Die Größe der Aufgabe, aus der Bauindustrie ein Segment zu machen, das das Klima schützt, statt es zu belasten, ist immens. Aber wie heißt es so schön in der Kinderserie „Bob, der Baumeister“? „Können wir das schaffen?“ – „Yo, wir schaffen das!“ In den Bereichen Sanierung und Energie sowie Ressourcen und Recycling gibt es Lösungsansätze, die jetzt angegangen werden müssen. Angetrieben von den Chancen der Digitalisierung und der Innovationskraft der jungen Generation an Bauingenieur*innen. Ein Essay von André Boße
In Frankfurt, Stuttgart und Düsseldorf war im Verlauf des Jahres 2021 eine Ausstellungsreihe mit dem Namen „Einfach Grün. Greening The City“ zu sehen. Gezeigt wurden konkrete Beispiele von Projekten, die für ein besseres Klima in den Zentren stehen: „Mehr Grün in unseren Städten könnte das urbane Klima erheblich verbessern, Hitzebildung reduzieren, mehr Wasser absorbieren, den Feinstaub mindern und sogar den Lärmpegel senken“, fassen die Ausstellungsmacher* innen die Wirksamkeit der Maßnahmen auf der Homepage zur Ausstellung zusammen. Die entscheidende Frage, die sich hier stellt: „Wo gibt es noch Platz für Grün in unseren Innenstädten?“ Hausfassaden, Dächer, Balkone und steinerne Hinterhöfe zählten zu den letzten Grünreserven verdichteter und versiegelter Städte. In Deutschland, aber auch global, würden diese Flächen jedoch bislang viel zu wenig genutzt. Zwar gebe es weltweit realisierte Grüngebäude von Düsseldorf (KÖ-Bogen II) über Mailand (Bosco Verticale) bis Vietnam (Urban Farming Office) – Lösungen auf einem „High-Tech-Level“ also. Es existierten aber auch Mittel und Methoden für Low-Level-Lösungen – und auch diese erzeugten zusammengenommen eine große Wirkung.
Vorzeigeprojekte zur Norm machen
Aufgeführt sind einige von ihnen unter dem Appell „Call for Projects!“ auf der Online-Plattform einfach-gruen.jetzt. Zu den bislang prämierten Projekten zählen eine begrünte Dachterrasse in Wien, die als Treffpunkt und Obdach von Menschen mit Suchterkrankungen dient, oder ein Berliner Hinterhof, der betoniert und damit versiegelt war, nun aber als Garten Platz für Pflanzen und Tiere bietet. Es handelt sich also um Räume nach der Devise „Klimaschutz plus“: Nicht nur verbessern diese Maßnahmen das Klima in der Stadt, auch schützen sie zum Beispiel die Artenvielfalt oder sorgen für geschützte und natürliche Räume für Menschen. Fakt ist: Maßnahmen dieser Art dürfen schon in naher Zukunft keine Vorzeigeprojekte mehr sein. Sie müssen zur Normalität werden. Nicht nur das Klima kennt Kipppunkte: Der Klimaschutz hat einen solchen bereits erreicht.
ge3TEX
Im Rahmen des Forschungsprojektes ge3TEX hat ein interdisziplinäres Team kreislauffähige Verbundmaterialien aus Textilien und Schäumen gleicher Werkstoffgruppen sowie die entsprechenden Herstellungsprozesse zum Ausschäumen von 3D-Textilien zu sortenreinen Bauteilen für die Gebäudehülle entwickelt. „Das Ziel war es, mit einem Minimum an Baustoffen ein Maximum an Funktionalität und Raumqualität zu schaffen“, heißt es bei der Projektvorstellung auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Im Fokus des Projektes stand die Entwicklung von Bauteilen für den Wand- und insbesondere für den Dachbereich. Diese sollten sowohl sehr gute Recyclingoptionen aufgrund der jeweils homogenen Werkstoffklassen aufweisen als auch Synergieeffekte zwischen dem Schaum und den Textilien im Hinblick auf Lastabtragung, Dämmung, Wetter- und Brandschutz nutzen.
