenAI, mitgegründet von Elon Musk – selbst vor ihrem Tool warnte.

Buchtipp

cover MeinKopfGehoertMir„Mein Kopf gehört mir“ von Miriam Meckel Grundlage der KI ist das Deep Learning-Verfahren, dessen Kern es ist, einen Computer so vernetzt lernen zu lassen, wie es das menschliche Gehirn von Hause aus kann. Miriam Meckel, Professorin, Publizistin und Herausgeberin der Wirtschaftswoche, dreht den Spieß nun um. Provokant fragt sie: „Was, wenn es technisch möglich ist, unser Gehirn zu optimieren, es direkt ans Internet anzuschließen?“ In ihrem neuen Buch „Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking“ begibt sich Miriam Meckel auf die Reise in eine Zukunft der superintelligenten Hirnnetzwerke und Brainchats, bei denen Gedanken nicht erst formuliert werden müssen, bevor sie geteilt werden.

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