Roma Agrawal zählt zu den weltweit renommiertesten Bauingenieuren. Einen Namen machte sie sich als eine der führenden Planerinnen für „The Shard“, das höchste Gebäude der Europäischen Union. Im Gespräch erklärt die 35 Jahre alte Britin, worauf es beim Bau von Wolkenkratzern ankommt, wieso sie das Zeichnen für eine unabdingbare Kompetenz hält und warum es sinnvoll ist, sich als junger Bauingenieur ein Beispiel an den alten Baumeistern zu nehmen. Das Gespräch führte André Boße.
Zur Person
Roma Agrawal, geboren 1983 in Mumbai, ist Physikerin und Bauingenieurin. Sie gilt als profilierteste britische Vertreterin der „Women in Science“-Bewegung und hat von Brücken über Türme bis zu zeitweilig Westeuropas höchstem Wolkenkratzer „The Shard“ in London eine Vielzahl von Gebäuden entworfen. Für ihre Arbeit erhielt sie diverse Preise, u. a. den „Women in Construction Award Engineer of the Year“ (2014) und den „Diamond Award for Engineering Excellence“ (2015). Die britische Zeitung The Telegraph schrieb über sie, sie sei „die neue weibliche Stimme der Wissenschaft, die es schafft zu zeigen, dass Ingenieurskunst cool ist”. Tätig ist sie als Associate Director für den Bau, Architektur- und Ingenieurdienstleistungskonzern Aecom.
Als Roma the engineer ist sie auch in den sozialen Netzwerken aktiv: @romaTheEngineer
www.romatheengineer.com
Mrs. Agrawal, Sie gehören zu den Bauingenieuren, die in London „The Shard“ geplant haben, das höchste Gebäude auf dem Gebiet der EU. Egal, wo man in London steht: Es ist von fast überall zu entdecken. Was denken Sie, wenn Sie heute „The Shard“ sehen?
Es ist immer wieder aufregend, zumal das Gebäude tatsächlich aus jeder Perspektive unterschiedlich aussieht.
„The Shard“ hat sich schnell zu einem neuen Markenzeichen für das moderne London entwickelt. Wie wichtig sind solche sichtbaren Symbole der Baukunst für Städte?
Ich denke, dass jedes gut designte und auffällige Gebäude wichtig ist. Dazu zählen nicht nur moderne Wolkenkratzer, sondern auch moderne Bahnhöfe, neue Museen oder Apartmentkomplexe. Sie zeigen, dass eine Stadt Interesse an schönen und aufwendigen Strukturen hat. Das ist für jede Kommune ein wichtiges Symbol. Aber wissen Sie, was mich stört?
Erzählen Sie es.
Mich stört, dass in der Regel beinahe ausschließlich die Architekten das Lob für diese Designleistungen abgekommen, die Bauingenieure gehen dagegen meistens leer aus. Das finde ich unfair. Deshalb werde ich nicht müde, auf den Einfluss der Bauingenieure bei der Planung und Errichtung großartiger Gebäude hinzuweisen. Denn wir sind es, die für die praktische Ausführung des Bauvorhabens verantwortlich sind.
Hartnäckig hält sich das Klischee vom Architekten, der ein Künstler ist, während die Bauingenieure lediglich seine Anweisungen ausführen.
Ja, aber das ist heute nur noch ein Stereotyp. Nichts gegen Architekten, aber als Bauingenieurin besitze ich eine sehr große Erfahrung bei der Planung und beim Bau ganz verschiedener Gebäudearten. Ich habe Bahnhöfe und Häuser gebaut, Wolkenkratzer und Türme. Und bei jedem dieser Projekte ging es um Kreativität. Es ging darum, sich einen Zettel zu nehmen und Strukturen zu zeichnen. Sich mit anderen zu treffen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Die Bandbreite meiner Arbeit ist sehr groß. Und der Spaß an der Arbeit auch.
Schauen wir doch noch einmal auf „The Shard“: Wann ging es dort um kreative Lösungen?