Ab sofort heißt die Devise in vielen Wirtschaftszweigen und insbesondere in der Bauindustrie: Das muss jetzt angegangen werden. Ausschlaggebend dafür ist der „Green Deal“ der Europäischen Kommission, der alle ökonomischen Sektoren auffordert, dafür zu sorgen, dass die CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 sinken. Wobei die EU-Kommission diese Aufgabe ausdrücklich nicht als Restriktion beschreibt, sondern als ein Deal für den Kampf gegen den Klimawandel, der den Akteuren in der Wirtschaft große Chancen bietet. Weil durch das, was angegangen werden muss, neue Märkte für saubere klimafreundliche Technologien, Dienstleistungen und Produkte entstehen. Für die Bauwirtschaft ergeben sich hier zwei thematische Teilbereiche: Sanierung und Energie sowie Ressourcen und Recycling.
Was zu tun ist: Sanierung und Energie
Vor welchen Aufgaben die Bauindustrie im Bereich der Sanierung steht, zeigt der Szenarien-Report des Think-Tanks „Ariadne“, eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Studie über notwendige Maßnahmen für genügend viel Klimaschutz. „Um den Gebäudesektor auf Kurs zur Klimaneutralität zu bringen, zeigt der Modellvergleich die Notwendigkeit eines konsequenten Energieträgerwechsels und einer Steigerung von Sanierungsrate und Sanierungstiefe auf“, wird Christoph Kost, Ko-Leiter des Ariadne-Arbeitspakets Wärmewende am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE, in der Pressemitteilung zur Studienveröffentlichung zitiert. Bis 2030 müssten zum Beispiel fünf Millionen Wärmepumpen installiert werden; etwa 1,6 Millionen Gebäude müssten neu an das Fernwärmenetz angeschlossen werden.
Wenn Kinder Dinge bauen, ob in der Sandkiste, mit Lego im Spielzimmer oder draußen im Wald, dann gibt es kein Material, das nicht zu gebrauchen wäre. Und wenn sie etwas umbauen, widmen Kinder ihre „Baustoffe“ kurzerhand um.
Um die notwendigen Effekte für den Klimaschutz im Bereich der Sanierungen zu erreichen, gebe es zwei Hebel, wie das Fraunhofer Institut Solare Energiesysteme ISE, das Öko Institut und das Hamburg Institut in einer gemeinsamen Pressemitteilung schreiben. Ansatz eins: „Man maximiert Effizienzmaßnahmen, um den Endenergiebedarf so weit zu senken wie möglich“, heißt es in der Pressemeldung zur einer Roadmap, die diese drei Einrichtungen entwickelt haben, um Orientierung zu geben, wie die Klimaschutzziele im Gebäudesektor zu erreichen sind. Jedoch sorgten bei diesem Effizienz-Ansatz unter anderem technische oder denkmal schutz bedingte Dämmrestriktionen dafür, dass sich der Endenergiebedarf nur um maximal 60 Prozent reduzieren lasse. Der zweite Ansatz des Forschungsteams setzt weniger aufs Dämmen, sondern auf den Ausbau der Erneuerbaren Energien. „Hierfür sind deutlich größere Mengen Erneuerbarer Energien für die Wärmebereitstellung nötig“, werden die Forscher*innen zitiert.
Was zu tun ist: Ressourcen und Recycling
Wenn Kinder Dinge bauen, ob in der Sandkiste, mit Lego im Spielzimmer oder draußen im Wald, dann gibt es kein Material, das nicht zu gebrauchen wäre. Und wenn sie etwas umbauen, widmen Kinder ihre „Baustoffe“ kurzerhand um. Im Kleinen funktioniert hier also eine Kreislaufwirtschaft, wie sie auch in der „großen“ Bauindustrie an Bedeutung gewinnt. Jedoch geht es einigen Branchenbeobachter*innen nicht schnell genug. „In kaum einer Branche ist der Energieund Rohstoffkonsum so hoch wie in der Bauindustrie, was zu einer enormen Belastung der Umwelt führt: Rund 40 Prozent der CO2-Emissionen und nahezu ein Drittel aller Abfälle in der EU entstehen durch das Baugewerbe“, schreibt Kai-Stefan Schober, Senior Partner im Bereich Bauwirtschaft, Energie und Infrastruktur im Büro von Roland Berger in München, in einem Fachbeitrag auf der Homepage der Unternehmensberatung. „Nur 40 Prozent des Bauschutts von Gebäuden wird aufbereitet oder wiederverwertet“, so Schober. „Die meisten Recyclingmaterialien werden zudem nicht für den Neubau von Gebäuden, sondern lediglich als Füllmaterial im Straßenbau eingesetzt.“
Ariadne-Szenarienreport
Um Deutschland in weniger als 25 Jahren klimaneutral zu machen, muss die nächste Bundesregierung sehr schnell sehr viel auf den Weg bringen. Das zeigt der Ariadne-Szenarienreport, der Transformationspfade zur Klimaneutralität 2045 erstmals im Modellvergleich ausbuchstabiert. Deutlich wird in dem Report auch, dass vor allem die im Klimaschutzgesetz festgelegten Ziele für Gebäude und Verkehr im Modellvergleich trotz einer deutlichen Beschleunigung des Tempos der Emissionsminderungen in vielen Szenarien nicht eingehalten werden. „Um den Gebäudesektor auf Kurs zur Klimaneutralität zu bringen, zeigt der Modellvergleich die Notwendigkeit eines konsequenten Energieträgerwechsels und einer Steigerung von Sanierungsrate und Sanierungstiefe auf“, erläutert Christoph Kost, Ko-Leiter des Ariadne-Arbeitspakets „Wärmewende“ am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. Bis 2030 müsste die jährliche Sanierungsrate auf 1,5-2 Prozent steigen. Fünf Millionen Wärmepumpen müssten installiert sein und etwa 1,6 Millionen Gebäude neu an das Fernwärmenetz angeschlossen sein. Er ergänzt: „Auch wenn bei einer Sanierungsrate von über 1,5 Prozent bis 2045 noch ein Viertel des Gebäudebestands unsaniert bleibt, muss trotzdem die Wärmebereitstellung CO2-neutral stattfinden, um die Klimaziele zu erreichen.“
Weitere Infos unter: www.pik-potsdam.de
Baubegeisterten Kindern wäre dieser Umgang mit Ressourcen kaum zu erklären. Eine deutliche Verbesserung der ökologischen Situation könne durch den Übergang von einer „linearen zu einer zirkulären Wirtschaftsweise“ erzielt werden, ist sich Schober sicher. Wobei dieses Umdenken nicht nur dem Umwelt- und Klimaschutz helfe, sondern auch soziale und wirtschaftliche Vorteile biete. So lebt es sich einerseits gesünder in Gebäuden, die mit Hilfe umweltfreundlicher Baumaterialien errichtet worden sind. Andererseits steigere die Nutzung dieser Ressourcen die Produktivität. „Durch die Einführung innovativer Geschäftsmodelle entlang der gesamten Wertschöpfungskette erwarten wir bis 2025 einen zusätzlichen Umsatz auf dem globalen Markt von mehr als 600 Milliarden Euro bei einer jährlichen Wachstumsrate von 12 Prozent“, stellt der Unternehmensberater in seinem Beitrag in Aussicht. Wie sich diese Kreislaufwirtschaft aufstellt? Schober schreibt: „Schon in der Planungsphase lässt sich durch fortschrittliche Software und umweltorientierte Ingenieur- und Beratungsleistungen das Design optimieren.“
Digitale Lösungen unterstützen beim Neudenken
Darauf aufbauend könnte ein schnell wachsendes Portfolio an umweltfreundlichen und recycelten Materialien mit neuen Hi-Tech-Bauverfahren wie dem 3D-Druck sowie der industriellen Vorfertigung kombiniert werden. Digitale Lösungen helfen, so der Roland Berger-Bau-Experte, auch während des Betriebs, Energieeffizienz und Raumnutzung drastisch zu verbessern sowie eine intelligente, vorausschauende Wartung zu ermöglichen, was wiederum für eine Verlängerung der Gebäudelebenszeit sorge. Am Ende des Lebenszyklus schließlich bietet „materialspezifisches Up cycling von Bauschutt eine gute Möglichkeit, wertvolle Rohstoffe auch für den Neubau wieder zu verwenden“.