Zum Beispiel bei der Fundamentlegung. Der Wolkenkratzer ist mitten in einem belebten Geschäftsviertel entstanden. Wir hatten nicht die Möglichkeit, den gesamten Bereich tagelang abzusperren und ein riesiges Loch zu buddeln, um dort ein Fundament zu legen und uns dann langsam nach oben zu arbeiten. Stattdessen haben wir bei der Statik eine Top-Down-Technik angewandt: Der Betonkern von 23 der insgesamt 72 Stockwerke wurde errichtet, bevor das Fundament komplett ausgegraben war. Das hat uns sehr viel Zeit und Geld gespart – und weil wir tatsächlich die Ersten waren, die dieses Verfahren bei einem Bauvorhaben dieser Größenordnung genutzt haben, mussten wir sehr kreativ arbeiten. Wir hatten schließlich kein Vorbild, an dem wir uns orientieren konnten.
Hatten Sie Angst, dass da etwas schieflaufen könnte, das Risiko lässt sich bei kreativen Lösungen ja nie ganz ausschließen?
Genau das muss aber unser Anspruch sein. Wir haben unsere Lösung tatsächlich sehr häufig kontrolliert und bei allen Zahlen sehr viel Sicherheitsabstand einkalkuliert. Zum Beispiel bei der Berechnung des Einflusses durch den Wind: Als uns die Meteorologen die Bedingungen prognostizierten, haben wir 50 Prozent draufgeschlagen. Nicht, weil wir der Prognose nicht vertraut hätten. Sondern um wirklich auf der sicheren Seite zu sein.
Moderne und komplexe Bauvorhaben brauchen Experten, die den gesamten Prozess leiten – und wir Bauingenieure haben das Zeug dazu, diese Aufgabe zu erfüllen.
Nun kosten Aspekte wie Design und Sicherheit Geld. Wie kann es gelingen, die Qualität des Bauens hochzuhalten – und dennoch die Kosten im Blick zu haben?
Man muss miteinander kommunizieren, das ist das A und O. Architekten, Auftraggeber, Bauingenieure – alle müssen im Verlauf des Projekts zu jeder Phase intensiv miteinander reden. Wichtig ist dabei, dass Klartext gesprochen wird und dass jeder Beteiligte sofort etwas sagt, wenn es eine Entwicklung gibt, die er kritisch betrachtet. Nur so kann im Laufe des Bauprozesses ein echtes Teamwork entstehen, wobei sich dieses Team möglichst früh finden muss. Mit jedem Alleingang im Vorfeld steigt die Gefahr, dass hinterher etwas nicht so läuft, wie sich das alle wünschen.
Wie beurteilen Sie die Kultur in den Bauunternehmen: Ist es gerade für Nachwuchskräfte möglich, tatsächlich auf Fehler hinzuweisen?
Meiner Erfahrung nach ist es das, ja. Mir war es immer möglich, auf Entwicklungen hinzuweisen, die ich kritisch betrachtete, oder andere Ideen in die Diskussion einzubringen. Wichtig ist, dass man es dann auch tut. Und hier appelliere ich gerne nochmal an das Selbstbewusstsein junger Bauingenieure: Es ist entscheidend, dass man sich das zutraut. Man muss dabei bedenken, was für eine herausragende Rolle Bauingenieure zu früheren Zeiten gespielt haben. Damals gab es den Beruf des Architekten noch gar nicht, stattdessen gab es den Baumeister, der sich eben nicht nur um den konkreten Bau gekümmert hat, sondern auch die Gebäude designte, die Gewerke koordinierte, sich um die Finanzen kümmerte und letztlich für das Bauwerk verantwortlich war. Später hat sich das Berufsbild des Bauingenieurs mehr und mehr spezialisiert. Das war nicht unbedingt eine falsche Entwicklung, denn auf diese Weise sind Bauingenieure zu technischen Experten gereift. Ich glaube aber, dass es nun an der Zeit ist, sich als Bauingenieur wieder breiter und selbstbewusster aufzustellen. Moderne und komplexe Bauvorhaben brauchen Experten, die den gesamten Prozess leiten – und wir Bauingenieure haben das Zeug dazu, diese Aufgabe zu erfüllen, gerade mit Blick auf die digitalen Methoden, die uns dabei helfen.
Welche Kompetenzen sind für einen Bauingenieur wichtig, um diese Rolle als Projektleiter zu erfüllen?