Keine Frage, Klima- und Umweltschutz rechnen sich. Und zwar auf vielen Ebenen. Zwar steht die Bauindustrie mit Blick auf die vielen notwenigen Veränderungen vor einer Jahrhundertaufgabe, die von allen Beteiligten Mut und Entschlossenheit verlangt. Doch lohnt sich eine Sichtweise, die auf die Chancen schaut, statt die (nicht zu leugnenden) Probleme zu sehr in den Fokus zu stellen. Hier liegt ein großes Potenzial bei jungen Bauingenieur*innen: Sie gehen die Suche nach Lösungen vielfach mit einem digitalen Setting und einem klaren Blick für die Zukunft an. Eine Aussage wie: „Das haben wir so noch nie gemacht“ besitzt für die neue Generation keine bremsende Wirkung, sondern motiviert dazu, den Wandel an vielen Stellen zu ermöglichen und umzusetzen. Und zwar schnell und zugleich mit langem Atem. Damit die Städte grüner werden, Gebäude nachhaltig und klimafreundlich betrieben werden und die Kreislaufwirtschaft in der Baubranche zur sinnvollen Selbstverständlichkeit wird.
Circular Valley: Innovationshub für Kreislaufwirtschaft
Das Silicon Valley liegt in Kalifornien, das Circular Valley im Großraum Rhein-Ruhr von Bonn bis Münster. Unter dem Leitgedanken „Grow the Economy – Protect the Environment“ sollen im Rahmen dieses Innovationshubs von Start-ups Wirtschaftswachstum und Umweltschutz in der Zukunft in Balance gebracht werden. Gearbeitet werde an einer Zukunft, die schädliche Umwelteinträge minimiert oder sogar komplett reduziert. Bereits zum Start im Jahr 2020 haben sich über 50 Unternehmen und Institutionen zusammengeschlossen. Seitdem wächst der Pool an Unternehmen – wobei sich weiterhin Startups für die Teilnahme am Projekt Circular Valley bewerben können: Die Start-ups können dabei von den besonderen Umfeldbedingungen des Circular Valley profitieren – „der Nähe zu über 300 Weltmarktführern, führenden Unternehmen der Recycling-Wirtschaft und dem dichtesten Universitäts- und Forschungsnetz zur Kreislaufwirtschaft weltweit“, wie es in einer Pressemeldung des Circular Valley heißt. Weitere Infos unter: https://circular-valley.org
Urban Mining: Gebäude als Materialressource
Das Fachbuch „Atlas Reycling“ widmet sich mit Blick auf die Baubranche der Frage, wie das immense Rohstoffvorkommen im Gebäudestand „aktiv“ gehalten werden kann. Ansätze seien hier der intelligente Einsatz von Ressourcen, die Recyclingfähigkeit von Konstruktionen sowie ein kreislauffähiges Bauen. „Dies erfordert einen Wertewandel und ein grundsätzliches Umdenken in Planung und Ausführung“, so die Autorinnen. Die große Herausforderung für Ingeneur*innen bestehe darin, „nicht nur durch ästhetische, ökonomische und soziokulturelle Qualitäten zu überzeugen, sondern in gleichem Maße dauerhaft umweltverträgliche Gebäude zu realisieren.“ Mit dem „Recycling Atlas“ wollen die Autorinnen das nötige Fachwissen für den damit verbundenen Paradigmenwechsel in der Baubranche liefern. Annette Hillebrandt, Petra Riegler-Floors, Anja Rosen, Johanna-Katharina Seggewies: Atlas Recycling: Gebäude als Materialressource. Detail 2021, 99,90 Euro