Ungemein wichtig ist die Fähigkeit, die richtige Sprache zu finden. Oder besser: kommunizieren zu können. Wenn ich eine exzellente Idee habe, jedoch nicht in der Lage bin, diese den anderen Projektteilnehmern so zu erklären, dass sie sich dafür begeistern, dann ist diese Idee nutzlos. Das ist dann so, als hätte ich diese Idee erst gar nicht gehabt – das muss man sich klarmachen. Wobei ich mit der Kommunikation eben nicht nur die Sprache meine. Es ist in bestimmten Situationen sehr hilfreich, sich in einer Teamrunde ein Blatt Papier zu nehmen und die Idee zu skizzieren. Zeichnen ist Teil der Kommunikation. Ich ermutige Bauingenieure, sich darin zu üben. Wenn sich junge Bauingenieure bei mir vorstellen, dann bitte ich sie häufig, mir etwas zu zeichnen. An diesen Skizzen kann ich eine Menge über die Bewerber ablesen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, wie stark gesellschaftliche Einflüsse zu verschiedenen Zeiten das Bauen in den Städten beeinflusst haben, vom Kirchenbau bis zur Errichtung von Fabriken und Arbeitervierteln. Was glauben Sie, welche Einflüsse werden in Zukunft das Bauen beeinflussen?
Ich denke, wir stehen vor einer großen technischen Revolution. Im Vergleich zu anderen Industrien hat sich das Bauen in den vergangenen 2000 Jahren recht wenig verändert: Es gibt weiterhin Pläne und bestimmte Materialien. Selbst Beton wurde schon vor rund 2000 Jahren verwendet. Nun aber gibt es Entwicklungen, die einen großen Wandel bringen werden: Künstliche Intelligenz und Big Data besitzen das Potenzial, viele Arbeiten zu erleichtern. Nehmen Sie ein altes Gebäude wie den Tower of London, dort müssen sich mehrmals im Jahr Bauingenieure mühsam die alten Mauern anschauen und Proben nehmen, um zu prüfen, ob das alte Gemäuer noch hält. Sensoren und Big Data sind in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen – und zwar wesentlich schneller.
Welche Arbeit bleibt dann für Bauingenieure?
Es ist noch mehr Zeit für Kreativität und für die kommunikative Arbeit mit den anderen Projektbeteiligten. Es ist endlich die Zeit da, schon früh in der Projektphase herauszufinden, welche Vision hinter einem Bauvorhaben steckt: Was soll das für ein Gebäude sein, worauf soll es wirklich ankommen – und wie kann man es optimal realisieren? Dies sind wichtige Fragen, und es darf nicht länger sein, dass in den Projektteams die Zeit fehlt, gemeinsame Antworten zu finden. Und noch ein Punkt ist mir wichtig: Bauingenieure können die Zeit nutzen, um noch mehr als bisher nach neuen Materialien zu suchen und diese zu erforschen. Schon heute benötigen wir für den Bau eines Hochhauses deutlich mehr Baustoffe als vor zehn Jahren. Die Computer helfen uns dabei, effizienter und damit auch ressourcenschonender zu bauen. Und in diesem Feld gibt es in Zukunft noch sehr viel zu entdecken. Ich war vor kurzem in einer kalifornischen Hochschule, wo Studierende mit Hilfe eines 3DDruckers Baumaterialien aus scheinbar nutzlosen Dingen wie zum Beispiel alten Reifen hergestellt haben. Ein ökonomisch und ökologisch funktionierendes, schön designtes Gebäude, angefertigt aus recycelten Rohstoffen – das ist für mich eine Vorstellung, die mir sehr viel Freude bereitet.
Buchtipp
Die geheime Welt der Bauwerke
Mit ihrem ersten Buch weiht Roma Agrawal die Leser in die Geheimnisse der Statik und die Kunst der Arbeit der Bauingenieure ein. Auf der reich illustrierten Reise durch die Geschichte der Gebäude erzählt Agrawal, wie Materialien Bauweisen revolutionierten und warum beispielsweise die wichtigste Errungenschaft des Römischen Reichs der Ziegelstein war. „Die geheime Welt der Bauwerke“ war in England schon ein Bestseller. Es ist das erste populäre Sachbuch über das Bauen – geschrieben von einer der führenden Bauingenieurinnen unserer Zeit. Roma Agrawal: Die geheime Welt der Bauwerke. Hanser 2018, 24 Euro.